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Bauleistungen

Aufklärungspflicht des Auftraggebers bei vermeintlichen Unterkostenangeboten (VK Thüringen, Beschl. v. 08.11.2016 – 250-4002-7852/2016-N-012-KYF)

Bei vermeintlichen Unterkostenangeboten ist der Auftraggeber verpflichtet, gezielte positions- und titelbezogene Fragen zur Aufklärung eines objektiv ungewöhnlich niedrigen Angebotes zu stellen.

 

§ 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A

Leitsatz

  1. Auch ein ungewöhnlich niedriger Angebotspreis ist als angemessen anzusehen, wenn das zugehörige Angebot des Bieters unter Berücksichtigung des rationellen Baubetriebs und sparsamer Wirtschaftsführung eine einwandfreie Ausführung ohne absehbare Nachtragsforderungen einschließlich der Haftung für Mängelrechte erwarten lässt.
  2. Dem Auftraggeber obliegt es, dem Bieter durch gezielte positions- und titelbezogene Anfragen Gelegenheit zu einer Aufklärung der von ihm benannten auffälligen Positionen oder Titel zu geben.

Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte nach dem 1. Abschnitt der VOB/A (Basisparagraphen) die Umstellung der städtischen Straßenbeleuchtung auf LED national ausgeschrieben. Im Eröffnungstermin lagen 3 Angebote vor, wobei das Angebot des Bieters A das günstigste war, während die Angebote der beiden Mitbieter 79% bzw. 80 % über dem Angebot des A lagen. Daher hatte der AG den Bieter A am 23.09.2016 um schriftliche Aufklärung über die Ermittlung seines Angebotes gebeten. Mit Schreiben vom 26.09.2016 legte A darauf als Nachweis seiner Projektkalkulation das ausgefüllte Formular 221 VHB Preisermittlung über Zuschlagskalkulation vor. Eine weitere Nachfrage des AG erfolgte nicht. Vielmehr teilte der AG dem A mit, dass sein Angebot nicht in die engere Wahl komme, weil begründete, nicht ausgeräumte Zweifel bezüglich seines unangemessen niedrigen Preises bestünden. Einer darauf folgenden Beanstandung des A half der AG nicht ab und übergab die Vergabeakte der Vergabekammer zur Klärung.

Die Entscheidung

Die VK erkennt das Vergabeverfahren als rechtswidrig und verpflichtet den AG zur erneuten Wertung der Angebote. Eine Abweichung von mehr als 10% rechtfertigt allein nicht automatisch die Nichtberücksichtigung des betreffenden Angebotes. Es besteht zunächst nur der Verdacht, dass das Angebot unangemessen niedrig sei. Diesen Verdacht der Unangemessenheit kann der Bieter gegenüber dem Auftraggeber durch entsprechende Erklärungen und die Vorlage seiner Kalkulation und anderer Unterlagen aber ausräumen.

Rechtliche Würdigung

Gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A obliegt es dem Auftraggeber, den Bieter durch gezielte positions- bzw. titelbezogene Anfragen Gelegenheit zu einer Aufklärung der von ihm benannten auffälligen Positionen oder Titel zu geben. Eine lediglich pauschale Aufforderung zur Erklärung der Kalkulation genügt nicht den Erfordernissen einer sachgerechten Aufklärung. Der Bieter bleibt sonst im Unklaren darüber, in welchen Positionen oder Titeln der Auftraggeber entsprechende Auffälligkeiten festgestellt hat, die nach seiner Meinung einer Aufklärung bedürfen. Ohne konkrete Anfragen ist der Bieter, der sein Angebot unter Ausnutzung der ihm zustehenden Kalkulationsfreiheit erstellt hat, nicht in der Lage, die betreffenden Positionen oder Titel zu erkennen und entsprechende Erklärungen, gegebenenfalls in Textform, abzugeben.

Der AG hat in seiner Stellungnahme gegenüber der VK selbst ein Argument angeführt, welches ein von einem realistischen Preis abweichendes Angebot rechtfertigt, nämlich die Tatsache, dass A ein Tochterunternehmen eines chinesischen Herstellers und somit in der Lage ist, die geforderten Leuchten sehr viel günstiger als die Mitbewerber anzubieten. Dieses Argument ist von ihm jedoch nicht selbst einer tiefergehenderen Prüfung unterzogen und rechtlich bewertet, sondern offenkundig ohne weiteres als Grund für die Nichtberücksichtigung des Angebotes gesehen worden. Technische Gründe, die gegen eine Installation der angebotenen Leuchten sprechen, sind aus der vorgelegten Vergabeakte indes nicht erkennbar und auch nicht vorgetragen worden.
Allein ein großer Angebotsunterschied rechtfertigt nicht die Auffassung des AG bzw. des Fachplaners, aus diesem Grund von einer entsprechenden nochmaligen Aufforderung zur Aufklärung abzusehen. Es obliegt nicht dem AG, mögliche Aussagen des A vorwegzunehmen bzw. diesem von vornherein zu unterstellen, dieser könne einen entsprechenden Abstand nicht aufklären.

Aus diesen Gründen ist der Ausschluss des Angebotes des A rechtswidrig; der AG muss daher die Angebote einer erneuten Wertung unterziehen.

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Praxistipp

In Bundesland Thüringen besteht (ebenso wie in Sachsen- Anhalt) die Besonderheit, dass bei Bauvergaben unterhalb des europäischen Schwellenwertes, aber oberhalb einer Wertgrenze von 150.000 EUR den Bietern ein Vergaberechtschutz durch die Vergabekammern zur Verfügung steht. Beanstandet dort ein Bieter das Verfahren und hilft der AG dieser Beanstandung nicht ab, muss der AG selbst die VK unter gleichzeitiger Übersendung der Vergabeakte unterrichten. Inhaltlich ist die Entscheidung deshalb interessant, da sie dem AG aufzeigt, wie die Aufklärung gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A bei Vorliegen eines Unterkostenangebotes konkret auszusehen hat. Kann der Bieter die Fragen des AG beantworten bzw. seinen Angebotspreis vernünftig begründen (hier: besonders günstiger Einkauf), kann die Abweichung des Angebotes von einem realistischen Preis gerechtfertigt sein und darf nicht ohne weitere Prüfung als Grund für die Nichtberücksichtigung des Angebotes herangezogen werden.

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Über Michael Werner

Michael Werner ist Rechtsanwalt und bei der DEGES GmbH in Berlin tätig. Herr Werner ist Experte im deutschen und europäischen Vergaberecht sowie im Bauvertragsrecht. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war Herr Werner langjähriger Leiter der Rechtsabteilung des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie e.V. und Mitglied im Deutschen Vergabe - und Vertragsausschuss des Bundes (DVA).

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