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Tariftreue im Vergaberecht entzweit Wirtschaft und Gewerkschaften

Die Frage, wie mit sozialen oder ökologischen Gesichtspunkten bei der Vergabe öffentlicher Aufträge umzugehen ist, haben Vertreter von Wirtschaft und Gewerkschaften in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestags unterschiedlich bewertet. Gegenstand der Anhörung waren der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung des Vergaberechts (16/10117 [1]) sowie Anträge der FDP (16/9092 [2]), der Linksfraktion (16/6930 [3], 16/9636 [4]) und von Bündnis 90/Die Grünen (16/6791 [5], 16/8810 [6]) zu diesem Thema.

Der Regierungsentwurf sieht vor, dass für die Auftragsausführung zusätzliche Anforderungen an Auftragnehmer gestellt werden können, die „insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte“ betreffen, wenn sie „im sachlichen Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen und sich aus der Leistungsbeschreibung ergeben“ (§ 97 IV GWB-E).

Zentral ist dabei die Frage, ob von Auftragnehmern verlangt werden kann, dass sie sich „tariftreu“ verhalten, vor allem also die tariflichen Löhne zahlen. Hermann Summa, Richter am Oberlandesgericht Koblenz, sagte, man müsse akzeptieren, dass es in der EU Mitgliedstaaten gebe, deren Preis- und Lohnniveau unterhalb des deutschen liege. Der EG-Vertrag erlaube jedem Unternehmen, diesen Wettbewerbsvorteil in einem anderen Mitgliedsland auszunutzen. Einzige Ausnahme aus EU-rechtlicher Sicht sei die Entsenderichtlinie, umgesetzt im deutschen Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wenn sich die Politik auf einen gesetzlichen Mindestlohn einigen würde, so Summa, könnte ein Bieter, der nicht gewährleisten kann, diesen Lohn zu zahlen, wegen „Unzuverlässigkeit“ vom Verfahren ausgeschlossen werden.

Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung räumte ein, dass derzeit nur nach dem Entsendegesetz für „allgemeinverbindlich“ erklärte Tarifverträge zur Grundlage des Vergaberechts gemacht werden können. Schulten warb dafür, die „Allgemeinverbindlichkeit“ von Tarifverträgen in Deutschland zu stärken. Während in der Deutschland nur 1,5 Prozent der Tarifverträge allgemeinverbindlich würden, seien es in Frankreich 90 Prozent.

Felix Pakleppa vom Zentralverband des Deutschen Baugewerbes beurteile ebenso wie andere Wirtschaftsvertreter die Neuregelung in § 97 IV GWB-E kritisch. Er wies dabei auf den vorhandenen Mindestlohn in der Baubranche hin, dessen Überprüfung in der Praxis „problematisch“ sei. Würde dies im Vergaberecht eingeführt, wäre die Folge mehr Bürokratie, so Pakleppa.

Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Vergaberechts hat bislang unbeschadet die Verbändeanhörung, das Kabinett und den Bundesrat passiert. Es steht nicht zu erwarten, dass der Bundestag nun grundlegende Änderungen durchsetzen wird.

Die Tagesordnung, die Stellungnahmen, das Protokoll und weitere Dokumente der Anhörung finden Sie hier [7].

Den Gesetzentwurf zur Modernisierung des Vergaberechts finden Sie hier [8].

Die Begründung zum Gesetzentwurf finden Sie hier [9].

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Über Marco Junk [10]

Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW) [11]. Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer [12]und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom [13] tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck [14]. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom [15] und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. [16] Seit 2022 ist Marco Junk als Leiter Regierungsbeziehungen für das IT-Dienstleistungsunternehmen Atos [17] tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

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