- Vergabeblog - https://www.vergabeblog.de -

Weg frei für die Inhouse-Vergabe? EU-Kommission knickt nach EuGH-Urteilen ein und stellt zwei Vertragsverletzungverfahren gegen Deutschland ein

EU [1] Inhouse-Vergaben doch einfacher als bislang gedacht? Oder ist die als Hüterin des Wettbewerbs bekannte EU-Kommission nur müde geworden? Diese hat nach den jüngsten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) beschlossen, gleich zwei Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einzustellen. So waren im Bereich der Abfallwirtschaft in Rheinland-Pfalz durch einige Landkreise und öffentliche Zweckverbände Verträge in Millionenhöhe abgeschlossen worden, ohne dass zuvor eine EU-weite Ausschreibung stattfand. Ein anderes Verfahren betraf verschiedene Auftragsvergaben für die Lieferung und Wartung von Software als auch die Erbringung von Datendiensten durch Behörden in Hamburg und NRW an öffentliche IT-Dienstleister, u.a. an Dataport. Hat also eine neue Welt begonnen?

Im Einzelnen ging es um folgende Auftragsvergaben ohne vorherige Ausschreibung

In allen diesem Fällen sieht die Kommission nun keine Verletzung des Gemeinschaftsrechts mehr gegeben. Vielmehr sieht sie die Voraussetzungen der sog. Teckal-Rechtsprechung des EuGH („Kontrolle wie über eigene Dienststelle“ + „Tätigkeit im Wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber“) unter Einbeziehung seiner jüngeren Rechtsprechung als erfüllt und damit die Inhouse-Vergaben als zulässig an.

Die Kommission führt als Begründung die Urteile des EuGH vom November 2008 in der Rechtssache C-324/07 (Coditel Brabant) [3] und von September 2009 in der Rechtssache C-573/07 (SEA) [4] an. Darin bekräftigte das Gericht in Weiterentwicklung seiner Teckal-Rechtsprechung zur Inhouse-Vergabe, dass eine öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit über gemeinsam kontrollierte öffentliche Einrichtungen mit geringer Marktorientierung, die ihre Tätigkeiten im Wesentlichen für ihre öffentlichen Eigentümer verrichten, nicht dem Vergaberecht unterliegt. Dazu die Kommission:

„Der Landkreis Alzey-Worms hatte den Dienstleistungsauftrag an die GML vergeben, eine öffentliche Einrichtung, die ausschließlich im Eigentum von Kommunen und Landkreisen steht. Zu den Eigentümern zählt der Landkreis Alzey-Worms, der einen Anteil von 6,25 % am Kapital von GML hält. Die GML ist fast ausschließlich für ihre öffentlichen Eigentümer tätig. Die Auftragsvergabe erfüllte somit die Voraussetzungen, die der EuGH in seiner Rechtsprechung für die Inhouse-Vergabe festgelegt hat.

Der Vertrag zwischen der Stadt Hamburg und Dataport erfüllt die Voraussetzungen, die der EuGH in seiner Rechtsprechung für die Inhouse-Vergabe festgelegt hat. Dataport wird von seinen öffentlichen Eigentümern, u. a. der Stadt Hamburg, gemeinsam kontrolliert und verrichtet seine Tätigkeiten im Wesentlichen für diese öffentlichen Eigentümer.“

In seinem Urteil vom Juni 2009 in der Rechtssache C-480/06 [5] (Kommission gegen Deutschland) – Vergabeblog berichtete [6] –  präzisierte der EuGH, dass eine öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit nicht die Gründung gemeinsam kontrollierter Einrichtungen voraussetzt. Vielmehr kann es sich dabei um eine nicht gewinnorientierte Zusammenarbeit handeln, die auf die gemeinsame Gewährleistung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben der Kooperationspartner abzielt und deren Umsetzung nur durch Überlegungen und Erfordernisse bestimmt wird, die mit der Verfolgung von im öffentlichen Interesse liegenden Zielen zusammenhängen. Dazu die Kommission:

„Die Landkreise Altenkirchen, Bad Kreuznach und Rhein-Hunsrück sowie die öffentlichen Zweckverbände Abfallwirtschaft Kaiserslautern und Deponiezweckverband Eiterköpfe haben zur gemeinsamen Gewährleistung der Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben im Bereich der Abfallbeseitigung und Abfallbehandlung Verträge mit anderen öffentlichen Einrichtungen geschlossen. Vertragspartner sind die Landkreise Rhein-Lahn und Neuwied sowie der Zweckverband Abfallverwertung Südwestpfalz, eine öffentliche Einrichtung, der ausschließlich öffentliche Mitglieder angehören. Die einzelnen Kooperationsvereinbarungen stützen sich auf den Abfallwirtschaftsplan des Landes Rheinland-Pfalz, der eine Aufgabenteilung bei den öffentlichen Abfallbeseitigungseinrichtungen im Interesse der Entsorgungssicherheit und der Wirtschaftlichkeit der Einrichtungen vorsieht. Alle vom Vertragsverletzungsverfahren betroffenen öffentlichen Kooperationspartner waren an der Ausarbeitung des Abfallwirtschaftsplans beteiligt. Nach den vorliegenden Informationen wird die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Unternehmen ausschließlich durch Überlegungen und Erfordernisse bestimmt, die mit der Verfolgung von im öffentlichen Interesse liegenden Zielen im Bereich der Abfallbeseitigung zusammenhängen.

Die in Nordrhein-Westfalen geschlossenen Verträge haben die Übertragung öffentlicher Aufgaben zwischen öffentlichen Einrichtungen zum Gegenstand. Die öffentlichen Partner haben Kooperationsstrukturen eingerichtet, um die Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben im Bereich des IT-Betriebs zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit wird ausschließlich durch Überlegungen und Erfordernisse bestimmt, die mit der Verfolgung von im öffentlichen Interesse liegenden Zielen zusammenhängen.“

Die Kommission gelangt daher zu dem Schluss, dass die betreffenden Fälle von öffentlich-öffentlicher Zusammenarbeit unter die vorgenannte Rechtsprechung des EuGH fallen, so dass sie die Vertragsverletzungsverfahren einstellte.

Die Einstellung der Verfahren durch die Kommission überrascht. Zwar wurde die benannte EuGH-Entscheidung vom Juni diesen Jahres von den kommunalen Spitzenverbänden bereits als Freibrief zur interkommunalen Zusammenarbeit gefeiert [7]. Viele Vergaberechtler mahnten allerdings zur Vorsicht und warnten vor vorschnellen Verallgemeinerungen angesichts des in tatsächlicher Hinsicht doch sehr speziell gelagerten Falles. Vielleicht wurde in Brüssel aber auch noch an ganz anderen Stellschrauben gedreht. Das Thema „Inhouse“ ist viel mehr ein politisches denn ein rechtliches. In diesen Zeiten überrascht eine Tendenz hin zu mehr Staat nicht. Im Gegenteil. Sie ist der – angesichts zumindest eines Teilversagens der Marktkräfte – (vermeintlich) ausgleichende Pendelschlag in die andere Richtung. Was bleibt, die die Notwendigkeit einer Regelung. Nicht im GWB, mehr oder weniger orientiert an der EuGH-Rechtsprechung, sondern im Gemeinschaftsrecht selbst. Die EU mag doch auch sonst alles zu regeln, würde man meinen.

Avatar-Foto

Über Marco Junk [8]

Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW) [9]. Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer [10]und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom [11] tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck [12]. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom [13] und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. [14] Seit 2022 ist Marco Junk als Leiter Regierungsbeziehungen für das IT-Dienstleistungsunternehmen Atos [15] tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

Teilen
[17] [18] [19] [20] [21]