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EU-Parlament: Bericht über neue Entwicklungen im öffentlichen Auftragswesen

EU [1] Über 16 % des Bruttoinlandsprodukts bzw. mehr als 1.500 Mrd. Euro beträgt der jährliche Umsatz der öffentlichen Beschaffungen von Gütern und Dienstleistungen in der Europäischen Union. Das Europäische Parlament (EP), genauer der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz, hat den “Entwurf eines Berichts über Neue Entwicklungen im öffentlichen Auftragswesen (2009/2175(INI))” veröffentlicht. Berichterstatterin ist die Deutsche Heide Rühle [2] (Bündnis 90/Die GRÜNEN), seit 1999 Mitglied des EP.

Eingangs heisst es, man bedauere, “dass die Ziele, die mit der Revision der Richtlinien zur öffentlichen Auftragsvergabe aus dem Jahr 2004 angestrebt wurden, bisher nicht erreicht wurden; hofft aber, dass die jüngsten EuGH-Urteile zu einer Klärung der offenen Rechtsfragen beitragen”. Dabei kritisiert der Bericht mit ordentlicher Breitseite mehrfach die Kommission – einige besonders lesenswerte Auszüge nachfolgend.

Kritisiert wird die nicht einheitliche Umsetzung der Richtlinien. So habe diese nicht nur in den Mitgliedstaaten viel Zeit in Anspruch genommen, die Richtlinien seien in der Umsetzung oft noch verschärft und zusätzliche Kriterien eingeführt, manche Flexibilisierungsinstrumente dagegen nicht übernommen worden. Rechtliche Unklarheiten hätten zu vielen Beschwerdeverfahren und einer großen Zahl an nationalen und europäischen Gerichtsprozessen geführt.

Bemerkenswert: “In vielen Mitgliedstaaten sind die regionalen und kommunalen Einrichtungen die größten öffentlichen Auftraggeber. Und gerade an ihnen zeigt sich in der jetzigen Wirtschaftkrise, dass die europäischen Richtlinien zur öffentlichen Auftragsvergabe Handlungsmöglichkeiten beschneiden und die Vergabe verteuern und verlangsamen. Auch Auftragnehmer, besonders kleine und mittlere Unternehmen leiden unter bürokratischen Verfahren und mangelnder Rechtssicherheit.”

“Es fehlt zudem an Koordination innerhalb der Europäischen Kommission. Viele Dienststellen haben das Vergabewesen als Instrument zur Erreichung von Zielen entdeckt, für die die Europäische Union ansonsten nicht genügend finanzielle Ressourcen oder Gesetzeskompetenz hat.” Zwar mache es Sinn, öffentliche Auftraggeber zu ermutigen und zu unterstützen, ökologisch und sozial verantwortlich zu beschaffen und Forschung und Innovation zu fördern. Doch die Vielzahl an Initiativen trage nicht zur Rechtsklarheit bei und untergrabe dieses Ziel: “Ausuferndes soft law bringt zusätzliche rechtliche Inkohärenzen”.

Zudem fehle es bei der Umsetzung des europäischen Vergaberechts durch die Kommission auch an politischer Ausgewogenheit. Während es zahlreiche Initiativen, Handbücher und Arbeitshilfen im Bereich ökologische und energieeffiziente Beschaffung gibt, datiere die letzte Mitteilung der Kommission im Bereich soziale Beschaffung aus dem Jahr 2000, also vor Revision der Vergaberichtlinien. In diesem rechtlich besonders komplexen Feld der fairen Beschaffung liege bisher nur eine Mitteilung vor, keine Arbeitshilfen oder Handbücher. “Das könnte als eine indirekte Prioritätensetzung der Europäischen Kommission missverstanden werden”, heisst es in dem Bericht. Der Reformvertrag von Lissabon habe auch den Stellenwert eines sozialen Europas bekräftigt – dies müsse sich auch in den Initiativen der Kommission widerspiegeln. Neben einem Handbuch solle die Kommission deshalb auch die Entwicklung präziser und überprüfbarer Kriterien bzw. die Entwicklung einer Datenbank mit produktspezifischen Kriterien ins Auge fassen.

Der Bericht bewertet die rechtlichen Unklarheiten betreffend der Vergabe von Dienstleistungskonzessionen durch die neuere EuGH-Rechtsprechung als weitgehend geklärt, den Bereich städtebaulicher Verträge aber nach wie vor als Baustelle: “Hier wurde durch eine überschießende Interpretation vor allem deutscher Gerichte nach dem EuGH-Urteil Roanne, C-220-05, der Anwendungsbereich der Vergaberichtlinien auf Bereiche ausgeweitet, für die sie eigentlich nicht vorgesehen waren. Es muss jedoch Gemeinden möglich sein, Grundstücke mit Auflagen (wie beispielsweise dem Vorbehalt innerhalb von zwei Jahren zu bebauen) zu verkaufen, ohne diesen Verkauf europaweit nach den Kriterien der öffentlichen Auftragsvergabe ausschreiben zu müssen.“

Schlussfolgerung: Das EP wünscht sich, dass die Kommission bei ihrer beabsichtigten Überprüfung der Vergaberichtlinien die im Bericht genannten Aspekte berücksichtigt und bei dieser Gelegenheit die rechtlichen und praktischen Defizite bei der Umsetzung in den Mitgliedstaaten sowie bestehende rechtliche Unklarheiten bei der Anwendung des Vergaberechts klärt. Dabei müsse aber auch die Verwaltungsvereinfachung im Blick behalten werden, was eine “dringend erforderliche und objektive Analyse der derzeitigen Belastungen” voraussetze.

Und: „Dringend davor gewarnt wird allerdings, zum jetzigen Zeitpunkt eine Revision der Vergaberichtlinien ins Auge zu fassen. Dies wäre aus verschiedenen Gründen zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht“.

Den vollständigen Berichtsentwurf finden Sie hier [3].

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Über Marco Junk [4]

Der Jurist Marco Junk gründete im Jahr 2007 den Vergabeblog und 2010 gemeinsam mit Dipl.-Betriebsw. Martin Mündlein das Deutsche Vergabenetzwerk (DVNW) [5]. Er begann seine berufliche Laufbahn im Jahr 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer [6]und war danach als Bereichsleiter Vergaberecht beim Digitalverband bitkom [7] tätig. Im Jahr 2011 leitete er die Online-Redaktion des Verlags C.H. Beck [8]. Von 2012 bis 10/2014 war er Mitglied der Geschäftsleitung des bitkom [9] und danach bis 10/2021 Geschäftsführer des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. [10] Seit 2022 ist Marco Junk als Leiter Regierungsbeziehungen für das IT-Dienstleistungsunternehmen Atos [11] tätig. Seine Beiträge geben ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

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