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Gericht der Europäischen Union: Mitteilung der EU-Kommission zu Vergaben unterhalb der Schwellenwerte ist nicht zu beanstanden (Urteil vom 20.05.2010, T-258/06)

EU-Recht Das Gericht der Europäischen Union (bis 30.11.2010: Gericht erster Instanz, abgekürzt als EuG) hat die Nichtigkeitsklage der Bundesrepublik Deutschland gegen die Mitteilung der EU-Kommission zu Vergaben unterhalb der Schwellenwerte und weiteren, nicht umfassend von den Vergaberichtlinien erfassten Aufträgen, zurückgewiesen.

Nach Auffassung des Gerichts ist die Klage bereits unzulässig, da die Mitteilung kein mit einer Nichtigkeitsklage angreifbarer Akt der Rechtsetzung sei. Denn die Mitteilung habe keine spezifischen oder neuen Verpflichtungen festgelegt, sondern enthalte lediglich eine zutreffende Beschreibung der geltenden Rechtslage. Das Gericht hat damit die in der Mitteilung dargestellten, aus der Rechtsprechung des EuGH abgeleiteten Vorgaben der EU-Kommission bestätigt.

Die Mitteilung der EU-Kommission

Die EU-Kommission veröffentlichte am 01.08.2006 die „Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen“ (ABl. 2006, C 179, S.2 – die Mitteilung finden Sie als pdf – Dokument hier [1]). Die Mitteilung behandelt Fragen zur Vergabe von Aufträgen unterhalb der Schwellenwerte und von Dienstleistungsaufträgen, auf welche die Vergaberichtlinien nur teilweise Anwendung finden, also bspw. Aufträgen mit Schwerpunkt in den Bereichen Schiffahrt, Arbeitskräftevermittlung oder Gesundheitswesen (vgl. Anhang I Teil B zur VOL/A 2006). Von der Mitteilung ausdrücklich nicht erfasst sind Dienstleistungskonzessionen.

Einleitend erklärt die Kommission, sie würde in der Mitteilung ihr Verständnis der Rechtsprechung des EuGH erläutern und bewährte Verfahren vorstellen, um die Mitgliedstaaten darin zu unterstützen, die Möglichkeiten des Binnenmarktes voll ausschöpfen zu können. Neue Regeln würden durch die Mitteilung nicht eingeführt.

Sodann führt die Kommission aus, der Auftraggeber habe anhand der Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob der Auftrag möglicherweise für Teilnehmer in anderen Mitgliedstaaten von Interesse sein könnte, also binnenmarktrelevant ist. Zur Beurteilung dieser Frage werden der Auftragsgegenstand, der geschätzte Auftragswert, der geografische Ort der Leistungserbringung, die Größe und Struktur des betroffenen Marktes und die markttypischen Gepflogenheiten oder sonstigen Besonderheiten herangezogen. Wird ein Auftrag als binnenmarktrelevant eingestuft, sind in der Mitteilung weitere Anforderungen an die Auftragsvergabe formuliert, u.a. die hinreichend zugängliche, vorherige Bekanntmachung des Auftrags sowie die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfzeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen. Hingegen sind Aufträge, die wegen besonderer Umstände, z.B. einer nur sehr geringfügigen wirtschaftlichen Bedeutung, für die Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten nicht von Interesse sind, vom Anwendungsbereich der Mitteilung ausgenommen.

Die Klage der Bundesrepublik

Die Bundesrepublik erhob Nichtigkeitsklage gegen die Mitteilung, weil die detaillierten Regelungen ihrer Auffassung nach über das geltende Gemeinschaftsrecht hinausgehen und neue Regeln für die Vergabe öffentlicher Aufträge außerhalb der Vergaberichtlinien geschaffen werden, obwohl eine entsprechende Kompetenz der Kommission nicht bestehe. Der Klage schlossen sich sechs weitere Mitgliedstaaten sowie das Europäische Parlament an; dieser Umstand deutet darauf hin, dass nicht nur die Bundesrepublik dem Vorgehen der Kommission in der Mitteilung besondere Bedeutung beimaß und eine verbindliche Wirkung der Mitteilung annahm.

Das Urteil des EuG vom 20. Mai: Klage unzulässig

Das Gericht der Europäischen Union ist anderer Ansicht. Es kommt zu dem Ergebnis, die Mitteilung enthalte keine spezifischen oder neuen Verpflichtungen, sei daher kein Akt der Rechtsetzung und kann nicht mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden. Zwar reiche die Bezeichnung als unverbindliche Mitteilung nicht aus, um eine rechtsetzende Wirkung auszuschließen. Allerdings kommt das Gericht nach inhaltlicher Prüfung der einzelnen, von Deutschland gerügten Rechtsfragen jeweils zu dem Ergebnis, die Mitteilung gebe das geltende Gemeinschaftsrecht zutreffend wieder.

Dies umfasst nach Auffassung des Gerichts die Verpflichtung des Auftraggebers, zu binnenmarktrelevanten Aufträgen vorab eine hinreichend zugängliche Bekanntmachung zu veröffentlichen. Die Beschreibung des Auftragsgegenstandes müsse diskriminierungsfrei erfolgen; eine produktspezifische Ausschreibung ist grundsätzlich nicht zulässig. Sollte der Auftragsgegenstand ausnahmsweise eine produktspezifische Beschreibung rechtfertigen, ist der Zusatz „oder gleichwertig“ hinzuzufügen. Allgemeine Beschreibungen des Auftragsgegenstandes sind in jedem Fall vorzuziehen.

Ferner müsse ein gleicher Zugang zu Aufträgen für Wirtschaftsteilnehmer aus allen Mitgliedstaaten sichergestellt werden. Dem Auftraggeber sei es daher verboten, Bedingungen zu stellen, die eine direkte oder indirekte Benachteiligung nach sich ziehen. Werden die Bewerber bzw. Bieter zur Vorlage von Bescheinigungen, Diplomen oder sonstige Befähigungsnachweise aufgefordert, so sind für die entsprechenden Nachweise auch Dokumente aus anderen Mitgliedstaaten zu akzeptieren. Desweiteren müssten die Fristen für Interessenbekundungen und die Auftragsvergabe „angemessen“, d. h. so beschaffen sein, dass Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten eine fundierte Einschätzung abgeben und ein Angebot erstellen können. Zudem müsse ein „transparenter und objektiver Ansatz“ gewählt werden, der die Teilnehmer in die Lage versetzt, sich im Voraus über die geltenden Verfahrensregeln zu informieren und eine Gleichbehandlung der Teilnehmer nach diesen Regeln sicherstellt.

Keine Rechtswirkung der Mitteilung

Auch die Rüge der Bundesrepublik, die Mitteilung entfalte Rechtswirkung, da die Kommission in dem Dokument ankündigt, bei Verstoß gegen die darin enthaltenen Regelungen ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, führte nicht zur Zulässigkeit der Klage. Nach Ansicht des Gerichts entfaltet die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens keine Bindungs- oder Zwangswirkungen gegenüber den Mitgliedstaaten. Allein aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes ergebe sich, welche Rechte und Pflichten die Mitgliedstaaten haben und wie ihr Verhalten zu beurteilen sei. Nur diese Urteile hätten bindende Wirkung, nicht aber die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission oder die Drohung damit.

Bewertung

Das Urteil überzeugt nicht. Es setzt sich sehr detailliert mit dem Stand der EuGH-Rechtsprechung zur Vergabe von Aufträgen unterhalb der Schwellenwerte und zu nicht-prioritären Dienstleistungen auseinander. Allerdings umgeht das Gericht durch den gewählten prozessualen Ansatz – also der Prüfung, ob ein Akt der Rechtsetzungt vorliegt – den Kern des Problems, da sich die Frage nach den Kompetenzen der Kommission in den nicht unter die Vergaberichtlinien fallenden Vergabeverfahren auf diesem Wege nicht mehr stellt.

Zudem heißt das Gericht eine bedenkliche Methode der Rechtsfindung durch die Kommission gut. Ausgangspunkt der Kommission in den einzelnen Abschnitten der Mitteilung ist die Rechtsprechung des EuGH; aus dieser Rechtsprechung werden sodann detaillierte Vorgaben für die von der Mitteilung erfassten Aufträge abgeleitet. Die Kommission nimmt damit eine Konkretisierung der Rechtsprechung und eine Auslegung des Rechts vor. Besonders deutlich wird dies unter Nr. 2.2 der Mitteilung: aus der aus den Grundfreiheiten des Vertrages hergeleiteten, gemeinschaftsrechtlichen Transparenzpflicht schließt die Kommission, die Auftragsvergabe müsse im Einklang mit den Vorschriften und Grundsätzen des Vertrages stehen, um sodann ohne weitere Rechtsprechungsnachweise detaillierte Vorgaben für die Auftragsvergabe zu formulieren. Bei diesem Vorgehen verschwimmen zwangsläufig die Grenzen zwischen bloßer Auslegung und Rechtsschöpfung, obgleich letzteres dem Gerichtshof vorbehalten ist. Im Ergebnis beschreibt die Mitteilung der Kommission nach hier vertretener Ansicht teilweise nicht mehr den Ist-Zustand der Rechtsprechung, sondern geht über den status quo hinaus.

Ganz abgesehen davon, hat das Gericht der Europäischen Union bei aller detaillierten Aufarbeitung der Rechtsprechung die Gelegenheit verpasst, selber rechtsschöpfend tätig zu werden und wichtige Rechtsfragen, insbesondere zum Begriff der Binnenmarktrelevanz, zu erhellen.

Und nun? Die Kommission hat angekündigt, bei Verstößen gegen Grundanforderungen an die Vergabe von Aufträgen mit Binnenmarktrelevanz Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, sofern dies angemessen erscheint. Die Bundesrepublik hat die Möglichkeit, ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel bei dem EuGH einzulegen. Einstweilen bleibt zu konstatieren, dass das Gericht der Europäischen Union zunächst die in der Mitteilung der Europäischen Kommission aufgestellten Regeln bestätigt hat.

Die Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union finden sie hier [2].

Mehr Informationen über den Autor Dirk Martin Kutzscher finden Sie im Autorenverzeichnis [3].

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