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OLG München: Keine Hemmung der Rechtsmittelfrist bei de facto-Vergaben oder: Neues zu Ausschlussfristen nach dem neuen GWB (Beschluss v. 10.03.2011, Verg 1/11)

§ 101b Abs. 2 GWB, § 138 BGB, Art. 2 f Richtlinie 2007/66/EG

Paragraph Seit der Vergaberechtsnovelle 2009 bleibt Wettbewerbern nur ein begrenzter Zeitraum zur Einleitung von Nachprüfungsverfahren gegen unzulässige Direktvergaben. Wie das OLG München (Beschluss v. 10.03.2011, Verg 1/11) nun klargestellt hat, sind die Fristen des § 101 b Abs. 2 GWB starr und werden nicht dadurch gehemmt, dass die Vergabestelle zum Schein ankündigt, ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren durchführen zu wollen. Wettbewerbern droht hier also der vollständige Rechtsverlust!

Der Fall: Hinhaltetaktik nach Direktvergabe

Im entschiedenen Fall hatte ein Krankenhaus seine gesamte nuklearmedizinische Diagnostik einer Berufsausübungsgemeinschaft niedergelassener Radiologen anvertraut, ohne zuvor eine europaweite Ausschreibung durchzuführen. Ein übergangener Arzt legte einen Nachprüfungsantrag gegen den Vertrag ein. Das OLG München gelangte aufgrund der Beweiswürdigung in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung, dass der Arzt aufgrund vorangegangener Gespräche mit dem Auftraggeber zu dem Zeitpunkt des Antrags bereits länger als 30 Kalendertage die erforderliche Kenntnis von den Vorgängen gehabt hatte.

Der Senat hatte nun unter anderem zu entscheiden, ob der Ablauf der Frist von 30 Kalendertagen gemäß § 101b Abs. 2 GWB dadurch gehemmt wurde, dass der Auftraggeber den Arzt drei Wochen lang „hingehalten“ hatte und bewusst wahrheitswidrig vorspiegelte, zeitnah eine Ausschreibung durchführen zu wollen. Der Arzt machte geltend, einem Nachprüfungsantrag habe es insoweit schon an dem erforderlichen Rechtschutzbedürfnis gefehlt.

§ 101b GWB

(1) Ein Vertrag ist von Anfang an unwirksam, wenn der Auftraggeber

1. gegen § 101a verstoßen hat oder

2. einen öffentlichen Auftrag unmittelbar an ein Unternehmen erteilt, ohne andere Unternehmen am Vergabeverfahren zu beteiligen und ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist und dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren nach Absatz 2 festgestellt worden ist.

(2) Die Unwirksamkeit nach Absatz 1 kann nur festgestellt werden, wenn sie im Nachprüfungsverfahren innerhalb von 30 Kalendertagen ab Kenntnis des Verstoßes, jedoch nicht später als sechs Monate nach Vertragsschluss geltend gemacht worden ist. Hat der Auftraggeber die Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Union bekannt gemacht, endet die Frist zur Geltendmachung der Unwirksamkeit 30 Kalendertage nach Veröffentlichung der Bekanntmachung der Auftragsvergabe im Amtsblatt der Europäischen Union.

Das OLG München: Frist ist Frist

Ohne Erfolg! Das OLG München lehnt eine Hemmung ab und weist den Nachprüfungsantrag wegen Verspätung zurück. Es verweist auf den Unterschied zwischen formellen und materiellen Ausschlussfristen: Eine Hemmung oder Unterbrechung des Fristablaufs komme nur bei materiellen Ausschlussfristen in Betracht, denn nur für sie gelten die Bestimmungen zur Verjährung analog. Bei formellen Ausschlussfristen hingegen scheide eine Korrektur auch nach den allgemeinen Grundsätzen von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB aus. Die Ausschlussfrist des § 101 b GWB sei eine formelle Ausschlussfrist, da ihr Sinn und Zweck gerade darin liege, lange Rechtsunsicherheit nach einem Vertragsschluss zu beseitigen und schwierige Rückabwicklungsverhältnisse zu vermeiden.

Der Senat sieht auch keinen Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens in dem fehlenden Hinweis an den Rechtsbeistand des Arztes, der die Frist aufgrund lückenhafter Information des Mandanten offensichtlich zwölf Tage zu lang berechnete. Diese Informationsdefizite sieht der Senat allein in der Risikosphäre des Antragstellers. Dessen Kenntnis der Tatsachen und in der Laiensphäre vollzogene Wertung der Vergaberechtswidrigkeit setze die Frist in Gang. Ob der Fall anders zu behandeln wäre, wenn das Klinikum schriftlich die Unwirksamkeit des Vertrags bestätigt hätte, ließ das Gericht offen.

Der gesetzgeberische Wille war maßgebend: Rechtsklarheit vor Rechtswahrheit

Die Entscheidung setzt konsequent den gesetzgeberischen Willen um und gibt im konkreten Fall dem Schutz der Rechtssicherheit den Vorzug vor dem Interesse an der Herstellung materieller Rechtmäßigkeit. Die Gestzesbegründung zu § 101 b Abs. 2 GWB verweist insoweit darauf, dass auch auf EU-rechtlicher Ebene der Aspekt der „mutwilligen Herbeiführung des für den Auftraggeber vergabe- und schadensersatzrechtlich folgenfreien Fristablaufs nicht geregelt“ sei (BT-Drs. 16/10117, S. 33).

Problematisch ist allerdings, dass der Gesetzgeber die in Bezug genommene Richtlinie nur zur Begründung der Ausschlussfrist von sechs Monaten nutzen kann. Eine Frist von 30 Kalendertagen sieht die Rechtsmittelrichtlinie in Art. 2 f Abs. 1 Buchst. a) zwar ebenfalls vor, dies aber nur bei einer ausdrücklichen Information durch den Auftraggeber. Eine darüber hinaus gehende Frist von 30 Kalendertagen, die auch ohne entsprechende Information beginnt, nennt sie hingegen nicht. Stimmen in der Literatur, die eine Prüfung der Wiedereinsetzung bei der 30-Tagesfrist befürworten, sind daher durchaus nachvollziehbar (König in: Kulartz/Kus/Portz, § 101 b GWB, Rn. 6).

Die Besonderheiten der 30-Kalendertagefrist sind zu berücksichtigen

Möglicherweise ist diese Begründungslücke auch der Grund, aus dem das OLG München unter dem Gesichtspunkt des Gebots eines fairen Verfahrens doch prüft, in wessen Verantwortungssphäre die fehlende Kenntnis des Rechtsbeistands liegt. Darauf hätte es streng genommen bei einer formellen Ausschlussfrist wohl verzichten können (vgl. z.B. Musielak in ZPO, 2009, § 234 Rn. 6). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls, welche der Senat zitiert, hätte eine solche Prüfung nämlich nicht gefordert, da sie eine andere Fallgestaltung betrifft. Sie bezieht sich auf Fälle, in denen ein Gericht die berechtigte Erwartung geweckt hatte, einen Wiedereinsetzungsantrag positiv zu entscheiden. Diese verfassungsgerichtliche Rechsprechung wäre mithin nur einschlägig gewesen, wenn im vorliegenden Fall die Vergabekammer Erwartungen geweckt hätte und nicht der Auftraggeber.

Fazit:

Unternehmen kann man vor diesem Hintergrund nur empfehlen, die vergaberechtlichen Fristen ernst zu nehmen und sich nicht auf Ankündigungen von seiten der Auftraggeber zu verlassen – und im Zweifel die anwaltlichen Berater über wichtige Gespräche zu informieren! Letztlich sind sie es, die als Bieter im Zweifel ihre Rechtsposition verlieren.

Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte [1], Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand. Mehr Informationen über die Autorin finden Sie in unserem Autorenverzeichnis [2].

dvnwlogoThema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren [3].

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Über Dr. Valeska Pfarr, MLE [4]

Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte [1], Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.

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