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Das Ende der Schonzeit: Rückblick Expertenpanel zu sicherheitsrelevanten Beschaffungen beim 15. Polizeikongress in Berlin

DSCN0937aAufbruch sieht anders aus: die Umsetzungsfrist der Richtlinie für sicherheitsrelevante Beschaffungen aus dem Jahr 2009 (RL 2009/81/EG) ist seit über einem halben Jahr verstrichen und noch immer zeichnet sich keine lückenlose Umsetzung in deutsches Recht ab. Vielmehr ist wohl auf längere Sicht – zumindest im Bereich der Liefer- und Dienstleistungen – mit einer „Hybridlösung“ zu rechnen: einer Gemengelage aus nationalen Normen, die Richtlinie umsetzen, und einer ergänzenden Anwendung der unmittelbar anwendbaren Bestimmungen der Richtlinie (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 8.6.2011 – Verg 49/11). Was genau aber bedeutet dies für die Beschaffungspraxis? Dies diskutierte das Expertenpanel “Europäische Beschaffungsregularien im Sicherheitsbereich” beim 15. Polizeikongresses am 14. und 15. Februar in Berlin unter der Leitung von Klaus-Peter Tiedtke [1] (Direktor Beschaffungsamt des BMI).

_MAR0763Frau Camilla Kadri (Referentin des Bundespolizeipräsidiums, Potsdam, Foto* links) stellte dabei die Auftraggebersicht vor, über Einzelheiten der rechtlichen Rahmenbedingungen und Erfahrungen aus der Beratungspraxis referierten Herr Prof. Dr. Heiko Höfler, Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Orrick, Hölters und Elsing, Frankfurt, sowie die Autorin dieses Beitrags.

1. Hintergrund des Panels

Der Europäische Polizeikongress führt als international ausgerichtete Kongressreihe des Behördenspiegels regelmäßig Entscheider aus Politik und Wirtschaft zusammen. Die Konferenz versteht sich als Informations- und Diskussionsplattform für Polizeien, Sicherheits- und Zivilbehörden innerhalb der Europäischen Union. Thema dieses 15. Kongresses war „Vernetzte Sicherheit: Terrorismus, Cyber-Homegrown-International“. Nachdem erfolgreiche Terrorismusbekämpfung nicht zuletzt auch eine Frage des geeigneten Equipments und effizienter Ausrüstungsstrategien ist, war es nur folgerichtig, auch die Frage nach neuen vergaberechtlichen Bestimmungen in das Forum einzubeziehen.

2. Anwendungsbereich: welche Beschaffungen sind betroffen?

_MAR0758Einleitend erläuterte Herr Tiedtke (Foto* links) die Hintergründe der europäischen Beschaffungsrichtlinie und der entsprechenden Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs, um daran anknüpfend zu der Frage überzuleiten, welche Beschaffungen gegenwärtig in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen und inwieweit dies eine Neuerung gegenüber der bisherigen Rechtslage darstellt. Im deutschen Recht maßgebend ist insoweit die Definition verteidigungs- und sicherheitsrelevanter Beschaffungen gemäß § 99 Abs. 7 bis 9 GWB. Vereinfachend gesagt erfasst die Norm Aufträge über die Lieferung von verteidigungs- und sicherheitsrelevanter Ausrüstung sowie Bau-, Liefer- und Dienstleistungsverträge im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Ausrüstung. Verteidigungs- und sicherheitsrelevant ist eine Ausrüstung, wenn sie entweder militärischen Zwecken dient oder wenn sie im Rahmen eines Verschlussachenauftrags beschafft werden soll. Darüber hinaus sind auch verteidigungs- und sicherheitsrelevante Bau- und Dienstleistungen erfasst, also Bau- und Dienstleistungen zu militärischen Zwecken oder im Rahmen eines Verschlusssachenauftrags. Die Einordnung als Verschlusssache folgt dabei entsprechend der Zuordnung zu einer Geheimhaltungsstufe des § 4 SÜG bzw. entsprechender Bestimmungen der Länder. Unterschieden werden die vier Geheimhaltungsstufen VS – Nür für den Dienstgebrauch (NfD), VS – vertraulich, VS – geheim und VS – streng geheim.

_MAR0783Damit lässt sich aus Sicht der Autorin (Foto rechts), die ebenfalls am Panel teilnahm, erkennen, dass die Einstufung eines Auftrags als VS – vertraulich oder höher zukünftig kein Weg mehr ist, der als solches schon aus dem Anwendungsbereich des Vergaberechts führen kann. Während nach bisherigem Recht schon die Erforderlichkeit von Sicherheitsmaßnahmen infolge einer Einordnung als VS – vertraulich den Ausnahmetatbestand des § 100 Abs. 2 lit. d) bb) GWB begründen konnte (einschränkend zuletzt allerdings schon: OLG Düsseldorf, z.B. Beschluss vom 16.12.2009, Az.: VII-Verg 32/09), eröffnet diese Einstufung nunmehr grundsätzlich nur das vergaberechtliche Sonderregime für verteidigungs- und sicherheitsrelevante Beschaffungen.

3. Wo endet die Ausnahme für den Schutz von Sicherheitsinteressen?

Deutlich wurde auch, dass die erhöhte Zahl der Ausnahmetatbestände (§§ 100 Abs. 6 und 7 [2] sowie 100c GWB [3] gegenüber dem bisherigen § 100 Abs. 2 d) GWB ein verzerrtes Bild vermittelt. In der Sache hat sich der von der Anwendung des Vergaberechts ausgenommene Bereich gegenüber der bisherigen Rechtslage eher verengt. Zwar kann sich nach wie vor ein Staat auf Sicherheitsinteressen berufen, die der Anwendung des auf Transparenz ausgerichteten Vergaberechts entgegenstehen. Aber die Regelungen der Richtlinie RL 2009/81/EG sind darauf ausgerichtet, gerade diesem Interesse Rechnung zu tragen und das besondere Spannungsverhältnis zwischen dem einzelstaatlichen Sicherheitsinteresse und der Verwirklichung effektiven Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt aufzulösen.

_MAR0736Soweit aber Sicherheitsinteressen auch innerhalb eines speziellen Vergaberechtsregimes hinreichend geschützt werden, wird es in Zukunft schwieriger werden, eine Ausnahme von der Anwendung des Vergaberechts mit schützenswerten Sicherheitsinteressen zu begründen. In diesem Zusammenhang wies Herr Prof. Dr. Höfler (Foto* links) darauf hin, dass bislang tendenziell großzügige Entscheidungen wie die des OLG Düsseldorf anlässlich der Beschaffung von Handgepäckkontrollsystemen zum Zweck der Terrorismusbekämpfung (Erg. d. Verf.: Beschluss vom 12.07.2010, Az.: VII-Verg 27/10) so wohl in Zukunft nicht mehr zu erwarten seien. Paradoxerweise sind es also gerade die Erleichterungen des Vergaberechtsregimes im Bereich der Verteidigung und Sicherheit, die im Ergebnis zu einer Verschärfung der Rechtslage führen, da sie den Rechtfertigungsdruck erhöhen.

Deutsches Vergabenetzwerk [4]

4. Wie sind Verfahrenserleichterungen zu bewerten?

Damit war zugleich der Bogen geschlagen zu der Frage nach den konkreten Erleichterungen der Vergaberichtlinien im Bereich der Verteidigung und Sicherheit und ihrer Bedeutung in der Praxis. Diskutiert wurden insbesondere Beschleunigungsmöglichkeiten im Rahmen der Verfahrenswahl, Modalitäten der Einordnung als Verschlusssache und erforderlicher Sicherheitsüberprüfungen. Auch Wertung, Reichweite und Nutzen etwaiger Erklärungen zum Umgang mit Verschlusssachen und zur Sicherstellung verlässlicher Lieferketten im Interesse der erforderlichen Versorgungssicherheit wurden erörtert, sowie Wege und Grenzen, entsprechende Verpflichtungen auf Nachunternehmer zu erstrecken. Frau Kadri unterzog diese Instrumente einer kritischen Bewertung aus Auftraggebersicht. Sie wies hierbei insbesondere auf den zeitlichen und organisatorischen Aufwand einer im Vergabeverfahren abzufordernden Sicherheitsüberprüfung hin.

Allerdings kam die Sprache auch auf bestehende Spielräume zur Gestaltung des Beschaffungsprozesses innerhalb des Vergaberechts, wie etwa durch Bedarfsbündelung oder den Einsatz von Rahmenverträgen. Für letztere sehen die Vergaberichtlinien im Bereich der Verteidigung und Sicherheit eine längere Regellaufzeit von sieben Jahren vor. Festzuhalten ist, dass die Erweiterung des vergaberechtlichen Regimes nicht zwangsläufig einer effizienten Beschaffungsstrategie im Wege stehen muss, sondern im Gegenteil als Chance gesehen werden kann, durch erhöhten Wettbewerb Ausgaben zu optimieren und zu reduzieren. Es liegt bei den Auftraggebern, bestehende Möglichkeiten zu nutzen.

4. Fazit: Konsequenzen für zukünftige Beschaffungen?

Im Ergebnis lässt sich festhalten: aus vergaberechtlicher Sicht müssen Beschaffer zukünftig folgende Fallgestaltungen unterschieden:

– nicht verteidigungs- und sicherheitsrelevante Aufträge, die dem allgemeinen Vergaberechtsregime unterfallen,

– Aufträge, bei denen die besonderen Bestimmungen für verteidigungs- und sicherheitsrelevante Beschaffungen Anwendung finden,

– verteidigungs- und sicherheitsrelevante Aufträge, die vom Anwendungsbereich des Vergaberechts ausgenommen sind – insbesondere weil im Einzelfall der Schutz der mitgliedstaatlichen Sicherheitsinteressen der Anwendung des Vergaberechts entgegensteht.

Die Hürden für den Rückgriff auf die Ausnahme wegen entgegenstehender Sicherheitsinteressen werden durch die Verfahrensregeln der Richtlinie RL 2009/81/EG höher liegen. Auftraggeber, die sich auf diese Ausnahmevorschrift berufen wollen, sind gut beraten, frühzeitig zu prüfen, inwieweit auch die speziellen Verfahrenserleichterungen nicht ausreichen, um ihr Sicherheitsinteresse zu schützen und dies vor allem umfassend zu dokumentieren. Bei dieser Prüfung sollten sie allerdings damit rechnen, dass sich die bislang schon restriktive Tendenz in der Entscheidungspraxis eher weiter verschärfen wird.

* Portraitfotos mit freundlicher Genehmigung des Behörden Spiegels

pfarr_valeskaDie Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte [5], Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand. Mehr Informationen über die Autorin finden Sie in unserem Autorenverzeichnis [6].

dvnwlogoThema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren [7].

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Über Dr. Valeska Pfarr, MLE [8]

Die Autorin Dr. Valeska Pfarr, MLE, ist Rechtsanwältin bei Menold Bezler Rechtsanwälte [5], Stuttgart. Sie ist auf das Vergaberecht spezialisiert, ein Schwerpunkt liegt hierbei auf der Beratung der öffentlichen Hand.

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