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Vergaberecht und Sozialrecht: Das Beispiel der Vergabe von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII – Teil 1

Paragraph [1]Das Europäische Vergaberecht hat das Sozialrecht erreicht. Seine Anwendbarkeit erstreckt sich inzwischen auf die Vergabe von sozialen Arbeitsmarktdienstleistungen gemäß SGB III (Maßnahmen der Berufsförderung oder der Eingliederungshilfe einschließlich der in Werkstätten für behinderte Menschen), die Altenpflege, die Schuldnerberatung, die Beschaffung von Heil- und Hilfsmitteln, den Abschluss von Arzneimittel-Rabattverträgen und die Beauftragung von Rettungsdienstleistungen (siehe hierzu die Serie „Rettungsdienstleistungen“ [2] im Vergabeblog), um nur die wichtigsten zu nennen.

Während beispielsweise für den Bereich der Rettungsdienstleistungen der Umfang der Anwendbarkeit des europäischen Vergaberechts durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesgerichtshofs (BGH) bereits weitgehend geklärt worden ist, wird die Vergabe von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII noch kontrovers diskutiert. Problematisch ist in dieser Hinsicht – ebenso wie in anderen Bereichen des Sozialrechts – das Vorliegen eines „öffentlichen Auftrags“.

Leistungserbringungsvereinbarungen auf dem Gebiet des Kinder- und Jugendhilferechts

Gegenstand von Leistungsvereinbarungen der Kinder- und Jugendhilfe ist die gesamte Tätigkeit sozialer Dienste und Einrichtungen, die sozialpflegerische, pädagogische oder therapeutische Leistungen erbringen. Dabei kann es sich um ambulante, teilstationäre oder auch stationäre Leistungen handeln. Sofern die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII (Landkreise und kreisfreie Städte) Leistungen nicht selbst erbringen, werden in der Praxis in aller Regel Vereinbarungen mit freien Trägern der Jugendhilfe abgeschlossen. Im Fokus der jugendhilferechtlichen Praxis steht derzeit auch das Bundesmodellprogramm „Qualifizierung der Hilfen zur Erziehung durch wirkungsorientierte Ausgestaltung der Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen nach §§ 78a ff. SGB VIII“.

Neben den im SGB ausdrücklich vorgesehenen Leistungsbildern haben zahlreiche öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe sogenannte Familien- und Jugendhilfeverbünde (FJV) als Zusammenschlüsse freier Träger der Familien- und Jugendhilfe gegründet. In der Regel handelt es sich dabei um freie Träger, die im jeweiligen Kreisgebiet tätig sind. Im Zusammenhang mit der Bildung solcher FJV beauftragen die öffentlichen Träger häufig noch einen bestimmten freien Träger mit den Geschäftsführungs- und Koordinationstätigkeiten innerhalb des jeweiligen Familien- und Jugendhilfeverbunds.

Damit stellt sich sowohl in Bezug auf Leistungsvereinbarungen, die ihre Grundlage im Kinder- und Jugendhilferecht des SGB VIII finden ebenso die Frage der Anwendbarkeit des europäischen Vergaberechts wie bei Vereinbarungen über die Geschäftsführung in einem Familien- und Jugendhilfeverbund.

„Jugendhilferechtliches Dreiecksverhältnis“

Die vergaberechtliche und verwaltungsrechtliche Rechtsprechung vertritt bislang überwiegend die Auffassung, dass Aufträge der öffentlichen Träger der Jugendhilfe mit freien Trägern über die Erbringung von Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen nach dem SGB VIII keine öffentlichen Aufträge im Sinne des § 99 GWB darstellen und wegen der besonderen vertraglichen Konstellation überhaupt nicht ausgeschrieben werden dürfen. Begründet wird dies durch die Konstruktion des „jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses“ nach den Bestimmungen des SGB VIII.

Eine Seite des jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses bildet als Grundverhältnis die öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehung zwischen dem Leistungsberechtigten als Gläubiger und dem öffentlichen Träger als Schuldner des sozialrechtlichen Anspruchs, welcher die Anspruchsberechtigung durch den Erlass eines Bewilligungsbescheids feststellt und konkretisiert. Auf der Grundlage dieses Verwaltungsakts werden Rechtsbeziehungen zwischen dem Leistungsberechtigten und dem nichtstaatlichen Leistungserbringer in Form eines privatrechtlichen synallagmatischen Vertrags begründet. Vertragsgegenstand ist insoweit die Erbringung der Leistung im Einzelfall gegen die Zahlung eines Entgeltes. Schuldner des Zahlungsanspruches ist als Vertragspartner des nichtstaatlichen Trägers allerdings nur der Leistungsberechtigte. Kommt es darüber hinaus – wie es im deutschen Fürsorgesystem bei Individualleistungen auch außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 78b ff. SGB VIII üblich ist – zu vertraglichen Beziehungen zwischen Leistungserbringer und öffentlichem Träger, wird das Dreieck geschlossen.

Im Rahmen dieser Vereinbarungen werden die Leistungsangebote gleichsam „für“ die Leistungsberechtigten definiert und die im Fall der berechtigten Inanspruchnahme durch den Hilfebedürftigen vom Leistungsträger zu übernehmenden Entgelte festgelegt. Hierdurch erfüllt der öffentliche Träger seine Verpflichtungen gemäß §§ 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I, 79 Abs. 2 Satz 1, 1. Hs. SGB VIII. Der sozialrechtliche Anspruch des Leistungsberechtigten wird durch Erteilung der Kostenzusage befriedigt, also durch bewilligenden Verwaltungsakt.

Zusammengefasst liegt den Vorschriften über die Kostenübernahme die gesetzgeberische Vorstellung zugrunde, dass ein Einzelabruf der Leistung durch den Hilfebedürftigen das auslösende Moment für die Entgeltzahlung ist. Der Erbringer der Leistung (also der freie Träger) soll eine Vergütung nur dann erhalten, wenn es im Einzelfall zu einer Inanspruchnahme seiner Einrichtung tatsächlich kommt.

Leistungsvereinbarungen gemäß SGB VIII: Öffentlicher Auftrag oder Dienstleistungskonzession?

Vor dem soeben geschilderten Hintergrund des jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses geht die Rechtsprechung überwiegend davon aus, dass die Durchführung eines Vergabeverfahrens weder erforderlich noch zulässig ist. Allerdings liegen die sogleich dargestellten Entscheidungen zum einen bereits einige Jahre zurück und konnten etwa die Rechtsprechung des EuGH und des BGH zur Beauftragung von Rettungsdienstleistungen – insbesondere diejenige des EuGH im Konzessionsmodell – noch nicht berücksichtigen. Zum anderen greift allein der bloße Verweis auf Besonderheiten des nationalen Rechts jedenfalls dann zu kurz, wenn es um die Anwendbarkeit des europäischen Vergaberechts geht, weil das europäische Gemeinschaftsrecht grundsätzlich Vorrang vor dem nationalen Recht beansprucht.

OVG Münster und OVG Berlin: Kein öffentlicher Auftrag im jugendhilferechtlichen Dreiecksverhältnis

Das Fehlen eines öffentlichen Auftrags begründen das OVG Münster und das OVG Berlin (OVG Münster, Beschl. v. 18.03.2005 – AZ: 12 B 1931/04; OVG Berlin, Beschl. v. 04.04.2005 – AZ: OVG 6 S 415.04) mit dem Wahlrecht des Leistungsberechtigten (vgl. § 5 Abs. 1 SGB VIII). Darüber hinaus stehe dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe losgelöst vom konkreten Hilfefall nicht das Recht zu, eine Auswahl unter den in Betracht kommenden verschiedenen Trägern der freien Jugendhilfe vorzunehmen.

Auch die Vergabekammer Hamburg ist der Überzeugung, dass Leistungsvereinbarungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe nicht der Vergabepflicht unterfallen (Beschl. v. 03.08.2004 – AZ: VgK FB 4/04). Es fehle am Vorliegen einer Marktleistung, weil das Rechtsverhältnis zwischen öffentlichem Träger und freien Trägern der Jugendhilfe nicht auf einen gegeneinander gerichteten Wettbewerb, sondern auf Zusammenarbeit bei der Bewältigung der gemeinsamen Aufgabe angelegt sei.

Deutsches Vergabenetzwerk [3]OLG Düsseldorf: Je nach Fallgestaltung öffentlicher Dienstleistungsauftrag oder Dienstleistungskonzession

Nach Auffassung des OLG Düsseldorf (Beschl. v. 22.09.2004 – AZ: VII Vergabe 44/04) liegt es im Risikobereich des jeweiligen freien Trägers der Jugendhilfe, ob überhaupt Leistungsberechtigte Leistungen von diesem Träger in Anspruch nehmen. Daher sei im Regelfall von einer nicht vergabepflichtigen Dienstleistungskonzession auszugehen. Dass für diesen Fall eine Kostenerstattung durch den öffentlichen Träger der Jugendhilfe erfolgt, ändere hieran nichts.

In einer anderen Fallkonstellation hat ebenfalls das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 08.09.2004 – AZ: VII Vergabe 35/04) in Bezug auf die Erbringung von Leistungen nach § 93 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) entschieden, dass eine Vereinbarung, die den freien Leistungserbringern eine Erstattung der Kosten unter bestimmten Voraussetzungen zusagt, einen vergabepflichtigen Dienstleistungsvertrag darstellt.

Der zweite Teil des Beitrags zur Vergabe von Leistungsvereinbarungen der Kinder- und Jugendhilfe gemäß SGB VIII setzt sich mit den Rechtsansichten in der vergabe- uns sozialrechtlichen Literatur auseinander, schildert die Auffassung der Bundesregierung, wirft einen Blick auf die beim Unterbleiben eines Vergabeverfahrens gegebenenfalls entstehende kartellrechtliche Problematik und schließt mit einer Zusammenfassung und Praxishinweisen.

martin_ottDer Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte [4], Stuttgart. Dort berät und vertritt er insbesondere öffentliche Auftraggeber, aber auch Unternehmen, in allen Fragen des Vergaberechts, ein Schwerpunkt liegt hierbei im Dienstleistungsbereich. Mehr Informationen finden Sie in unserem Autorenverzeichnis [5].

dvnwlogoThema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren [6].

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Über Dr. Martin Ott [7]

Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte [4], Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) [8].

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