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Gefangenendilemma im Verhandlungsverfahren oder „Germany`s best topbidder“

ParagraphEigentlich ein Thema im Strafprozess – das Gefangenendilemma. Dabei machen sich die Behörden bei der Vernehmung von Beschuldigten eine Konfliktsituation zunutze, um die Gefangenen gegenseitig auszuspielen. Was hat das nun mit Vergabeverfahren zu tun? Viel, wie das nachfolgende Beispiel aus der jüngsten Ausschreibungspraxis zeigt. Allerdings mit einem Unterschied: Im Strafprozess haben sich die Beschuldigten durch ihr eigenes – strafbares – Verhalten in die Situation gebracht, in der geschilderten Ausschreibung wurde den Bietern das Prozedere durch die Vergabestelle vorgegeben.

Das Grundprinzip

Ein Beispiel zur Erläuterung des Gefangenendilemmas: Zwei Beschuldigte werden verdächtigt, gemeinsam eine Straftat begangen zu haben. Beide werden getrennt verhört, sie haben keine Möglichkeit, ihr Verhalten abzustimmen. Die Höchststrafe für Ihre Tat beträgt sechs Jahre. Entscheiden sich beide zu schweigen, werden beide wegen geringerer Delikte zu je zwei Jahren Haft verurteilt. Gestehen beide, erwartet beide eine Haftstrafe, wegen der Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden jedoch nur vier Jahre. Gesteht einer und schweigt der andere, bekommt der erste als Kronzeuge eine symbolische einjährige Bewährungsstrafe, derjenige, der schweigt, bekommt die Höchststrafe. Das „Dilemma der Gefangenen“ beruht darauf, dass sie nicht wissen, wie sich der andere verhält – und deswegen die für sie schlechteste Lösung wählen. Die beste Entscheidung für beide wäre, zu schweigen. Das machen sie aber nicht, da sie nicht darauf vertrauen können, dass der andere auch schweigt – zumal sie die Chance auf Bewährungsstrafe haben, wenn sie gestehen. Als Konsequenz werden beide gestehen und somit eine vier- anstatt eine zweijährige (wenn beide geschwiegen hätten) Haftstrafe verbüßen.

Eine Situation, die zuweilen auch bei öffentlichen Ausschreibungen vorkommt.

Der aktuelle Fall

Die Vergabestelle schrieb EU- weit einen Rahmenvertrag nach der Sektorenverordnung (Aufträge im Bereich Verkehr, Trinkwasser, Energie) im Verhandlungsverfahren aus. Nach mehreren Verhandlungsrunden wurde den Bietern erstmalig mitgeteilt, dass eine finale Verhandlungsrunde mit mehreren Phasen stattfindet. In der Form, dass aus jeder Phase abgestuft „Sieger“ für die nächste Phase hervorgehen. Einziges Wertungskriterium in dieser letzten finalen Verhandlungsphase war der Preis. Wohl inspiriert durch „Germany`s next topmodel“ gab es für die Bieter die Möglichkeit, eine Phase zu überspringen und mit Direktqualifikation ins „Finale“ zu kommen. In der letzten Phase war unter anderem vorgesehen, dass den Bietern ein Exklusivangebot der Vergabestelle vorgelegt wird – jeweils „exklusiv“ für den niedrigsten Bieter. Für den Fall, dass er das Angebot nicht annimmt sollte es dann dem nächsten Bieter auf Platz 2 „exklusiv“ angeboten werden. Derjenige, der als erster das Exklusivangebot bestätigt, war als Gewinner vorgesehen. Sollte kein Bieter darauf eingehen, war eine nächste Runde unter Erhöhung des Angebots nach gleichem Schema vorgesehen.

Das Gefangenendilemma der Bieter

Für die Bieter eine ähnliche Situation wie beim Gefangenendilemma: Schlagen alle das Exklusivangebot der Vergabestelle aus, müsste es automatisch erhöht werden, die Bieter hätten dann bessere, da höhere Angebotspreise. Da aber kein Bieter sicher ist, ob der andere das Exklusivangebot annimmt und dann den Zuschlag erhält, werden die Bieter auf das Exklusivangebot eingehen, um ihre Wettbewerbschance zu wahren. Und die Vergabestelle hat somit in Ausnutzung dieser Situation die Möglichkeit, den Preis noch einmal zu drücken.

Fehlende Transparenz – Geltung auch für die Sektorenverordnung

Die Sektorenverordnung enthält zwar keine konkreten Vorgaben wie die VOL/A für das Verhandlungsverfahren in § 3 EG Abs. 6 VOL/A, so dass es eine explizite Regelung zum Ablauf nicht gibt. Aber auch im Sektorenbereich ist nach der Rechtsprechung der nach § 97 GWB geltende Grundsatz der Transparenz zur Wahrung eines fairen Wettbewerbs zu beachten (OLG Brandenburg, Beschluss v. 21.02.2012 – Verg W1/12, OLG München, Beschluss v. 29.09.2009 -Verg 12/09).

97 Abs.1 GWB bestimmt:

„Öffentliche Auftraggeber beschaffen Waren, Bau- und Dienstleistungen nach Maßgabe der folgenden Vorschriften im Wettbewerb und im Wege transparenter Vergabeverfahren.“

Im aktuellen Verhandlungsverfahren wurden die Bieter während des Vergabeverfahrens über die finale Verhandlungsphase und die Teilnahmebedingungen informiert. Der Ablauf der letzten Phase, also die Endentscheidung, wurde den Bietern erst am Tag des Finales mitgeteilt. Obwohl die Vergabestelle mehrfach beteuerte, das geltende EU-Vergaberecht einzuhalten, ist zu bezweifeln, dass mit der Ausgestaltung des geschilderten finalen Verhandlungsszenarios das in § 97 Abs. 1 GWB geforderte transparente Vergabeverfahren eingehalten wurde. Vielmehr diente es dazu, eine Drucksituation für ein Preisdumping zugunsten der Vergabestelle auszunutzen.

Dabei gilt eigentlich auch in der Sektorenverordnung nach § 27 SektVO der Grundsatz, ungewöhnliche niedrige Angebote zu prüfen und gegebenenfalls auszuschließen. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, der Vergabestelle keine unauskömmlichen Angebote zu unterbreiten, die der Bieter dann eventuell nicht erfüllen kann. Wenn nun aber die Vergabestelle selbst durch die Gestaltung der Verhandlungsrunde mit dem klaren und einzigen Ziel, den Angebotspreis zu drücken die Bieter dazu bringt, unterpreisige Angebote abzugeben, wird letztlich die Regelung ad absurdum geführt.

Deutsches Vergabenetzwerk [1]Klärung in Sicht?

Auftraggeber im Sektorenbereich nutzen die vergaberechtlichen Möglichkeiten in letzter Zeit teilweise sehr ausgiebig mit detailliert geregelten und auch für erfahrene Bieter schwer verständlichen Abläufen bei Verhandlungsverfahren. Einzelheiten zum Ablauf werden oft erst im Laufe des Verfahrens bekannt gegeben. Ob sich die Auftraggeber tatsächlich damit einen Gefallen tun und nicht dadurch eher potentiell interessierte Bieter abschrecken, sei dahingestellt. Vergaberechtlich interessant wird es, wenn sich ein Bieter vor der Vergabekammer wehrt und geklärt wird, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Verstoß gegen den Transparenzgrundsatz beim Verhandlungsverfahren in der Sektorenverordnung vorliegt. Natürlich auch eine Möglichkeit: Die Vergabeunterlagen von Anfang an transparent zu gestalten.

PrellDie Autorin Monika Prell ist für den Bereich der Öffentlichen Ausschreibungen/Vergaberecht bei Bitkom Consult [2] “ zuständig. „Bitkom Consult – Vergaberecht“ coacht, berät und unterstützt insbesondere Unternehmen der ITK-Branche bei öffentlichen Ausschreibungen. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis [3].

dvnwlogoThema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren [4].

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Über Monika Prell [5]

Monika Prell ist Fachanwältin für Vergaberecht und Partnerin bei der Kanzlei SammlerUsinger [6] in Berlin. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung im Vergaberecht und berät sowohl öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Konzeption und Gestaltung sowie der anschließenden Durchführung von Vergabeverfahren als auch Bieterunternehmen umfassend bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen. Darüber hinaus vertritt Monika Prell ihre Mandanten vor den Vergabenachprüfungsinstanzen. Neben ihrer anwaltlichen Tätigkeit ist sie als Kommentarautorin tätig, veröffentlicht regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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