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Die vergaberechtliche Förderung von Frauen und Familien in Nordrhein-Westfalen

ParagraphDas „Gesetz über die Sicherung von Tariftreue und Sozialstandards sowie fairen Wettbewerb bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Tariftreue- und Vergabegesetz Nordrhein-Westfalen – TVgG NRW)“ vom 10.1.2012 verfolgt als ein wichtiges Kernziel die Förderung und Unterstützung einer sozialverträglichen öffentlichen Auftragsvergabe in Nordrhein-Westfalen (§ 1 TVgG-NRW). § 19 TVgG-NRW regelt deshalb speziell die Frauen- und Familienförderung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Die Vorschrift ist allerdings erst dann zu vollziehen, wenn das Land Nordrhein-Westfalen eine entsprechende Rechtsverordnung erlässt (vgl. Ziffer 2.6 Gemeinsamer Runderlass vom 17.4.2012 – Az.: II B 2 – 81 – 00/2-2). Eine solche Durchführungs- bzw. Ausführungsverordnung zum TVgG-NRW soll noch im Herbst diesen Jahres in Kraft treten. Hiervon unberührt bleibt im Übrigen das geltende Gleichstellungsrecht.

Anwendungsbereich

Das TVgG-NRW ist von allen öffentlichen Auftraggebern in Nordrhein-Westfalen anzuwenden. Es ist damit an alle Vergabestellen nach § 98 Nr. 1 bis Nr. 6 GWB adressiert. In sachlicher Hinsicht werden hingegen nur Unternehmen vom TVgG-NRW erfasst, die mehr als 20 Mitarbeiter beschäftigen (§ 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 TVgG-NRW), und wenn die Vergabestelle zugleich einen Liefer- oder Dienstleistungsauftrag über Leistungen mit einem geschätzten Netto-Auftragswert ab 50.000 Euro oder über Bauleistungen mit einem geschätzten Netto-Auftragswert ab 150.000 Euro vergibt (§ 19 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 TVgG-NRW). Der Begriff der „Beschäftigten“ ist in diesem Zusammenhang nach Wortlaut und Intention des Gesetzes weit auszulegen. Auf die Form des Beschäftigungsverhältnisses (z.B. Teilzeitarbeit) oder die Dauer der Beschäftigung kommt es deshalb nicht entscheidend an.

Inhalt

Die Umsetzung frauen- und familienfördernder Maßnahmen gemäß § 19 Abs. 1 S. 1 TVgG-NRW ist „nur“ als Soll-Regelung formuliert. Dies darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Vergabestellen nur im Ausnahmefall von dem politischen Ziel der Frauen- und Familienförderung abweichen dürfen. Öffentliche Auftraggeber dürfen also generell nur solche Unternehmen beauftragen, die auch frauen- und familienfördernde Maßnahmen durchführen. Dies bedeutet, dass im Zeitpunkt der Angebotsabgabe (nicht: Teilnahmewettbewerb), eine schriftliche Erklärung des Bieters vorliegen muss, in der sich das auftragnehmende Unternehmen bei der Auftragsausführung dazu verpflichtet, frauen- und familienfördernde Maßnahmen durchzuführen oder einzuleiten. Daher ist nach § 19 Abs. 1 S. 3 TVgG-NRW i.V.m. § 8 Abs. 1 TVgG-NRW schon in der Auftragsbekanntmachung auf die Abgabe einer Verpflichtungserklärung zur Frauen- und Familienförderung hinzuweisen.

Wird keine Verpflichtungserklärung bieterseitig vorgelegt, so ist unter angemessener Fristsetzung die fehlende Verpflichtungserklärung nachzufordern (§ 19 Abs. 1 S. 3 TVgG-NRW i.V.m. § 8 Abs. 2 TVgG-NRW). § 8 Abs. 2 TVgG-NRW verdrängt insoweit § 16 Abs. 2 S. 1 VOL/A. Erst wenn die fristgebundene Nachforderung fehlschlägt, kommt ein zwingender Angebotsausschluss in Betracht.

Offen lässt das TVgG-NRW hingegen, welche frauen- und familienfördernden Maßnahmen seitens der Unternehmen gewählt und durchgeführt werden können. Vor dem Hintergrund des § 97 Abs. 4 S. 3 GWB scheint es daher fraglich zu sein, ob die in § 21 Abs. 4 Nr. 3 Buchst. a TVgG-NRW enthaltene Ermächtigung zum Erlass einer konkretisierenden Rechtsverordnung hierfür ausreichend ist. Denkbare Maßnahmen im Rahmen der Familien- und Frauenförderung bietet z.B. § 2 der Berliner Frauenförderverordnung, der u.a. die Bereitstellung betrieblicher oder externer Kinderbetreuung, auch für Arbeitszeiten außerhalb der üblichen Öffnungszeiten der regulären Kinderbetreuung und die Möglichkeit befristeter Teilzeitarbeit, vorzugweise vollzeitnah, mit Rückkehroption in eine Vollzeitarbeit, auch in Führungspositionen, vorsieht.

Sanktionen

Gemäß § 19 Abs. 2 TVgG-NRW i.V.m. § 12 Abs. 1 S. 1 TVgG-NRW soll die schuldhafte Verletzung von Maßnahmen zur Frauen- und Familienförderung mit einer Vertragsstrafe von 1% bis zu 5% bei mehreren Verstößen sanktioniert werden. Bei entsprechenden Verstößen von Subunternehmern oder Verleihern von Arbeitskräften findet die Vertragsstrafenregelung hingegen keine Anwendung. Ferner sieht das TVgG-NRW die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung vor (§ 19 Abs. 2 S. 1 TVgG-NRW i.V.m. § 12 Abs. 2 TVgG-NRW), die in den vertraglichen Ausschreibungsunterlagen entsprechend zu verorten ist. Beide Sanktionsmöglichkeiten sind durch Informations-, Auskunfts- und Dokumentationspflichten vertraglich zu ergänzen.

Deutsches Vergabenetzwerk [1]Fazit

Die Frauen- und Familienförderung ist ein exemplarisches Beispiel für die zunehmende Berücksichtigung gesellschaftspolitischer Aspekte im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe. Ob § 19 TVgG-NRW hierzu einen nachhaltigen Beitrag leisten kann, wird u.a. von der noch zu erlassenden, konkretisierenden Rechtsverordnung abhängen, die für die Beschaffungspraxis im Land Nordrhein-Westfalen vermutlich wichtige Impulse setzen wird. In spätestens vier Jahren, wenn eine wissenschaftliche Evaulierung erfolgt (§ 22 Abs. 2 TVgV-NRW), wird sich zeigen, ob das Ziel der Frauen- und Familienförderung mit Hilfe des Vergaberechts tatsächlich gefördert werden konnte.

Schröder_Holger___17815Rechtsanwalt Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner in Nürnberg [2] den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren eine Vielzahl von VOL/VOB/VOF/SektVO-Verfahren öffentlicher Auftraggeber von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Die Expertise wird durch zahlreiche Fachveröffentlichungen und einschlägige Vortragstätigkeiten bestätigt. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis [3].

dvnwlogoThema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren [4].

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Über Holger Schröder [5]

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner [2] in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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