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Mindestlohn und Tariftreueregelungen in Vergabeverfahren: Vorgabe eines Mindestlohns verstößt voraussichtlich gegen europäisches Recht

ParagraphIm April 2008 hatte der EuGH im so genannten Rüffert-Urteil das niedersächsische Landesvergabegesetzt gekippt. Seitdem haben nahezu alle Bundesländer mit novellierten Tariftreue- oder Vergabegesetzen ihre landesgesetzlichen Regelungen mit dem Ziel umgestaltet, dass diese mit europäischem Recht vereinbar sind. Derzeit verfügen zehn Bundesländer über ein Tariftreue- oder Vergabegesetz. Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein planen die Einführung eines solchen Gesetzes. Dann wären nur noch Bayern, Hessen und Sachsen ohne eine vergleichbare Gesetzgebung. Die Vereinbarkeit der novellierten Mindestlohn- und Tariftreueregelungen mit höherrangigem Recht ist gleichwohl nach wie vor Gegenstand kontroverser Diskussionen. Die Vergabekammer Düsseldorf hat nunmehr entschieden, dass die Vorgabe eines Mindestlohns im Rahmen von Vergabeverfahren voraussichtlich gegen europäisches Recht verstößt (Beschluss vom 09.01.2013 – VK-29/2012; nicht bestandskräftig).

Im entschiedenen Fall forderte ein öffentlicher Auftraggeber im Zusammenhang mit der Vergabe von Entsorgungsdienstleistungen von den Bietern nach den Bestimmungen des Tariftreue- und Vergabegesetzes NRW (TVgG-NRW) sowohl die Abgabe einer Tariftreue- als auch einer Mindestlohnerklärung.

Die Vergabekammer Düsseldorf erörterte im Zusammenhang mit der Frage, ob das Angebot des Bestbieters unangemessen niedrig sei auch, ob die von der Vergabestelle geforderte Mindestlohnverpflichtung gegen europäisches Recht verstoße.

Vorgabe eines vergabespezifischen Mindestlohns verstößt voraussichtlich gegen europäisches Recht

Die Kammer gelangte in ihrer rechtlichen Würdigung zu dem Ergebnis, dass die Vorgabe eines vergabespezifischen Mindestlohns voraussichtlich mit dem europäischen Unionsrecht nicht vereinbar ist. In dieser Hinsicht liege ein Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV nahe, weil § 4 Abs. 3 TVgG-NRW außerhalb des Anwendungsbereichs des Arbeitnehmerentsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes die Zahlung eines bestimmten Mindestlohns vorschreibe. Die Vergabekammer Düsseldorf formuliert insoweit wörtlich:

„Bedenken gegen die Konformität mit höherrangigem Recht sind bei Regelungen, die auf „Tariftreue“ abzielen, wie sich aus der Spruchpraxis und Literatur ergibt, nicht fernliegend. Soweit in § 4 Abs. 3 TVgG ein Mindestlohn von € 8,62 vorgeschrieben wird und in § 4 Abs. 4 TVgG eine Meistbegünstigung vorgesehen ist, bestehen […] Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 56 AEUV. § 4 Abs. 3 TVgG schreibt faktisch außerhalb des Anwendungsbereichs des Arbeitnehmerentsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes die Zahlung eines bestimmten – höheren – Mindeststundensatzes vor.“

Prüfungspflicht der Vergabestellen in Bezug auf die Einhaltung des Mindestlohns hat drittschützende Wirkung

Das Tariftreue- und Vergabegesetz NRW fordert in § 4 Abs. 1 TVgG-NRW von den am Vergabeverfahren beteiligten Unternehmen die Abgabe einer Tariftreueerklärung und sieht in § 4 Abs. 3 TVgG-NRW für Leistungen, für die kein Tarifvertrag gemäß der Absätze 1 und 2 existiert, einen vergabespezifischen Mindestlohn von € 8,62 vor. Ergänzend verpflichtet § 10 Abs. 1 TVgG-NRW die Vergabestellen zu prüfen, ob an der Einhaltung der Pflichten aus einer Verpflichtungserklärung nach § 4 Zweifel bestehen.

Vor diesem Hintergrund gelangt die Vergabekammer Düsseldorf zu der Auffassung, dass die Pflicht zur Preisprüfung auf Tariftreue und Mindestlohn drittschützend ist. Das bedeutet, dass nicht berücksichtigte Bieter mit Aussicht auf Erfolg ein Nachprüfungsverfahren einleiten können, wenn zweifelhaft ist, ob ein öffentlicher Auftraggeber seiner Prüfungspflicht in Bezug auf die Einhaltung von Mindestlohn- und Tariftreueregelungen nachgekommen ist. Die Kammer begründet ihre Rechtsauffassung wie folgt:

„Es ist Ziel des TVgG, zu vermeiden, dass Unternehmen bei der Ausführung öffentlicher Aufträge untertariflich entlohnte Beschäftigte einsetzen und sich damit ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile verschaffen (LT – Drs. 15-2379, Seite 1). Kernelement des Gesetzes ist die Verankerung eines Mindestlohns um u. a. einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Damit entfaltet die in § 10 Abs. 1 TVgG ausgesprochene Prüfungspflicht zugleich drittschützende Wirkung“.

Mit Blick auf den zu entscheidenden Fall führt die Kammer weiter aus:

„Da die Antragsgegnerin diese Frage ausweislich der Vergabedokumentation bisher überhaupt nicht beleuchtet hat, ist das Recht der Antragstellerin auf Einhaltung der vergaberechtlichen Bestimmungen insoweit verletzt“.

Die Annahme einer drittschützenden Wirkung der Pflicht zur Preisprüfung auf Tariftreue und Mindestlohn unterliegt gewissen Zweifeln. Denn der mit der Verpflichtung zur Zahlung eines Mindestlohns oder der Einhaltung von Tariftreueregelungen verbundene Schutz der Arbeitnehmerrechte dient grundsätzlich nicht zugleich auch dem Schutz des Wettbewerbs.Deutsches Vergabenetzwerk [1]Fazit und Praxishinweise

Eine abschließende Entscheidung fällte die Vergabekammer nicht, weil eine Aussetzung und Befassung des EuGH – in Übereinstimmung mit der ständigen Praxis der Vergabenachprüfungsinstanzen – nicht mit dem Beschleunigungsgrundsatz gemäß § 110 Abs. 1 Satz 4 GWB für das erstinstanzliche Kammerverfahren vereinbar sei.

Der Vergabekammer ist jedoch darin beizupflichten, dass die Vorgabe eines vergabespezifischen Mindestlohns voraussichtlich einen Verstoß gegen die unionsrechtliche Dienstleistungsfreiheit bedeutet, weil diese Maßnahme nicht alle Arbeitnehmer, sondern allein diejenigen schützt, die öffentliche Aufträge ausführen. Öffentliche Auftraggeber müssen in Zukunft daher damit rechnen, dass unterlegene Bieter sich auf die Einhaltung der Prüfungspflicht gemäß § 10 Abs. 1 TVgG-NRW oder vergleichbarer landesgesetzlicher Regelungen in anderen Tariftreue- oder Landesvergabegesetzen berufen werden.

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Über Dr. Martin Ott [2]

Der Autor Dr. Martin Ott ist Rechtsanwalt und Partner der Sozietät Menold Bezler Rechtsanwälte [3], Stuttgart. Herr Dr. Ott berät und vertritt bundesweit in erster Linie öffentliche Auftraggeber umfassend bei der Konzeption und Abwicklung von Beschaffungsvorhaben. Auf der Basis weit gefächerter Branchenkenntnis liegt ein zentraler Schwerpunkt in der Gestaltung effizienter und flexibler Vergabeverfahren. Daneben vertritt Herr Dr. Ott die Interessen der öffentlichen Hand in Nachprüfungsverfahren. Er unterrichtet das Vergaberecht an der DHBW und der VWA in Stuttgart, tritt als Referent in Seminaren auf und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichen. Er ist einer der Vorsitzenden der Regionalgruppe Stuttgart des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) [4].

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[4] Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW): http://www.dvnw.de/

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