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Wann stellt eine Vertragsänderung eine ausschreibungspflichtige Neuvergabe dar? (VK Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 16.01.2013 – 2 VK LSA 40/12)

ParagraphEine nachträgliche Vertragsänderung ist als ausschreibungspflichtige Neuvergabe zu behandeln, wenn sie – wäre ihr Inhalt bereits Gegenstand des ursprünglichen Ausschreibungsverfahrens gewesen – die Annahme eines anderen Angebots erlaubt hätte. Dies ist – so die VK Sachsen-Anhalt in ihrem Beschluss vom 16.01.2013 (2 VK LSA 40/12) – insbesondere auch dann der Fall, wenn der Vertrag erheblich verlängert werden soll und die Verlängerung nicht bereits im ursprünglichen Vertrag durch ein einseitiges Optionsrecht des Auftraggebers berücksichtigt wurde.

Der Sachverhalt

Der öffentliche Auftraggeber erteilte nach erfolgter öffentlicher Ausschreibung einem Bieter einen Auftrag über den Bau und Betrieb einer Energieumwandlungsanlage nebst Wärme-und Stromlieferung. Die Laufzeit des Vertrages sollte zum 30.06.2017 enden. Den Vertragsparteien wurde in dem Vertrag jedoch die Möglichkeit eingeräumt, die Laufzeit „im beiderseitigen Einvernehmen“ zu verlängern – ohne dass dabei ein konkreter Verlängerungszeitraum genannt wurde. Im Jahr 2012 verständigten sich die Vertragsparteien, ohne Durchführung eines vergaberechtlichen Verfahrens, auf eine Abänderung des Vertrages in mehreren Punkten; unter anderem wurde eine Laufzeit des Vertrages bis zum 31.08.2027 vereinbart.

Ein Wettbewerber, der sich bei dem öffentlichen Auftraggeber vergeblich um den Erhalt eines Auftrages zur Wärmelieferung beworben hatte, ging gegen diese Vertragsänderung im Wege eines Nachprüfungsverfahrens vor der VK Sachsen-Anhalt vor.

Die Entscheidung

Der Nachprüfungsantrag war erfolgreich. Die VK Sachsen-Anhalt kam zu dem Ergebnis, dass die Vertragsänderung eine unzulässige de-facto Vergabe darstellt und daher gemäß § 101b Abs. 1 Nr. 2 GWB unwirksam ist. Die angefochtene Vertragsänderung war so wesentlich, dass sie eine Neuvergabe des Auftrages darstellte und somit ihrerseits in einem förmlichen Ausschreibungsverfahren hätte vergeben werden müssen. Dabei stellt die Vertragsverlängerung allein bereits eine derartige wesentliche Vertragsänderung dar: Wäre der Auftrag schon im ursprünglichen Verfahren mit einer 10 Jahre längeren Laufzeit ausgeschrieben worden, hätte dies die preisliche Kalkulation der Wettbewerbsangebote so wesentlich beeinflusst, dass es die Annahme eines anderen als des ursprünglich bezuschlagten Angebotes erlaubt hätte. Unter diesen Voraussetzungen ist von einer ausschreibungspflichtigen Neuvergabe auszugehen. Auf eine Überprüfung der weiteren Modifikationen des Vertrages kam es damit nach Auffassung der VK Sachsen-Anhalt gar nicht mehr an.

Die Vertragsänderung war auch nicht durch die im ursprünglichen Vertrag vorgesehene Regelung zur einvernehmlichen Vertragsverlängerung legitimiert. Zunächst war diese Verlängerung zeitlich unbestimmt und daher nicht geeignet, als konkreter Vertragsbestandteil dem Wettbewerb unterzogen zu werden. Darüber hinaus konnte eine Vertragsverlängerung nur durch eine weitere beiderseitige Einigung von Auftraggeber und Auftragnehmer erreicht werden. Nur wenn eine Verlängerungsoption einseitig durch den Auftraggeber aktiviert werden kann, ist sie vom ursprünglich durchgeführten Ausschreibungsverfahren mit umfasst.

Deutsches Vergabenetzwerk [1]Praxishinweis

Zur Begründung ihrer Rechtsauffassung verweist die VK Sachsen-Anhalt in ihrem Beschluss auf die Entscheidung des EuGH vom 19.06.2008 (Rs C-454/06 v. 19.06.2008). In dieser Entscheidung hat der EuGH grundlegende Kriterien aufgestellt, die bei der Bestimmung, ob eine beabsichtigte Vertragsänderung zu einer erneuten Ausschreibungspflicht des Auftrages führt, zu beachten sind. Demzufolge sind Vertragsänderungen während einer Vertragslaufzeit als Neuvergabe anzusehen, wenn sie wesentlich andere Merkmale aufweisen als der ursprüngliche Auftrag. Dies wiederum ist der Fall, wenn die Vertragsänderung:

– Bedingungen einführt, die die Zulassung anderer als der ursprünglichen Bieter oder die Annahme eines anderen als des ursprünglich angenommenen Angebotes erlaubt hätten, wenn sie Gegenstand des ursprünglichen Vergabeverfahrens gewesen wären;

– den Auftrag in größerem Umfang auf ursprünglich nicht vorgesehene Dienstleistungen erweitert oder

– das wirtschaftliche Gleichgewicht des Vertrages in einer im ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehenen Weise zugunsten des Auftragnehmers ändert.

Wiehler_JulieDie Autorin Julie Wiehler, LL.M., ist bei der Bitkom Servicegesellschaft mbH für den Bereich der Öffentlichen Ausschreibungen/Vergaberecht („Bitkom Consult“) [2] zuständig. Sie ist zudem Partnerin der Kanzlei Frhr. v.d. Bussche Lehnert Niemann Wiehler und berät und unterstützt Unternehmen der ITK-Branche sowie die öffentliche Hand bei öffentlichen Ausschreibungen. Mehr Informationen finden Sie im Autorenverzeichnis [3].

dvnwlogoThema im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) diskutieren [4].

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Über Julie Wiehler, LL.M. [5]

Die Autorin Julie Wiehler, LL.M., ist Rechtsanwältin und Partnerin der Kanzlei Frhr. v.d. Bussche Lehnert Niemann Wiehler Rechtsanwälte & Notare [6]. Sie berät und unterstützt Unternehmen und die öffentliche Hand bei öffentlichen Ausschreibungen sowie bei vergaberechtlichen Fragen in öffentlich geförderten Projekten.

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