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„Sozialwohnungsquoten“ und öffentlicher Auftrag – zum Urteil des EuGH vom 08.05.2013 – Rs. C-197/11 und C-203/11

EU-RechtAngesichts knappen Wohnraums und explodierender Mieten wird derzeit in vielen deutschen Städten über Sozialwohnungsquoten zwischen 15 % und 30 % bei Neubauvorhaben diskutiert. Die Modelle variieren dabei im Einzelnen stark. Gemeinsam ist Ihnen jedoch, dass privaten Investoren im Gegenzug für die Schaffung neuer oder erweiterter Baurechte die Pflicht zum Bau oder zur Finanzierung eines bestimmten Anteils an Wohnungen für einkommensschwache Bevölkerungsschichten auferlegt werden soll. Dass dieses Thema kein spezifisch deutsches ist, zeigt eine Entscheidung des EuGH vom Mai diesen Jahres, die hier bislang v.a. unter der Überschrift „Einheimischen-Modell“ rezipiert wurde. Neben den zweifellos wichtigen Klarstellungen zu den europarechtlichen Grenzen solcher Modelle zur Bevorzugung einheimischer Eigenheimbauer, enthält das Urteil aber auch interessante Ausführungen zu der Frage, wann Auflagen zu sozialem Wohnungsbau zur Annahme eines öffentlichen Bauauftrags führen:

Der Fall: Flämische „soziale Auflagen“

Gegenstand des EuGH-Urteils vom 08.05.2013 war ein belgisches Dekret aus dem Jahr 2009 über die Grundstücks- und Immobilienpolitik der Flämischen Region. Dieses Dekret enthält u.a. Regelungen über Maßnahmen zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Teil dieser Maßnahmen sind die sog. „sozialen Auflagen“. Das Dekret regelt, dass unter bestimmten Voraussetzungen Baugenehmigungen zwingend und von Rechts wegen mit Auflagen zur Realisierung eines bestimmten Prozentsatzes an Sozialwohnungen verbunden werden müssen. Diese Sozialwohnungen müssen dann zu vorgegebenen und gedeckelten Preisen, die unterhalb der Marktpreise liegen, entweder an eine Einrichtung des sozialen Wohnungsbaus oder aber durch eine solche Einrichtung an einkommensschwache Bürger verkauft werden.

Unklarheiten bestanden in dem entschiedenen Fall darüber, ob sich die Pflicht zur Errichtung von Sozialwohnungen allein aus dem Gesetz ergab oder ob sie auch Gegenstand eines schriftlichen Vertrags zwischen öffentlicher Hand und Investor war. Die Annahme einer vertraglichen Beziehung zwischen öffentlichem Auftraggeber und Unternehmer ist eine Grundvoraussetzung für die Annahme eines öffentlichen Bauauftrags. Da dieser Punkt im Verfahren vor dem EuGH nicht abschließend geklärt wurde, begnügte sich der Europäische Gerichtshof damit, dem nationalen Gericht einige Hinweise zu der – im Falle der Annahme eines schriftlichen Vertrags – zu treffenden Entscheidung zu geben:

Öffentlicher Auftrag auch bei vorbestimmtem Vertragspartner

Zunächst verweist das Gericht unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 12. Juli 2001 (Teatro alla Bicocca) darauf, dass allein der Umstand, dass die Errichtung von Sozialwohnungen unmittelbar durch die innerstaatliche Regelung vorgeschrieben wird und der Vertragspartner der Verwaltung notwendigerweise der Eigentümer der Baugrundstücke ist, der Beziehung zwischen der Verwaltung und dem betroffenen Wirtschaftsteilnehmer nicht ihren vertraglichen Charakter nehmen kann. Damit wiederholt der EuGH zwar nur das, was er bereits 2001 entschieden hat. Dennoch ist die Klarstellung von Bedeutung, weil es genau dieser Punkt ist, mit dem man bei vergleichbaren Fallkonstellationen immer wieder konfrontiert wird: Welchen Sinn soll eine Ausschreibung haben, wenn die öffentliche Verwaltung den Vertragspartners nicht frei wählen kann, sondern die Vereinbarungen über soziale Auflagen zwingend mit einem von Gesetzes wegen bestimmten privaten Grundstückseigentümer treffen muss? Die Antwort auf diese Frage hat der EuGH ebenfalls bereits im Jahr 2001 gegeben, indem er annahm, in diesen Fällen könnten die Anforderungen aus der Richtlinie auch dann gewahrt werden, wenn die Ausschreibungspflicht – ähnlich wie bei Baukonzessionen – an den privaten Dritten weitergegeben würde. D.h. auf den vorliegenden Fall gewandt, dass der Investor, der einer sozialen Auflage wie oben beschrieben unterliegt, den Bau dieser Sozialwohnungen europaweit ausschreiben müsste. Wie eine solche Ausschreibung rein praktisch auszusehen hat, wenn – wie häufig – die Sozialwohnungen nicht in einzelnen, klar abtrennbaren Bauteilen, sondern z.B. in einzelnen Geschossen eines Wohngebäudes untergebracht sind, bleibt dabei offen.

Schwellenwertbetrachtung bei sozialen Auflagen

Schließlich weist der EuGH darauf hin, dass der jeweils für Bauaufträge geltende Schwellenwert erreicht sein müsse, um den Anwendungsbereich der Richtlinie zu eröffnen. Eventuell lässt sich hieraus ableiten, dass der EuGH – ebenso wie zuletzt das OLG Schleswig (siehe vergabeblog vom 23.06.2013) – bei Bauprojekten, die teilweise im rein privaten und teilweise im öffentlichen Interesse liegen, für die Schwellenwertbetrachtung allein auf den im öffentlichen Interesse liegenden Bauanteil abstellen will. Angesichts der – wie gewohnt – sehr knappen Ausführungen des Urteils lässt sich auch insoweit jedoch keine verlässliche Aussage treffen.

Abschließend hält der Gerichtshof fest:

„Nach alledem ist [….] zu antworten, dass die Errichtung von Sozialwohnungen, die anschließend mit einer Preisdeckelung an eine öffentliche Einrichtung des sozialen Wohnungsbaus oder im Wege der Substitution des Dienstleistungserbringers, der die Wohnungen verwirklicht hat, durch diese Einrichtung verkauft werden müssen, unter den Begriff des öffentlichen Bauauftrags in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 fällt, wenn die in dieser Bestimmung vorgesehenen Kriterien erfüllt sind, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.“

Auswirkungen auf deutsche Sozialwohnungsquoten

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den vom EuGH entschiedenen und den in Deutschland vorkommenden Fällen von „sozialen Auflagen“ im Wohnungsbau besteht darin, dass es hier an einer dem flämischen Dekret vergleichbaren allgemeinen Rechtsgrundlage fehlt.

Grundsätzlich besteht zwar gem. § 9 Abs. 1 Nr. 7 BauGB die Möglichkeit, über Bebauungspläne Flächen festzulegen, auf denen ganz oder teilweise nur Wohngebäude, die mit Mitteln der sozialen Wohnraumförderung gefördert werden könnten, errichtet werden dürfen. Hieraus folgt jedoch nur die Verpflichtung, Wohnungen zu errichten, die den entsprechenden gebäudebezogenen Fördervoraussetzungen entsprechen. Aus einer bauplanungsrechtlichen Festsetzung gem. § 9 Abs. 1 Nr. 7 BauGB folgt jedoch nicht die Verpflichtung, Fördermittel in Anspruch zu nehmen und sich damit Mietpreis- und Belegungsbindungen zu unterwerfen. Hinzu kommt, dass Wohnraumfördermittel vielfach gar nicht zur Verfügung stehen.

Mietpreisbindungen und ggf. auch Belegungsrechte oder Verkaufsverpflichtungen werden daher über städtebauliche Verträge vereinbart. Damit aber wäre – weitaus eindeutiger als in dem vom EuGH zu beurteilenden flämischen Sachverhalt – in aller Regel von einer vertraglichen Verpflichtung auszugehen.

Dafür wird nicht in jedem Modell, in dem eine Sozialwohnungsquote vereinbart wurde, klar zu belegen sein, dass die öffentliche Hand an diesen Sozialwohnungen ein unmittelbares wirtschaftliches Interesse im Sinne des EuGH-Urteils vom 25.03.2010 (Wildeshausen) hat. In seinem Urteil vom 08.05.2013 musste der EuGH diesen Punkt nicht näher thematisieren, da hier eine Verpflichtung des Investors bestand, einer öffentlichen sozialen Einrichtung Eigentum an den Wohnungen zu verschaffen. In anderen Konstellationen sind Art und Umfang der öffentlichen Beteiligung am Bau sowie an der späteren Einflussnahme auf die Verwendung der Wohnungen jeweils genau zu beleuchten. Dabei lässt sich ganz allgemein sagen, dass mit zunehmendem Maß der Einflussnahme auch die Wahrscheinlichkeit einer Ausschreibungspflicht zunimmt.

Deutsches Vergabenetzwerk [1]Fazit

Das Urteil des EuGH zeigt, dass die vergaberechtliche Debatte um Immobiliengeschäfte der öffentlichen Hand noch lange nicht beendet ist. Insbesondere dann, wenn der Staat versucht, Investoren im Zusammenhang mit der Baurechtsschaffung nicht nur zur Schaffung kostengünstigen Wohnraums zu verpflichten, sondern sich darüber hinaus auch unmittelbaren Zugriff auf diesen Wohnraum – sei es über Eigentums-, Vermarktungs- oder Belegungsrechte – zu verschaffen, ist ein besonderes Augenmerk auf die hieraus u.U. erwachsenden Ausschreibungspflichten zu richten.

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Über Dr. Rut Herten-Koch [2]

Dr. Rut Herten-Koch berät sowohl die öffentliche Hand und ihre Unternehmen als auch private Eigentümer, Investoren, Projektentwickler und Bieter in Vergabeverfahren. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrung in der Begleitung und Gestaltung komplexer Verfahren – sei es im Bauplanungs- oder im Vergaberecht. Darüber hinaus vertritt Rut Herten-Koch ihre Mandanten vor den Vergabenachprüfungsinstanzen und den Verwaltungsgerichten. Seit 2002 ist sie als Rechtsanwältin im Bereich öffentliches Recht und Vergaberecht in Berlin tätig. Rut Herten-Koch ist seit Juli 2015 Partnerin bei Luther [3].

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