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Die Renaissance des „ungewöhnlichen Wagnisses“ (OLG Düsseldorf, 19.06.2013 – VII-Verg 4/13)

ParagraphIm Jahr 2011 entschied das OLG Düsseldorf in einem Grundsatzbeschluss, dass es das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse nach der VOL/A 2009 nicht mehr gibt. Damals ließ der Vergabesenat eine Hintertür für Ausnahmefälle offen. Diese scheint er nun zu nutzen – und verhilft dem ungewöhnlichen Wagnis in neuem Gewand zu einem zweiten Leben.

§§ 97 Abs. 1 GWB, 7 Abs. 1 VOL/A 2009, 8 Abs. 1 EG VOL/A 2009, 7 Nr. 1 Abs. 3 VOB/A 2012, 7 Nr. 1 Abs. 3 EG/VOBA 2012, 7 Nr. 1 Abs. 3 VS VOB/A 2012

Nicht wenige waren überrascht, als der Vergabesenat mit Beschluss vom 19.10.2011 (VII-Verg 54/11, hierzu Vergabeblog vom 08.01.2012) entschied, dass das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse in der VOL/A 2009 ersatzlos weggefallen und damit kein formal zu beachtender Rechtsgrundsatz mehr ist.

Zum einen gilt das Verbot in §§ 7 Nr. 1 Abs. 3 VOB/A und EG/VOBA 2012 sowie nunmehr auch in § 7 Abs. 1 Nr. 3 VS VOB/A 2012 für verteidigungs- und sicherheitsrelevante Bauaufträge fort, wenn es dort unverändert heißt:

„Dem Auftragnehmer darf kein ungewöhnliches Wagnis aufgebürdet werden für Umstände und Ereignisse, auf die er keinen Einfluss hat und deren Auswirkungen auf die Preise und Fristen er im Voraus nicht abschätzen kann.“

Einen Unterschied zur VOB/A mag man nicht recht erkennen, wenngleich gern auf die Vielgestaltigkeit möglicher Liefer- und Dienstleistungen verwiesen wird. Denn unabhängig von der Einordnung des Auftrags als Bau-, Liefer- oder Dienstleistung erfüllt das Verbot ungewöhnlicher Wagnisse als „vergaberechtliche AGB-Kontrolle“ eine wichtige Funktion bei der Begrenzung öffentlicher Nachfragemacht. Gerade wegen der zahlreichen möglichen Fallkonstellationen ist es sinnvoll, da die allgemeinen zivilrechtlichen Schranken der Vertragsfreiheit, insbesondere die §§ 134, 138, 242, 305 ff. BGB, die denkbaren Fälle unterhalb der Rechtswidrigkeitsschwelle nur zum Teil erfassen.

Zum anderen haben sich im Vorfeld der Entscheidung des OLG Düsseldorf mit dem OLG Dresden (02.08.2011, WVerg 0004/11), dem OLG Jena (22.08.2011, 9 Verg 2/11) und der 3. Vergabekammer des Bundes (01.02.2011, VK 3-126/10 und VK-3 135/10), zu sämtlichen Entscheidungen Vergabeblog vom 21.06.2011, mehrere Vergabenachprüfungsinstanzen für eine Fortgeltung des Verbots unter der VOL/A 2009 ausgesprochen. Nichtsdestotrotz hat das OLG Düsseldorf seine Auffassung in mehreren Entscheidungen bekräftigt (07.11.2011, VII-Verg 90/11; 24.11.2011, VII-Verg 62/11; 07.12.2011, VII-Verg 96/11; 18.04.2012, VII-Verg 93/11). Sie darf mittlerweile als gefestigt gelten.

Hintertür „Unzumutbarkeit“

Eine Hintertür ließ jedoch auch das OLG Düsseldorf in allen vorgenannten Beschlüssen offen. Auch wenn einzelne Regelungen nach der VOL/A 2009 kein ungewöhnliches Wagnis mehr darstellen könnten, sei es möglich, dass diese im Einzelfall unzumutbar und aus diesem Grunde vergaberechtswidrig sind. In dem Beschluss vom 07.12.2011 (VII-Verg 96/11) heißt es hierzu:

„Regelungen, die vergaberechtlich nach früherem Recht als Aufbürdung eines ungewöhnlichen Wagnisses zu tadeln waren, lassen sich nach derzeit geltender Rechtslage … allenfalls … unter dem Gesichtspunkt der (Un-) Zumutbarkeit einer für Bieter oder Auftragnehmer kaufmännisch vernünftigen Kalkulation beanstanden.“

Diese Hintertür scheint der Vergabesenat nun zu nutzen. Zwar bezieht er sich nicht ausdrücklich auf „unzumutbare Bedingungen“, sondern nennt sie „unangemessen“ und leitet die Rechtsverstöße aus dem Wettbewerbsgrundsatz nach § 97 Abs. 1 GWB ab. In der Sache handelt es sich letztlich aber um eine Prüfung von Verfahrens- und Vertragsbestimmungen entlang der Frage, welche Risiken auf Bieter abgewälzt werden dürfen und ab wann einem Bieter keine kaufmännischer Vernunft entsprechende Kalkulation mehr möglich ist.

Kurze Ausführungsfrist und Vertragslaufzeit unangemessen

Worum ging es? In dem entschiedenen Fall schrieb der Auftraggeber komplexe Rettungsdienstleistungen aus. Er verlangte unter anderem, dass der spätere Auftragnehmer binnen drei Tagen nach Zuschlagserteilung mit der Auftragsausführung beginnt. Zudem sollte der Vertrag eine Laufzeit von lediglich einem Jahr haben, wobei er bis zu zweimal um je sechs Monate verlängert werden konnte.

Beide Regelungen hält das OLG Düsseldorf für „unangemessen“, weil sie dazu führen, dass Bieter, insbesondere Newcomer und ausländische Unternehmen, von einer Teilnahme an der Ausschreibung abgehalten werden.

Die Forderung, binnen drei Tagen nach Zuschlag mit der Ausführung zu beginnen, führt bei komplexen Leistungen mit längeren Vorlaufzeiten dazu, dass sämtliche Bieter gezwungen sind, bereits während des laufenden Vergabeverfahrens Dispositionen zu treffen und ein Mindestmaß an Leistungsfähigkeit aufbauen zu müssen, wenn sie nicht gleich zu Beginn einer etwaigen Auftragserteilung vertragsbrüchig werden wollen. Den Zuschlag kann aber nur ein Bieter erhalten, so dass alle übrigen Bieter vergebliche Aufwendungen tätigen müssen. Hierzu führt der Vergabesenat aus:

„Weil sich der vom Bieter bis zur Zuschlagserteilung zu erwartende Aufwand auf die zur Angebotserstellung erforderlichen Maßnahmen beschränkt und Aufwendungen zur Vertragserfüllung hiervon nicht erfasst werden, ist ihm nach Zuschlagserteilung ausreichend Zeit einzuräumen, um alle für die Auftragsausführung erforderlichen Vorbereitungshandlungen treffen zu können. Diesen Anforderungen wird die hier bestimmte Frist von drei Tagen in Ansehung des Leistungsprofils der ausgeschriebenen Dienstleistungen nicht gerecht.“

Auch die kurze Laufzeit des Vertrages hält das OLG Düsseldorf für unzulässig, weil sie neue Anbieter diskriminiert. Hierzu heißt es in dem Beschluss weiter:

„Auch die reguläre Vertragsdauer von nur einem Jahr ist zu beanstanden, weil sie neue Anbieter benachteiligt und geeignet ist, sie von einer Teilnahme am Wettbewerb abzuhalten. … Die ausgeschriebenen Dienstleistungen erfordern die Herstellung einer nachhaltig zuverlässigen Infrastruktur, die neben einem logistischen Aufwand mit erheblichen Vorhaltekosten verbunden ist. Für die betriebliche Amortisation zu tätigender Investitionen ist zwar grundsätzlich der Auftragnehmer verantwortlich. Der öffentliche Auftraggeber ist aber verpflichtet, ihm durch die Ausschreibungsbedingungen und die Vertragsgestaltung die Gelegenheit zu geben, betriebswirtschaftlich sinnvoll kalkulieren und eine Amortisation herbeiführen zu können. … Verzichtet ein neuer Bieter hingegen auf eine betriebswirtschaftliche Amortisation in seiner Preiskalkulation … , ist er zwar konkurrenzfähig, nach Ablauf des regulären Vertragsjahres aber auf eine Verwertung seiner zur Auftragsausführung eingesetzten Mittel angewiesen. Er wird damit anders als die bisherigen Auftragnehmer einem erheblichen Preisrisiko ausgesetzt. In dem einen wie dem anderen Fall wird er bei vernünftiger Betrachtung im Zweifel von einer Teilnahme am Wettbewerb absehen.“

Neue Verpackung – alter Inhalt

Wenngleich der Vergabesenat den Wettbewerbsgrundsatz nach § 97 Abs. 1 GWB und den Schutz neuer und ausländischer Anbieter in den Vordergrund rückt, drängen sich Parallelen zwischen dem entschiedenen Fall und früheren Gerichtsentscheidungen im Zusammenhang mit ungewöhnlichen Wagnissen auf. Denn im Kern geht es um die alte Frage, welche Risiken – hier den ungewissen Erhalt des Zuschlags bzw. die Verlängerung des Auftrages über die Mindestvertragslaufzeit hinaus – öffentliche Auftraggeber den Bietern oder Auftragnehmern aufbürden dürfen und ab wann eine nach kaufmännischen Grundsätzen seriöse und belastbare Kalkulation nicht mehr möglich ist, so dass interessierte Unternehmen im Zweifel von einer Teilnahme an Vergabeverfahren absehen.

Fazit

Bieter wird es freuen, denn das OLG Düsseldorf scheint die weitreichende Aufgabe des Verbots ungewöhnlicher Wagnisse nach der VOL/A 2009 mittelbar wieder zu relativieren. Auftraggebern ist dagegen zu raten, in Ausschreibungen keine Bedingungen vorzugeben, die in der Privatwirtschaft nicht durchsetzbar wären. Denn selbst wenn eine ausreichende Beteiligung von Unternehmen gesichert ist, werden diese versucht sein, Risiken einzupreisen, Abstriche bei der Qualität zu machen, sofern diese kein entscheidendes Wertungskriterium ist und entsprechende Mindestanforderungen nicht bestehen oder über Nachträge eine auskömmliche Auftragsausführung zu erreichen. In keinem dieser Fälle dürfte den Interessen von Auftraggebern gedient sein.

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Über Dr. Daniel Soudry, LL.M.

Herr Dr. Daniel Soudry ist Fachanwalt für Vergaberecht und Partner der Sozietät SOUDRY & SOUDRY Rechtsanwälte (Berlin). Herr Soudry berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Ausschreibungen, in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren und im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Darüber hinaus publiziert er regelmäßig in wissenschaftlichen Fachmedien zu vergaberechtlichen Themen und tritt als Referent in Fachseminaren auf.

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