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EuGH entscheidet zur Vergaberechtswidrigkeit von Vergleichsverträgen (EuGH, Urteil v. 14.11.2013, C-221/12)

EU-RechtDas Vergaberecht lauert überall! Schließen ein Gemeindeverband und ein bereits seit 12 Jahren für diesen tätiger Auftragnehmer einen Vergleich ab, um Streitigkeiten über vertragliche Rechte auszuräumen, kann dieser Vorgang dem Vergaberecht unterfallen. Das gilt jedenfalls dann, wenn dem Auftragnehmer mit dem Vergleich mehr Rechte eingeräumt werden, als ihm nach dem Ursprungsvertrag zustanden. Dies hat der EuGH (Urteil vom 14.11.2013, C-221/12) nun auch für streitbeilegende Vergleiche entschieden.

 

Leitsätze

1. Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sind dahin auszulegen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer eines Mitgliedstaats vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats geltend machen kann, dass bei dem Abschluss einer Vereinbarung, mit der eine oder mehrere Körperschaften des öffentlichen Rechts dieses Mitgliedstaats gegen Entgelt u. a. das ausschließliche Recht zur Nutzung von Kabelfernsehnetzen sowie ihre Fernsehdienste und die damit verbundenen Abonnementverträge auf einen Wirtschaftsteilnehmer desselben Mitgliedstaats übertragen, die sich aus diesen Artikeln ergebende Transparenzpflicht verletzt worden ist.

2. Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sind dahin auszulegen, dass der Wille, bestimmte Rechte nicht zu verletzen, die Körperschaften des öffentlichen Rechts einem Wirtschaftsteilnehmer durch eine frühere Vereinbarung über die Nutzung ihrer Kabelnetze eingeräumt haben, eine mit dem Unionsrecht unvereinbare Erweiterung dieser Vereinbarung durch eine unmittelbare Vergabe einer Dienstleistungskonzession oder eines ausschließlichen Rechts auf Ausübung einer Tätigkeit, an der ein sicheres grenzüberschreitendes Interesse besteht, nicht rechtfertigen kann, auch wenn dies zur Beilegung eines Rechtsstreits geschieht, der zwischen den Betroffenen wegen der Tragweite dieser Vereinbarung anhängig ist und auf Gründe zurückzuführen ist, auf die sie überhaupt keinen Einfluss haben; wirtschaftliche Gründe wie etwa der Wille, die Wertminderung einer wirtschaftlichen Tätigkeit zu vermeiden, nicht als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anzusehen sind, die rechtfertigen können, dass eine Dienstleistungskonzession über diese Tätigkeit oder ein ausschließliches Recht zur Ausübung dieser Tätigkeit, an der ein sicheres grenzüberschreitendes Interesse besteht, abweichend von den in diesen Artikeln verankerten Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung unmittelbar vergeben wird.

Sachverhalt

Ein belgischer Gemeindeverband hatte einem Anbieter von Fernsehdienstleistungen im Jahr 1996 bestimmte Nutzungsrechte an seinen Kabelnetzen übertragen (sog. Altvertrag). Außerdem erhielt der Dienstleister bestimmte Vorzugsrechte. Das Recht zur Erbringung von Rundfunkdiensten behielten die Gemeinden jedoch für sich. In der Folgezeit wollten die Gemeinden auch interaktives Digitalfernsehen anbieten. Die ursprüngliche Vereinbarung hielt keine Regelungen für den Fall neuer technologischer Entwicklungen parat, so dass es hierüber zum Streit und schließlich zu einem Vergleichsvertrag kam: Gegen eine erhebliche Kostenübernahme durch den Dienstleister räumten die Gemeinden dem Dienstleister das Recht zur umfassenden Nutzung des Netzes ein, das es ihm ermöglichte, sogenanntes triple play anzubieten, d. h. eine Kombination aus Fernsehen, Telefondiensten und Internet.

Ein Wettbewerber hatte erfolglos Interesse an den Nutzungsrechten bekundet. Der daraufhin entbrannte Rechtsstreit wurde dem EuGH hinsichtlich einer möglichen Verletzung der europäischen Dienstleistungsfreiheit zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Die Entscheidung

Der EuGH ordnete zunächst den Altvertrag als Dienstleistungskonzession ein. Eine Konzession unterscheide sich von einem öffentlichen Auftrag dadurch, dass statt der Zahlung eines Entgelts an den Dienstleister diesem das Recht eingeräumt werde, seine Dienstleistung selbst wirtschaftlich auf eigenes Risiko zu nutzen. Das traf auf den Auftragnehmer im vorliegenden Fall zu, da er seine Fernseh- und sonstigen Dienste auf eigene Rechnung vermarkten konnte.

Zwar unterliegen Dienstleistungskonzessionen nicht dem klassischen Vergaberecht. Ist der Auftrag jedoch für Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten interessant (sog. grenzüberschreitendes Interesse), muss die vergebende Stelle den Vertrag in einem transparenten und diskriminierungsfreien Verfahren vergeben.

Diese Pflichten sah der EuGH hier verletzt und die zur Rechtfertigung angeführten Gründe als nicht durchschlagend an. Der Gemeindeverband hatte sich u.a. auf Vorzugsrechte aus dem Altvertrag berufen, wegen derer kein anderer Vertragspartner in Betracht gekommen sei. Der Grundsatz der Rechtssicherheit kann jedoch laut EuGH den unter Verstoß gegen Transparenz- und Gleichbehandlungsgebot zustande gekommenen Vergleich nicht rechtfertigen, da dieser weit über die ursprünglichen Rechte und Pflichten hinaus erweitert worden sei. Das gelte selbst dann, wenn, wie hier, der Vergleich der Beendigung eines Rechtsstreits diene und insoweit eine vernünftige Lösung darstelle.

Der EuGH ließ ferner den Einwand der Gemeinden nicht gelten, das volle wirtschaftliche Potential der technischen Entwicklungen lasse sich durch die bestehenden vertraglichen Regelungen nicht ausschöpfen. Denn nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können wirtschaftliche Gründe grundsätzlich keine Einschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen.

Rechtliche Würdigung

Es ist langfristigen Verträgen immanent, dass sie von technologischen Entwicklungen eingeholt werden können. Im Bereich öffentlicher Aufträge lassen sich diese Entwicklungen nicht ohne weiteres durch Vertragsanpassungen umsetzen. Das gilt nun ausdrücklich auch für Vergleichsverträge, die zur Beendigung eines Rechtsstreits abgeschlossen werden. Insofern setzt der EuGH seine Rechtsprechungslinie zur Ausschreibungspflicht von nachträglichen Vertragsanpassungen konsequent fort (vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 19.06.2008, C-454/06, Pressetext).

Die Entscheidung des EuGH lässt den betroffenen Gemeinden nicht viel Spielraum. Der EuGH sagt eigentlich nichts anderes, als dass der bestehende Vertrag trotz der technischen Entwicklungsmöglichkeiten nicht (wesentlich) geändert werden darf. Damit werden den Bewohnern in dem betroffenen Netzgebiet erst einmal die Wunder des triple play verwehrt. Den Gemeinden bleibt wohl nur übrig, den Vergleichsvertrag zu kündigen und die entsprechenden Nutzungsrechte in einem transparenten Verfahren zu vergeben.

Deutsches Vergabenetzwerk [1]Praxistipp

Die Entscheidung des EuGH bezog sich zwar auf eine Dienstleistungskonzession. Sie ist jedoch erst recht auf das Vergaberecht übertragbar. Auftraggeber sollten daher bei anstehenden Vertragsanpassungen genau prüfen, ob die Änderungen wesentlich und eventuell im Wettbewerb zu vergeben sind.

Leider ist der EuGH in der vorliegenden Entscheidung nicht darauf eingegangen, wo die Grenze für einen noch zulässigen Vergleichsabschluss gelegen hätte. Hier können öffentliche Auftraggeber auf die in der Pressetext-Entscheidung entwickelten Grundsätze zurückgreifen, wonach eine Vertragsänderung die Ausschreibungspflicht des neuen Teils oder ggf. des gesamten Vertrages begründet, wenn die Änderung wesentlich andere Merkmale aufweist als der ursprüngliche Auftrag und damit aus Sicht des Wettbewerbs ein neuer Vertrag geschlossen wird. Das kann der Fall sein, wenn sich bei den geänderten Bedingungen ein anderer Bieterkreis ergeben würde, das wirtschaftliche Gleichgewicht zu Gunsten des Auftragnehmers verschoben wird oder aber wie hier die Leistung in großem Umfang auf ursprünglich nicht vereinbarte Leistungen erweitert wird (vgl. hierzu Greb/Stenzel, Die nachträgliche Vertragsanpassung als vergaberechtsrelevanter Vorgang, NZBau 2012, 404).

Als Faustregel gilt: handelt es sich bei der Vertragsanpassung um einen Umstand, der für die Wettbewerber völlig uninteressant ist, dürfte eine unwesentliche und damit zulässige Änderung vorliegen. Werden hingegen neue Rechte und Pflichten verteilt, die bisher nicht dem Wettbewerb unterlagen, ist von einer Ausschreibungspflicht auszugehen. Die häufigsten Fälle dürften Änderungen des Preises, der Leistung, der Vertragslaufzeit oder des Vertragspartners (oder Nachunternehmers) betreffen. Um später notwendige Neuvergaben wegen wesentlicher Vertragsänderungen zu vermeiden, sollten öffentliche Auftraggeber ihren Beschaffungsbedarf so detailliert wie möglich antizipieren und gegebenenfalls Optionen (z. B. Verlängerungsoptionen) vereinbaren.

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Über Sonja Stenzel [2]

Die Autorin Sonja Stenzel ist Rechtsanwältin in Berlin und bei der BG Kliniken - Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung gGmbH tätig.

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