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Auch Nachträge über zusätzliche Leistungen können ausschreibungspflichtig sein! (VK Bund, Beschl. v. 07.07.2014 – VK 2-47/14)

EntscheidungDie Missachtung des Vergaberechts bei der Beauftragung von Nachträgen kann zur Unwirksamkeit der Nachtragsvereinbarung führen.

Großprojekte werden oftmals dadurch bekannt, dass es zu erheblichen Kostensteigerungen kommt. Die Öffentlichkeit diskutiert dann die Frage nach dem warum und der politischen Verantwortung. Der Baupraktiker weiß, dass dies an anfänglich bewusst zu niedrig geschätzten Kosten liegt, aber auch durch baubegleitende Planung und Änderungen verursacht wird.

Und dass von derartigen Kostensteigerungen nicht nur in der Öffentlichkeit wahrgenommene Prestigeprojekte betroffen sind, sondern dass dieses auch häufig bei anderen, den Geboten der Bestimmtheit und Eindeutigkeit der Leistungsbeschreibung unterfallenden vergaberechtspflichtigen Bauvorhaben gilt.

 

Der Vergabepraktiker weiß, dass derartige Kostensteigerungen nicht nur auf Bauvorhaben beschränkt sind, sondern auch bei den damit zusammenhängenden VOF-Verfahren oder sogar VOL-Verfahren vorkommen und wunderte sich, wie dies mit dem vergaberechtlichen Vorschriften in Einklang zu bringen ist. Eine Antwort hierauf hat nun die Vergabekammer des Bundes gegeben. Manchmal gar nicht lautet sie und erinnert damit an eine fast vergessene Vorschrift im Vergaberecht.

GWB § 101b Abs. 1 Nr. 2; VOB/A 2012 § 3 EG Abs. 5 Satz 1 Nr. 5

Leitsatz

Die Direktvergabe zusätzlicher Leistungen führt zu einer unwirksamen Nachtragsvereinbarung, wenn nicht die Voraussetzungen der eng auszulegenden vergaberechtlichen Ausnahmevorschrift bejaht werden können. Weder eine eindeutige Gewährleistungssituation, noch nachteilige wirtschaftliche Folgen aufgrund von Mehrkostenansprüchen wegen Bauzeitverlängerung rechtfertigen eine Direktvergabe.

Sachverhalt

Im Rahmen einer Bauwerkssanierung vergibt der öffentliche Auftraggeber Aufträge für die Tieferlegung des Gebäudes sowie für Sicherungsmaßnahmen/konstruktiven Abbruch an zwei unterschiedliche Auftragnehmer. Bei der Tieferlegung des Gebäudes entstehen Setzungsrisse; der mit diesen Arbeiten beauftragte Auftragnehmer stellt seine Leistung ein, da er Gefahren für Leib und Leben befürchtet. Nachdem er seine Leistung nicht wieder aufnimmt, wird sein Vertrag vom Auftraggeber gekündigt. Es kommt zu einer Umplanung, die statt der Tieferlegung einen Abriss und einen anschließenden denkmalgerechten Wiederaufbau vorsieht. Diese Leistung wird im Wege eines Nachtrags an den ursprünglich mit Sicherungsmaßnahmen/konstruktiven Abbruch beauftragten zweiten Auftragnehmer vergeben. Der Auftraggeber beruft sich darauf, dass diese Arbeiten aus technischen und wirtschaftlichen Gründen nicht ohne Nachteil von der bereits vergebenen Leistung getrennt werden können. Wegen räumlicher und inhaltlicher Überschneidungen entstünden bei der Vergabe an unterschiedliche Auftragnehmer unklare Verantwortlichkeiten. Darüber hinaus sei die Vergabe dringlich. Auch sei der Wertanteil der zusätzlichen Leistungen deutlich geringer als die Hälfte des Ursprungsauftrages.

Hiergegen richtet sich der Nachprüfungsantrag des gekündigten Auftragnehmers, der die Feststellung der Unwirksamkeit des zwischen Auftraggeber und dem Abbruchunternehmer geschlossenen Nachtrages beantragt.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer verpflichtet den Auftraggeber zunächst, die Ausführung der mit dem Nachtrag beauftragten Arbeiten bis zur Hauptsache Entscheidung über die Vergabekammer zu unterbinden.

Im Hauptsacheverfahren stellt die Vergabekammer fest, dass die vom Auftraggeber behauptete fehlende Eignung des Auftragnehmers bei den auszuführenden Spezialabbrucharbeiten der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrages nicht entgegensteht. Ein Unternehmen kann sich im Wege der Eignungsleihe gegebenenfalls zu 100 % der Fähigkeit von Nachunternehmern bedienen. Der Antragsteller hat sein grundsätzliches Interesse an der Durchführung des Auftrags durch Rüge und Stellung des Nachprüfungsantrages ausreichend dokumentiert.

Die Vergabekammer betont im Hauptsacheverfahren, dass es sich bei § 3 EG Abs. 5 S. 1 Nr. 5 VOB/A um eine Ausnahmevorschrift handelt, die eng am Wortlaut auszulegen ist und dass eine exzessive Auslegung nicht in Betracht kommt. Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen sieht die Vergabekammer bei dem Auftraggeber. Für die Zulässigkeit der Direktvergabe spricht, dass die Nachtragsleistung im ursprünglichen Auftrag nicht enthalten war und die Nachtragsleistung weniger als 50 % des Wertes der Ursprungsleistung darstellt. Zweifelhaft erscheint der Vergabekammer aber bereits, ob in Bezug auf die mit dem Abbruchunternehmer ursprünglich vereinbarten Leistungen überhaupt ein unvorhergesehenes Ereignis vorliegt. Denn die originär beauftragten Leistungen können und werden von dem Abbruchunternehmer uneingeschränkt ausgeführt. Erst aufgrund der aus Kosten- und Qualitätsvorteilen erfolgten Umplanung wurden über den Hauptauftrag hinaus weitere konstruktive Abbrucharbeiten und Sicherungsmaßnahmen erforderlich. Diese Entscheidung war jedoch nicht unvorhergesehen, sondern gewollt. Eine derartige Bedarfsänderung rechtfertigt nicht die Anwendung der Ausnahmevorschrift.

Jedenfalls sind die im Nachtrag beauftragten Leistungen keine Voraussetzung für die Durchführung der im Hauptauftrag enthaltenen Arbeiten. Denn die aufgrund der Planänderung erforderlichen Nachtragsleistungen ergänzen die nach wie vor erforderlichen und möglichen Arbeiten aus dem Hauptauftrag. Die Schwierigkeit, die Nachtragsleistungen von der Hauptauftragsleistung zu trennen ist im Rahmen der Erforderlichkeit unbeachtlich. Denn das Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit bezieht sich auf die Hauptauftragsleistung.

Auch handelt es sich nicht um untrennbare Leistungen im Sinne des Ausnahmetatbestandes. Die vom Auftraggeber gewünschte eindeutige Gewährleistungssituation ist nicht geeignet, eine wirtschaftliche Unteilbarkeit der Leistungen zu begründen. Vordergründig plausible Gründe, wie zum Beispiel die Entlastung des Auftraggebers von zusätzlichen Koordinierungsmaßnahmen oder die Möglichkeit der einfachen Durchsetzung von Gewährleistungsansprüchen bei Beauftragung nur eines Auftragnehmers, sind eine Folge des Losbildungsgebotes und damit grundsätzlich hinzunehmen. Was für den Normalfall der Losbildung hinzunehmen ist, kann nicht die Anwendbarkeit eines eng auszulegenden Ausnahmetatbestandes rechtfertigen. Hätte sich der Auftraggeber anstelle der Planänderung für Maßnahmen zum Ausgleich der entstandenen Setzungen entschieden, bestünden auch zwei voneinander unabhängige Vertragsverhältnisse. Es ist nicht Sinn und Zweck des Ausnahmetatbestandes, bei veränderter Planung eine nachträgliche Gesamtvergabe zu ermöglichen.

Auch auf die von dem Ausnahmetatbestand geforderte Dringlichkeit kann sich der Auftraggeber nicht berufen. Eine Dringlichkeit liegt nur dann vor, wenn eine gravierende Beeinträchtigung für die Allgemeinheit und die staatliche Aufgabenerfüllung droht, mithin ein hohes Rechtsgut betroffen ist und dass unvorhergesehene Ereignisse nicht durch Fristverkürzungen im Vergabeverfahren kompensiert werden kann. Eine Dringlichkeit liegt nicht vor, wenn allein haushaltsrechtliche und wirtschaftliche Belange durch die zu vergebene Leistung geschützt werden sollen.

Rechtliche Würdigung

Soweit ersichtlich ist dies die erste veröffentlichte Entscheidung, die sich mit dem Ausnahmetatbestand der Direktvergabe bei zusätzlichen Leistungen beschäftigt. Inhaltlich ist die Entscheidung zutreffend. Die Wortwahl der Vergabekammer zeigt deutlich, dass sie für die Argumentation des Auftraggebers auch wenn sie in der Praxis oft beobachtet wird keinerlei Verständnis hat. Die Nichtigkeit der zwischen dem Auftraggeber und dem Abbruchunternehmer geschlossenen Nachtragsvereinbarung ist die vom Gesetz vorgesehene Rechtsfolge.

Die Vergabekammer irrt allerdings bei der Aussage, dass dieser Ausnahmetatbestand in der Richtlinie 2014/24/EU nicht mehr enthalten ist. Der entsprechende Ausnahmetatbestand findet sich nunmehr in Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU, so dass auch nach 2016 die Beauftragung von Nachträgen im Wege der Direktvergabe vergaberechtspflichtig sein kann.

Praxistipp

Mit der Erkenntnis, dass auch Nachträge vergaberechtpflichtig sein können, eröffnen sich Probleme, die von der Rechtsprechung bislang noch nicht und in der Literatur nur von wenigen Autoren ansatzweise diskutiert worden sind.

In der aktuellen Entscheidung ging es um zusätzliche Leistungen. Dass die aktuelle Norm und auch Art. 72 der Richtlinie 2014/24/EU diese Bezeichnung verwenden heißt aber nicht, dass das Europarecht (und das ihm folgende nationale Recht) auf die unter Baujuristen umstrittene und im Einzelfall schwierige Abgrenzung von geänderten und zusätzlichen Leistungen (§ 1 Abs. 3, Abs. 4 VOB/B) abstellt. Bekanntlich können auch geänderte Leistungen zu erheblichen Mehrkosten führen, die zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer im Wege von Nachträgen vereinbart werden. In der vorliegenden Entscheidung hat das Nachtragsvolumen keine Rolle gespielt, weil es vom Wert her weniger als 50 % des Hauptauftrages ausmachte. Völlig offen ist, wie der in der Praxis häufig zu beobachtende Fall, dass mehrere einzelne Nachträge, bestehend sowohl aus geänderten als auch aus zusätzlichen Leistungen, angemeldet/vereinbart werden, die nicht einzelnen, in ihrer Summe dann aber doch mehr als 50 % des Wertes des Hauptauftrages ausmachen. Die VOB/B geht zwar davon aus, dass eine Nachtragsvereinbarung vor der Ausführung getroffen werden soll (§ 2 Abs. 5, Abs. 6 VOB/B). Dies ist in der Praxis jedoch nicht der Normalfall. Und wegen der Gefahr von Bauverzögerungen vom Auftraggeber auch nicht gewollt. Vielfach werden Nachträge noch im Zuge der Schlussrechnung verhandelt und vereinbart. Wenn vom Auftragnehmer bereits ausgeführte Nachträge aus vergaberechtlichen Gründen nicht rechtswirksam vereinbart werden können oder eine schon getroffene Vereinbarung unwirksam ist, gibt es weder für Auftraggeber noch für Auftragnehmer Rechtssicherheit. Die Bezahlung der Bauleistung wird dann zum ungewöhnlichen Wagnis.

Diese Entscheidung sollte aber über Bauverträge hinaus ein Problembewusstsein wecken. Denn auch bei Lieferungen und Leistungen existieren vergleichbare, wenn nicht sogar strengere Vorschriften über die Zulässigkeit von Nachbestellungen, geänderten, zusätzlichen und dringlichen Bestellungen (§ 3 EG Abs. 4 VOL/A). Selbst dort, wo eine derartige Ausnahmevorschrift nicht besteht (VOF/Sektorenverordnung) bedeutet dies nicht, dass Direktvergaben von Nachtragsleistungen uneingeschränkt zulässig sind. Hier wird man die Grenze der zulässigen Nachtragsvereinbarung wie beim Verhandlungsverfahren aus der rechtlichen Notwendigkeit der Beibehaltung der Identität des Beschaffungsgegenstandes ableiten müssen. Diese Grenze kann im Einzelfall schon dann erreicht sein, wenn der Wert des Nachtrages weniger als 50 % des Hauptauftrages beträgt.

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Über Oliver Weihrauch [1]

Oliver Weihrauch arbeitet seit 1995 als Rechtsanwalt, Referent und Autor im Bereich des Vergaberechts. Als of counsel in der Sozietät caspers mock Anwälte [2] berät und vertritt er von Bonn aus bundesweit Auftraggeber und Bieter in Vergabeverfahren und Nachprüfungsverfahren. Im Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW) [3] ist er im Vorstand der Regionalgruppe Köln|Bonn|Koblenz.

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