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Vergaberecht Polen: Neue Chancen für deutsche Bieter durch Novellierung des Vergabegesetzes?

Der Markt der öffentlichen Aufträge hat sich in den vergangenen Jahren zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor innerhalb der Europäischen Union entwickelt. Für Unternehmen vieler Branchen stellt dieser Markt aufgrund der von der öffentlichen Hand in Milliardenhöhe nachgefragten Liefer-, Dienstleistungs- und Bauaufträge ein interessantes Geschäftsfeld dar. Die Beteiligung an Ausschreibungen anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union erweitert die Möglichkeiten, lukrative Aufträge für das eigene Unternehmen zu akquirieren. Polen bietet nicht zuletzt aufgrund der Größe seines Binnenmarktes in besonderer Weise Geschäftschancen für Unternehmen aus Deutschland.

Der Preis als alleiniges Zuschlagskriterium

Ein nicht zu unterschätzendes Problem bestand in der Vergangenheit für deutsche Bieter darin, dass öffentliche Auftraggeber in Polen sehr häufig den Preis als einziges Zuschlagskriterium für die Auswahl des günstigsten Angebots festlegten. Dies führte häufig dazu, dass in bestimmten Branchen einheimische Bieter den Zuschlag erhielten, die aufgrund geringerer Kosten billigere Angebote als die deutschen Mitbewerber abgeben konnten.

In den vergangenen Jahren lag der Anteil der Verfahren unterhalb der EU-Schwellenwerte, in denen der Preis das einzige Auswahlkriterium war, bei über 90%; oberhalb der EU-Schwellenwerte stieg der Anteil von 76% im Jahr 2012 auf 85% im Jahr 2013 (Polnisches Vergabeamt, Bericht über das Funktionieren des Systems der öffentlichen Auftragsvergabe im Jahr 2013, Warschau 2014).

Jetzt könnte der Eindruck aufkommen, als ob das polnische Vergaberecht den öffentlichen Auftraggebern in der Vergangenheit die Berücksichtigung von weiteren Zuschlagskriterien erschwert hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. Das Vergabegesetz sah in seiner bis zum In-Kraft-Treten der jüngsten Novellierung in diesem Jahr geltenden Fassung bereits vor, dass der öffentliche Auftraggeber das günstigste Angebot auf der Grundlage der Zuschlagskriterien auswählt, die in den Verdingungsunterlagen beschrieben sind (Art. 91 Abs. 1 Vergabegesetz). Die Zuschlagskriterien sind der Preis oder der Preis und andere Kriterien, die sich auf den Ausschreibungsgegenstand beziehen, insbesondere Qualität, Funktionalität, technische Parameter, die Verwendung der besten verfügbaren Technologien aus dem Bereich des Umweltschutzes, Instandhaltungskosten, Wartungsservice sowie die Frist für die Ausführung des Auftrages (Art. 91 Abs. 2 Vergabegesetz). Das bedeutet, dass öffentliche Auftraggeber bereits die vergaberechtliche Grundlage hatten, um auch andere Kriterien als den Preis festzulegen.

Bleibt die Frage, warum die Heranziehung von anderen Zuschlagskriterien bisher die Ausnahme blieb. Zum einen stellt die Festsetzung des Preises als einziges Kriterium die einfachste Möglichkeit für die Auswahl des „günstigsten“ Angebotes dar – nicht zuletzt deshalb, weil gerade hier die entsprechende Auswahl schnell und leicht begründet werden kann. Dabei weiß natürlich nahezu jeder öffentliche Auftraggeber, dass der niedrigste Preis im Vergabeverfahren nicht automatisch das ökonomisch günstigste Angebot sein muss. Zum anderen war die Verwendung des Preises als einziges Zuschlagskriterium bisher für öffentliche Auftraggeber in Polen auch die sicherste Methode bei der Gestaltung von Vergabeverfahren. Auf diese Weise konnten die Verantwortlichen auf der Seite des öffentlichen Auftraggebers möglichen Vorwürfen wie die Verschwendung von öffentlichen Mitteln oder sogar Korruptionsverdächtigungen am besten vorbeugen. Wiederholt sahen sich Mitglieder von Vergabekommissionen der Kritik der nicht wirtschaftlichen Ausgabe von öffentlichen Geldern von Seiten der Kontrollbehörden (u. a. der Regionalen Rechnungskammern) ausgesetzt, weil neben dem Preis auch andere Kriterien berücksichtigt wurden.

Eine Mut machende Novellierung des Vergabegesetzes

Die Politik hat dieses seit langem bestehende Problem im vergangenen Jahr aufgenommen und einen ersten (und erheblichen) Schritt zur Lösung unternommen. Am 19. Oktober 2014 trat eine Novelle des polnischen Vergabegesetzes in Kraft, die sich unter anderem mit der Frage der Zuschlagskriterien befasst.

In den – nach dem oben genannten Datum – eingeleiteten Verfahren über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags darf der Preis als alleiniges Kriterium für die Auswahl des günstigsten Angebotes nur dann verwendet werden, wenn der Ausschreibungsgegenstand allgemein zugänglich ist und über festgelegte Qualitätsmerkmale verfügt. Darüber hinaus sind die dem Sektor der öffentlichen Finanzen zugehörenden Auftraggeber zusätzlich verpflichtet, im Verfahrensprotokoll zu begründen, auf welche Weise bei der Beschreibung des Ausschreibungsgegenstands die Kosten berücksichtigt wurden, die der Auftraggeber während der Zeit der Benutzung des Ausschreibungsgegenstands zu tragen hat (Art. 91 Abs. 2a Vergabegesetz). Mit anderen Worten soll der Auftraggeber angehalten werden, auch die nach der Anschaffung des Auftragsgegenstands entstehenden Kosten wie Service-, Schulungs- oder Reparaturkosten in die Kalkulation des Vergabeverfahrens einfließen zu lassen.

Das polnische Vergabegesetz enthält jedoch keine Definitionen der oben genannten Begriffe der „allgemeinen Zugänglichkeit“ sowie der „festgelegten Qualitätsmerkmale“.

Die Landesvergabekammer in Warschau vertritt die Auffassung, dass Waren und Dienstleistungen nur dann „allgemein zugänglich“ sind, wenn sie den laufenden, sich wiederholenden Bedarf einer breiten Masse von Abnehmern befriedigen. Auf die Anzahl der die Waren oder die Dienstleistungen auf dem Markt anbietenden Unternehmen oder Gewerbetreibenden soll es dabei nicht ankommen. Die in diesem Zusammenhang zu beachtenden „Qualitätsmerkmale“ werden nicht durch den öffentlichen Auftraggeber festgelegt. Es handele sich hier vielmehr um Qualitätsstandards, die auf dem jeweiligen Markt bereits vorgegeben sind (Urteil der Landesvergabekammer vom 09. April 2014, Az.: KIO/KD 26/14).

Typische Waren oder Dienstleistungen, die von den beiden besprochenen Begriffen erfasst werden, zeichnen sich darüber hinaus durch eine geringe Kompliziertheit sowie die Vergleichbarkeit allgemein anerkannter Parameter aus, wie z. B. Büromöbel, Büromaterial, Lebensmittel, Kohle oder auch Benzin oder Dieselkraftstoff (Urteil der Landesvergabekammer vom 28. August 2013, Az.: KIO/KD 77/13).

Somit darf der Preis als alleiniges Zuschlagskriterium nur dann verwendet werden, wenn der öffentliche Auftraggeber beabsichtigt, einfache und typisierte Waren oder Dienstleistungen des täglichen Bedarfs einzukaufen.

Der Gesetzgeber hat es jedoch versäumt, im Vergabegesetz festzulegen, welche Wertigkeit ein zweites Zuschlagskriterium neben dem Preis haben muss. Deshalb können öffentliche Auftraggeber die Voraussetzung eines zweiten Merkmals sehr leicht dadurch erfüllen, dass sie für das weitere Kriterium eine Wertigkeit von 1% oder 2% in den Verdingungsunterlagen angeben.

Die Politik ist hier gefordert, den zweiten Schritt zu gehen und die Möglichkeit der Umgehung der gesetzlichen Anforderungen für die Anwendung des Preises als einzigem Zuschlagskriterium durch die öffentlichen Auftraggeber so schnell wie möglich abzuschaffen. Nur so kann dauerhaft auf eine Abkehr von der weit verbreiteten Handlungsgrundlage öffentlicher Auftraggeber in Polen hingewirkt werden, dass nur derjenige am wirtschaftlichsten denkt, der am billigsten einkauft.

DVNW_Mitglied [1]

Neue Chancen für deutsche Bieter

Die Möglichkeit der (fast) unbegrenzten Anwendbarkeit des Preises als alleinigem Zuschlagskriterium führte in der Vergangenheit häufig dazu, dass deutsche Bieter in bestimmten Branchen aufgrund des Kostenvorteils einheimischer Unternehmer nur selten zum Zuge kamen. Das betraf auch Vergabeverfahren, in denen öffentliche Auftraggeber ein zweites Kriterium für die Angebotsauswahl nur deshalb nicht berücksichtigt haben, weil sie keine Probleme mit Kontrollbehörden wie der Regionalen Rechnungskammer oder dem Antikorruptionsbüro heraufbeschwören wollten.

Diese Auftraggeber haben seit dem In-Kraft-Treten der letzten Vergaberechtsnovelle am 19. Oktober 2014 mehr Sicherheit, neben dem Preis die Kriterien festlegen zu können, die ihnen den Einkauf eines Auftragsgegenstandes oder einer Dienstleistung garantiert, die auch z. B. unter technischen und qualitätsmäßigen Gesichtspunkten ihre tatsächlichen Bedürfnisse besser befriedigt.

In dieser Situation können gerade auch deutsche Bieter vermehrt ihre qualitativ hochwertigen Produkte und Dienstleistungen vor der Einleitung eines Ausschreibungsverfahrens bei in Frage kommenden öffentlichen Auftraggebern in Polen vorstellen. Die Auftraggeber haben dann die Möglichkeit, im Rahmen der Vorbereitung der jeweiligen Vergabeverfahren eine Konzeption zu erstellen, die nicht mehr nur den Preis berücksichtigt, sondern eben auch andere wichtige, den tatsächlichen Bedürfnissen des Auftraggebers Rechnung tragende Merkmale. Im Übrigen darf der öffentliche Auftraggeber nach der Veröffentlichung der entsprechenden Auftragsbekanntmachung die Bieter unmittelbar über die Tatsache des Verfahrensbeginns informieren, die ihm bekannt sind und die Produkte herstellen und liefern bzw. die Dienstleistungen und Bauarbeiten erbringen können, die Gegenstand des eingeleiteten Ausschreibungsverfahrens sind.

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Über Steffen Braun [2]

Steffen Braun ist deutscher Rechtsanwalt und Partner der in Warschau (Polen)ansässigen Kanzlei Braun & Paschke - Rechtsanwälte [3] in Warschau. Er berät seit 10 Jahren Unternehmen bei ihrem Engagement in Polen sowohl im Rahmen von öffentlichen Vergabeverfahren als auch bei der Realisierung von anderen Formen der öffentlich-privaten Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen von Privatisierungsverfahren im Gesundheitswesen. Steffen Braun informiert regelmäßig im Rahmen von in Deutschland gehaltenen Vorträgen über die Entwicklung des polnischen Vergaberechtes sowie über die sich ständig verbessernden Möglichkeiten einer erfolgreichen Teilnahme für deutsche Unternehmen an polnischen Ausschreibungen.

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