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Wie erkenne ich einen Bauauftrag? (VK Baden-Württemberg, Beschl. v. 02.12.2014 – 1 VK 21/14)

EntscheidungDie in der Entscheidung enthaltene Bewertung der Vergabekammer Baden-Württemberg zu der Frage, ob ein Auftrag zur Sanierung der Straßenbeleuchtung einschließlich Lieferung und Montage neuer LED-Leuchten ein Bauauftrag ist oder als Liefer- bzw. Dienstleistungsauftrag der VOL/A EG unterfällt, ist lesenswert und stellt ein Musterbeispiel für die Abgrenzung von Bauaufträgen gegenüber Liefer- und Dienstleistungsaufträgen dar.

Ein typengemischter Auftrag, der Elemente eines Bauauftrags und eines Liefer- und Dienstleistungsauftrags aufweist, kann auch dann insgesamt als Bauauftrag zu qualifizieren sein, wenn zwar der Liefer- und Dienstleistungsteil vom Auftragsvolumen her den Bauauftragsteil überwiegt, aber gleichwohl die Bauleistungen den für die Vertragserfüllung prägenden Charakter haben.

§ 99 Abs. 3 GWB, § 99 Abs. 10 Satz 2 GWB

Leitsatz

  1. Bauliche Anlagen (Bauwerke) sind mit dem Erdboden verbundene oder auf ihm ruhende, aus Bauprodukten hergestellte Anlagen. Dabei muss es sich nicht notwendig um Gebäude handeln; dies ist lediglich ein Unterbegriff.
  2. Bauliche Anlagen (Bauwerke) können auch Werbeanlagen, Fahrradabstellanlagen, Aufschüttungen und Abgrabungen, Photovoltaikanlagen oder – wie hier – eine aus Beleuchtungsmast und Straße zusammengesetzte bauliche Anlage sein, an der nicht unerhebliche technische und gestalterische Veränderungen durchgeführt werden sollen.

Sachverhalt

Ausgeschrieben war die Sanierung der Straßenbeleuchtung einer Gemeinde. Die zu erbringenden Leistungen umfassten die Außerbetriebnahme und Demontage der Altleuchten einschließlich der alten Stromzuführung, die erforderlichen Verkehrssicherungsmaßnahmen, Gerüst- oder Montagefahrzeugeinsatz, nur im Einzelfall Veränderungen am Baukörper des Leuchtmastes in Form von Masterhöhungen, die Lieferung und Montage der neuen LED-Leuchten einschließlich Neuverlegung der Stromzuführungen innerhalb der Lichtmasten und die anschließende Inbetriebnahme zur Sicherstellung der gewünschten lichttechnischen Erfordernisse. Die Vergabestellte hatte den Auftrag als Bauauftrag beurteilt, der damit unterhalb des für Bauaufträge geltenden Schwellenwerts von 5.186 Mio. Euro lag. Der Schwellenwert für Liefer- und Dienstleistungen von 207.000 Euro wäre hingegen weit überschritten gewesen. Darin lag auch der Vorwurf eines Bieters, der den Auftrag eben als Liefer- und Dienstleistungsauftrag qualifiziert hatte, so dass nach seiner Auffassung eine europaweite Ausschreibung erforderlich gewesen wäre.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer hat den Auftrag insgesamt als Bauauftrag qualifiziert und damit dem Auftraggeber Recht gegeben. Zunächst hat sie die Teilleistungen beurteilt. Dabei hat sie klargestellt, dass der Begriff des Bauvorhabens weit zu verstehen ist und sämtliche Tätigkeiten umfasst, die die Errichtung, Reparatur, Modernisierung, Instandhaltung, Änderung oder Renovierung oder die Beseitigung baulicher Anlagen vorbereiten oder durchführen. Unter baulichen Anlagen versteht die Vergabekammer alle mit dem Erdboden verbundene oder auf ihm ruhende, aus Bauprodukten hergestellte Anlagen, wie z.B. Gebäude, Fahrradabstellanlagen, Werbeanlagen, Photovoltaikanlagen oder – wie hier – Straßenlaternen.

Die Straßenlaternen sollten hier in nicht unerheblicher Weise technisch und gestalterisch verändert werden. Dabei würde in die Substanz der Laternen eingegriffen, so dass insoweit von Bauleistungen auszugehen war. Nicht mehr erfasst wären dagegen bloße Reinigungs- oder Pflegeleistungen an der Straßenbeleuchtung, die nicht oder nur sehr geringfügig in die Substanz des Bauwerks eingreifen. Diese waren hier aber nicht Gegenstand der Ausschreibung.

Neben den somit als Bauleistungen zu qualifizierenden Teilleistungen war auch die Lieferung von LED-Leuchten Bestandteil des Auftrags. Es lag also ein typengemischter Vertrag bestehend aus Bau- und Lieferleistungen vor, der nach seinem Hauptgegenstand zu beurteilen war. Ein Kriterium für die Frage, was Hauptgegenstand ist, besteht darin, welche Teilleistungen vom Auftragswert her überwiegen. Das wäre hier angesichts des hohen Lieferwerts der LED-Leuchten der Lieferleistungsteil gewesen. Die Vergabekammer hat die Lieferleistungen trotzdem als Nebenarbeiten bezeichnet, weil der Auftraggeber nicht primär die Beschaffung von Leuchten mit einer bestimmten Beschaffenheit bezweckt hatte, sondern einen bestimmten Erfolg, der darin bestand, dass eine DIN-gerechte Ausleuchtung der Straßen in LED-Leuchtenqualität erreicht wird. Daher hatten die Bauleistungen hier einen die ordnungsgemäße Vertragserfüllung prägenden Charakter.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der Vergabekammer liegt auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung, die bei typengemischten Verträgen mit nicht lediglich untergeordneten Bauleistungsteilen regelmäßig dazu neigt, den gesamten Vertrag als Bauauftrag anzusehen und nicht bzw. allenfalls ergänzend auf die Auftragswerte der Teilleistungen abzustellen. Wenn es wie hier um die Lieferung von zu verbauenden Produkten geht, ist das besonders überzeugend. Sonst würde es praktisch auch kaum Bauaufträge geben, da der Sachwert der Bauprodukte häufig die übrigen Leistungsteile überwiegt. Ein hoher Lieferanteil wird daher für die Einordnung als Bauauftrag nur selten schädlich sein können. Soweit daneben auch Dienstleistungsteile enthalten sind, ergibt sich diese Wertung bereits aus § 99 Abs. 10 Satz 2 GWB.

DVNW_Mitglied [1]

Praxistipp

Die Abgrenzung von Bauaufträgen zu Liefer- und Dienstleistungsaufträgen ist von enormer praktischer Relevanz, weil die europäischen Schwellenwerte für Bauaufträge deutlich höher liegen als im Liefer- und Dienstleistungsbereich. Wird ein Auftrag als Bauauftrag qualifiziert, muss er erst ab 5.186 Mio. Euro europaweit ausgeschrieben werden und unterliegt erst dann der Informations- und Wartepflicht nach § 101a GWB und dem für Bieter deutlich effektiveren Vergabenachprüfungsverfahren. Da sich die Verfahrensregeln z.T. erheblich unterscheiden, stellt es in Grenzfällen auch keine adäquate Lösung dar, freiwillig eine europaweite Ausschreibung durchzuführen. Denn bei Bauvergaben findet z.B. ein Submissionstermin statt, den die VOL/A nicht kennt.

Die fälschliche Einordnung eines Auftrags als Bauauftrag und damit der Verzicht auf eine europaweite Ausschreibung kann drastische Konsequenzen haben bis hin zur Aufhebung der Ausschreibung durch eine Vergabekammer. Soweit ersichtlich wird den Bietern bei der Einordnung eines Auftrags von der Rechtsprechung kein Beurteilungsspielraum zugebilligt. In Zweifelsfällen bleibt den Bietern daher nur die Möglichkeit, das Risiko in Kauf zu nehmen und ggf. rechtlichen Rat einzuholen.

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Über Dr. Michael Sitsen [2]

Dr. Michael Sitsen ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte [3] in Düsseldorf und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er berät und begleitet seit vielen Jahren Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen aller Art. Neben dem Vergaberecht gehört auch das Beihilfenrecht zu seinen Beratungsschwerpunkten. Er hält Schulungen zum Vergaberecht, u.a. für den Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME), und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war er mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter des bekannten Vergaberechtlers Prof. Dr. Jost Pietzcker in Bonn.

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