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VK-Gebühren von höchstens 2% des Auftragswertes? (EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – Rs. C-61/14 Orizzonte Salute)

Entscheidung EUNach der Rechtsschutz-RL 89/665/EWG müssen für den Fall von Verstößen gegen das EU-Vergaberecht oder gegen einzelstaatliche Umsetzungsvorschriften, Möglichkeiten einer wirksamen und raschen Nachprüfung bestehen. Die RL 89/665/EWG belässt den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Wahl der vorgesehenen Verfahrensgarantien und der entsprechenden Formalitäten. Eine Regelung, die sich ausdrücklich mit den (Gerichts-)Gebühren befasst, die der Unterlegene zu entrichten hat, wenn er ein Nachprüfungsverfahren anstrengt, beinhaltet die RL 89/665/EWG nicht. Vor diesem Hintergrund hatte der EuGH über die Auslegung von Art. 1 RL 89/665/EWG im Zusammenhang mit der Erhebung von Einheitsgebühren bei der Vergabe öffentlicher Aufträge in Italien zu befinden.

Art. 1 RL 89/665/EWG, § 128 GWB

Leitsatz

Art. 1 der Richtlinie 89/665/EWG […] und die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach bei der Einlegung eines Rechtsbehelfs im Bereich öffentlicher Aufträge bei den Verwaltungsgerichten Gerichtsgebühren wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Einheitsgebühr zu entrichten sind.

Sachverhalt

Der EuGH urteilte aufgrund eines italienischen Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen eines Rechtsstreites wegen der Verlängerung eines Auftrages über Krankenpflegedienste. Von den italienischen Verwaltungsgerichten werden im Bereich öffentlicher Aufträge gestaffelte Einheitsgebühren verlangt: 2.000 EUR, wenn der Auftragswert 200.000 EUR oder weniger beträgt, 4.000 EUR, wenn der Auftragswert zwischen 200.000 EUR und 1.000.000 EUR liegt, und 6.000 EUR für Streitigkeiten mit einem Auftragswert von mehr als 1.000.000 EUR. Für Rechtsmittelverfahren erhöhen sich diese Beträge um 50%.

Gegen die Festsetzung von Einheitsgebühren wandte sich der Krankenpflegedienst Orizzonte Salute: Die gestaffelten Einheitsgebühren würden Unternehmen davon abhalten, um Rechtsschutz nachzusuchen, weil der Unternehmensgewinn sich im Allgemeinen auf etwa 10% des Auftragswertes belaufe, und die Zahlung einer diesen Betrag übersteigenden Einheitsgebühr – vor allem im Voraus – abschreckend wirke. Finanzschwache Unternehmen würden daher gegenüber finanzstarken Wirtschaftsteilnehmern diskriminiert.

Die Entscheidung

Der EuGH stellt allgemein fest, dass es Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die Modalitäten für das Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Diese Verfahrensmodalitäten dürfen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Rechtsbehelfe (Grundsatz der Äquivalenz). Zudem darf die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden (Rdnr. 46).

(Gerichts-)Gebühren betreffen solche Modalitäten der Nachprüfung öffentlicher Aufträge und dürfen daher die praktische Wirksamkeit der RL 89/665/EWG nicht beeinträchtigen (Rdnr. 47). Art. 1 RL 89/665/EWG ist daher insbesondere im Lichte des Rechts aus Art. 47 Charta der Grundrechte der EU auf Einlegung eines wirksamen Rechtsbehelfs bei einem Gericht auszulegen (Rdnr. 49).

Die in Italien anfallende Einheitsgebühr ist proportional zum Wert der in die drei unterschiedlichen Kategorien (2.000 EUR, 4.000 EUR und 6.000 EUR) fallenden öffentlichen Aufträge ausgestaltet und weist einen degressiven Charakter auf: Die in Prozentsätzen der Grenzwerte dieser drei Kategorien öffentlicher Aufträge ausgedrückte Einheitsgebühr variiert von 1,0% bis 1,036% (Auftragswert zwischen 193.000 EUR und 200.000 EUR) über 0,4% bis 2,0% (Auftragswert zwischen 200.000 EUR und 1.000.000 EUR) bis hin zu 0,6% oder weniger, wenn der Auftragswert 1.000.000 EUR übersteigt (Rdnrn. 56 f.).

(Gerichts-)Gebühren für die Einlegung eines Rechtsbehelfs in verwaltungsgerichtlichen Verfahren im Bereich öffentlicher Aufträge, die 2% des Auftragswertes nicht übersteigen, können die Ausübung der von der Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte im Bereich öffentlicher Aufträge nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Rdnr. 58).

Eine Festsetzung der Einheitsgebühr nach dem Gewinn, den das am Vergabeverfahren teilnehmende Unternehmen von diesen Auftrag erwarten darf, wäre kompliziert und im Ergebnis nicht vorhersehbar, zumal dies für jedes Vergabeverfahren und jedes Unternehmen spezielle Berechnungen erfordern würde, deren Ergebnis angefochten werden könnte (Rdnrn. 60 f.).

Eine Diskriminierung finanzschwacher Unternehmen, die im gleichen Wirtschaftssektor tätig sind, verneint der EuGH, weil die Einheitsgebühr hinsichtlich Art und Höhe unterschiedslos jedem auferlegt wird, der einen Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung eines öffentlichen Auftraggebers einlegen möchte (Rdnr. 62 f.).

DVNW_Mitglied [1]

Rechtliche Würdigung

Das Einheitsgebührensystem in Italien ist nur bedingt mit der deutschen Rechtslage vergleichbar. Die Gebühren der Vergabekammer sind nach § 128 Abs. 1 Satz 2 GWB i.V.m. § 3 Satz 1 VwKostG so zu bemessen, dass zwischen der den Verwaltungsaufwand berücksichtigenden Höhe der Gebühr einerseits und der Bedeutung, dem wirtschaftlichen Wert oder dem sonstigen Nutzen der Amtshandlung der Vergabekammer andererseits ein angemessenes Verhältnis besteht. Hierbei ist vom Wert des Verfahrensgegenstandes auszugehen, d.h. von der wirtschaftlichen Bedeutung des Gegenstandes der gebührenpflichtigen Handlung für den Kostenschuldner, also regelmäßig der Auftragswert. Die Festlegung der konkreten Gebührenhöhe ist letztlich in das pflichtgemäße Ermessen der angerufenen Vergabekammer gestellt (BGH, Beschluss v. 25.10.2011, X ZB 5/10).

Nach der Rechtsprechung (z.B. OLG Frankfurt, Beschluss v. 29.8.2014, 11 Verg 3/14; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 9.2.2006, Verg 80/05) stellt es aber grundsätzlich keinen Ermessensfehler dar, wenn die Vergabekammer ihrer Ermessensentscheidung die Richtwerte einer Gebührentabelle zugrunde legt, um die zu erhebenden Gebühren im Nachprüfungsverfahren zu ermitteln. Dadurch wird dem Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip Rechnung getragen, indem dem Wert des ausgeschriebenen Auftrages gestaffelt Gebührenbeträge zugeordnet werden, die vor allem unter dem Gesichtspunkt verminderten oder erhöhten personellen bzw. sachlichen Aufwandes abgewandelt werden können. Zahlreiche Vergabekammern in Deutschland verwenden daher die Gebührentabelle der Vergabekammern des Bundes. Eine Gebührentabelle kann aber lediglich als unverbindliche Richtschnur dienen, bei der den Besonderheiten des Einzelfalles durch Zu- oder Abschläge Rechnung zu tragen ist (OLG München, Beschluss v. 24.9.2012, Verg 14/12). Eine ermessensfehlerhafte Gebührenfestsetzung besteht z.B. dann, wenn die Vergabekammer ohne jede Begründung die Mindestgebühr überschreitet und die in der Gebührentabelle ausgewiesene Basisgebühr anwendet, ohne zu prüfen, ob Anhaltspunkte für ein Abweichen von diesem Richtwert vorliegen (OLG Hamburg, Beschluss v. 3.11.2008,  1 Verg 3/08).

Die Entscheidung des EuGH ist deshalb auch hier von Interesse, weil das italienische Einheitsgebührensystem der deutschen Gebührentabellensystematik ähnlich ist. Letztere sieht ebenfalls eine degressive Gebührenstaffelung gemessen am Auftragswert vor: So ergibt sich bei einem Auftragswert von bis zu 80.000 EUR eine Basisgebühr von 2.500 EUR, was einem Grenzwert von 3,1% entspricht, also höher ist als die vom EuGH für unbedenklich erachteten 2%. Dem EuGH-Urteil ist zwar nicht zu entnehmen, dass höhere Grenzwerte für generell unzulässig eingeordnet würden. Es gibt aber zumindest eine Richtschnur vor, insbesondere bei verhältnismäßig geringen Auftragswerten die Gebührenbemessung besonders sorgfältig vorzunehmen, was u.a. § 128 Abs. 2 Satz 1 GWB aus Billigkeitsgründen ohnehin ermöglicht.

Das EuGH-Urteil ist positiv zu würdigen, als es die in Deutschland weit verbreitete Anwendung von Gebührentabellen durch die Vergabekammern grundsätzlich anerkennt. Zu kritisieren ist die Entscheidung, weil sie die in Italien bestehende Progression bei (losbedingten) Auftragswerten von weniger als 200.000 EUR weitgehend ausblendet, d.h. die Möglichkeit von Grenzwerten von deutlich mehr als 2% nicht thematisiert.

DVNW_Mitglied [1]

Praxistipp

Eine Festsetzung der Gebühr für die Tätigkeit der Vergabekammer, die mehr als 2% des Auftragswertes beträgt, sollte vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils kritisch hinterfragt und –  je nach Einzelfall – ggf. rechtlich angegriffen werden.

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Über Holger Schröder [2]

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner [3] in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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