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Tatsächliche Unwägbarkeiten rechtfertigen kein Verhandlungsverfahren! (VK Rheinland, Beschl. v. 24.07.2015 – VK VOL 7/15)

EntscheidungDas Verhandlungsverfahren darf nicht mit der Begründung gewählt werden, dass tatsächliche Unklarheiten und der Umgang damit mit den potentiellen Bietern besprochen und verhandelt werden sollen. Auch vor der Einleitung eines Verhandlungsverfahrens ist Vergabereife herzustellen.

Die Anwendung des Verhandlungsverfahrens ist und bleibt die Ausnahme. Nur in begründeten Ausnahmefällen und bei Vorliegen der einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen ist ein Verhandlungsverfahren zulässig. Insbesondere ist es einem öffentlichen Auftraggeber verwehrt, etwaige tatsächliche Zweifel oder Unwägbarkeiten (hier: die Bestandsaufnahme) betreffend den Vergabegegenstand auf die Bieter bzw. die Durchführung des Vergabeverfahrens abzuwälzen.

§ 3 EG Abs. 3 Buchst. b) und c) VOL/A

Sachverhalt

Ein Krankenhaus der Akutversorgung schreibt die Bewirtschaftung und Instandhaltung von medizinischen Geräten und Einrichtungen für einen Zeitraum von fünf Jahren europaweit im Verhandlungsverfahren aus. In der Bekanntmachung heißt es unter anderem, dass das Krankenhaus für seine Standorte ein innovatives und fachkundiges Unternehmen sucht, welches in der Lage ist, die mit der Medizintechnik verbundene Leistung Bewirtschaftung und Instandhaltung von medizinischen Geräten und Einrichtungen in Form eines Werkvertrages verantwortlich zu übernehmen und zwar derart, dass sich die mit dem Auftrag verbundene Leistung dauerhaft und ohne Qualitätsverluste gesetzeskonform wirtschaftlich spürbar verbessert. Für die vorgenannte Leistung soll dann zwischen dem Krankenhaus und dem Bieter bzw. Auftragnehmer eine feste Jahrespauschale auf Grundlage eines detaillierten Vertragsentwurfs vereinbart werden. Die Antragstellerin (ASt), welche vorliegend von dem Verfasser vertreten worden ist, forderte die Unterlagen zum Teilnahmewettbewerb an und rügte gegenüber der Antragsgegnerin (Ag) die Wahl des Verhandlungsverfahrens als vergaberechtswidrig. Sie forderte die Ag auf, die Ausschreibung aufzuheben und eine erneute Vergabe im offenen bzw. (soweit zulässig) nicht offenen Verfahren zu veranlassen. Die Ag weigerte sich, so dass die ASt einen Nachprüfungsantrag stellte.

Die Entscheidung

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig und begründet. Das gewählte Verhandlungsverfahren ist rechtswidrig und muss aufgehoben werden.

Die Vergabekammer betont zunächst, dass § 101 Abs. 7 S. 1 GWB ein Regel-Ausnahme-Verhältnis innerhalb der einzelnen Vergabearten begründet. Den absoluten Vorrang (haben anzuwenden) genießt das offene Verfahren. Eine andere Verfahrensart und somit auch das Verhandlungsverfahren darf nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung angewendet werden. Dementsprechend müssen diese Ausnahmetatbestände restriktiv angewendet und ihre Tatbestandsmerkmale eng ausgelegt werden, damit die Ausnahme nicht zur Regel werden kann. Der Kern liegt in dem Verhandeln von Auftragsbedingungen. Die von einem öffentlichen Auftraggeber ausgeschriebene Dienst- oder Bauleistung muss demnach hinsichtlich der Bedingungen des Auftrages überhaupt einen Spielraum für Verhandlungen bieten. Zulässiger Verhandlungsgegenstand in der Verhandlungsphase ist der gesamte Vertragsinhalt einschließlich des Angebotspreises.

Erstens war kein Ausnahmetatbestand nach § 3 EG Abs. 3 Buchst. b) VOL/A gegeben. Diese Vorschrift erlaubt ein Verhandlungsverfahren, wenn die vorherige Festlegung eines Gesamtpreises nicht möglich ist. Diese Voraussetzung lag mangels abgeschlossener Bestandsaufnahme zum Zeitpunkt der Vergabe vor, da ohne Kenntnis des Umfangs an medizinischen Geräten und Einrichtungen die zu vereinbarende Jahrespauschale nicht kalkuliert werden kann. Dieser offene Bedarf rechtfertigt aber gerade nicht die Durchführung eines Verhandlungsverfahrens. Denn die Ag hat diesen Umstand nach außen zu vertreten. Sie kann ihre Verantwortung nicht auf potenzielle Teilnehmer der Verhandlungsrunde abwälzen. Im Übrigen ist nicht erkennbar, warum die Ag nicht selber Problemstellungen entdecken und Lösungen jeweils soweit entwickeln konnte, um ein offenes Verfahren durchzuführen. Eine Bestandsaufnahme muss vor Einleitung des Vergabeverfahrens abgeschlossen sein. Erst wenn sie vorliegt, steht die Zahl der an sich verfügbaren medizinischen Geräten und Einrichtungen fest. Erst nach ihrem Abschluss ist bekannt, welche Geräte in vollem Umfang funktionstüchtig sind, welche einer Reparatur unterzogen und welche vollständig ersetzt werden müssen. Dieser Prozess ist nicht verhandelbar.

Zweitens rechtfertigt genauso wenig § 3 EG Abs. 3 Buchst. c) VOL/A die gewählte Verfahrensart. Danach ist ein Verhandlungsverfahren zulässig, wenn die zu erbringende Dienstleistung in ihrer vertraglichen Spezifikation nicht hinreichend genau festgelegt werden kann. Zwar konnte, hier gilt gleiches wie zu der erstgenannten Ausnahme, der Auftrag Bewirtschaftung und Instandhaltung von medizinischen Geräten und Einrichtungen tatsächlich zum Zeitpunkt der Ausschreibung mangels Bestandsaufnahme nicht genau festgelegt werden. In dem Moment jedoch, in dem der Bestand und damit der Bedarf feststehen, ist die Dienstleistung in allen Einzelheiten genau bestimmbar. Dies gilt vorliegend vor allem deshalb, weil für die überwiegende Zahl der Geräte sowohl Wartungsqualität als auch Wartungsabstände vom Hersteller oder vom Gesetzgeber genau vorgegeben werden und die Dienstleistung auch aus diesem Grund nicht verhandelbar ist. Die stets hinsichtlich des Bestands vorhandene Grauzone muss in diesem Zusammenhang hingenommen werden und rechtfertigt kein Verhandlungsverfahren.

DVNW_Mitglied [1]

Rechtliche Würdigung

Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen. In der Sache wäre es wünschenswert gewesen, wenn sich die Vergabekammer mit den einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen der Ausnahmetatbestände in § 3 EG Abs. 3 VOL/A näher auseinandergesetzt hätte, anstatt im Wesentlichen auf die fehlende Bestandsaufnahme und damit im Ergebnis die fehlende Vergabereife abzustellen.

Zutreffend verweist die Vergabekammer in ihrer Begründung auf die grundlegende Entscheidung des BGH vom 10. November 2009 zum Aktenzeichen X ZB 8/09. Dieser Entscheidung lag die Neubeschaffung von Endoskopiesystemen für die Diagnose und Therapie zugrunde. Der BGH erklärte auch damals bereits das gewählte Verhandlungsverfahren für rechtswidrig. Wesentliche Erwägungen hat die Vergabekammer bei ihrer Entscheidung übernommen. Darin hat der BGH bereits zutreffend ausgeführt, dass sich das Verhandlungsverfahren grundsätzlich vom offenen Verfahren unterscheidet, weil der öffentliche Auftraggeber im offenen Verfahren den Auftrag nur gemäß dem Inhalt eines der innerhalb der Angebotsfrist abgegebenen Angebote erteilen darf, während im Verhandlungsverfahren der Inhalt der Angebote jeweils verhandelbar ist. Wird das Verhandlungsverfahren zu Unrecht gewählt, ist deshalb jeder Bieter der ansonsten nicht gegebenen Gefahr ausgesetzt, im Rahmen von Nachverhandlungen von einem Mitbewerber unterboten zu werden (vgl. in diesem Sinne auch VK Südbayern, Beschl. v. 16. Dezember 2014 Az. Z3-3-3194-1-43-09/14).

Schließlich bedeutet die Wahl des Verhandlungsverfahrens mit vorangehendem Teilnahmewettbewerb eine (gesetzlich vorgesehene) Einschränkung der Vergabe von Leistungen in einem wettbewerblichen Vergabeverfahren. Dies betont auch die VK Thüringen. Sie hat zum gleichen Vergabegegenstand bereits im August 2011 entsprechend entschieden (Beschl. v. 31. August 2011 Az. 250-4003.20-3721/2011-E-010-WAK). Die Vergabe der Bewirtschaftung und Instandhaltung von medizintechnischen Geräten und Einrichtungen hat nach der Spruchpraxis der Nachprüfungsinstanzen in aller Regel im Wege eines offenen bzw. nicht offenen Verfahrens zu erfolgen.

Praxistipp

Dem Auftraggeber ist dringend zu empfehlen, das Verhandlungsverfahren nur dann zu wählen, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen tatsächlich vorliegen. Anderenfalls besteht das Risiko, dass das Verfahren frühzeitig scheitert. Insofern ist in jedem Fall vor Beginn des Verfahrens eine Vergabereife dahingehend herzustellen, dass der Vergabegegenstand hinreichend klar ist und die tatsächlichen Unwägbarkeiten von vornherein auf ein Minimum reduziert werden. Ein solches Vorgehen hat ganz unabhängig von der Antwort auf die (vergaberechtliche) Frage der Verfahrensart für den öffentlichen Aufraggeber den Vorteil, dass dem späteren Zuschlag (vertragsrechtlich) ein möglichst belastbarer und feststehender Sachverhalt zugrunde liegt. Das Risiko von vertraglichen Auseinandersetzungen, Nachträgen, Vertragsanpassungen etc. nach Abschluss des Vergabeverfahrens ist dadurch deutlich herabgesetzt.

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Über Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG [2]

Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte [3] in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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