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EuGH: Geographische Beschränkung des Wettbewerbs erfordert stringente Begründung (EuGH, Urt. v. 22.10.2015 – Rs. C-552/13 – Grupo Hospitalario Quirón)

Entscheidung EUGeographische Beschränkungen dürfen sich nicht an politischen Grenzen (Gemeinde, Landkreis, Land etc.) orientieren, sondern nur an den tatsächlichen Verhältnissen.

Der EuGH bestätigt, dass der Leistungsort von Dienstleistungen geographisch beschränkt werden darf, wenn die Natur der Dienstleistung dies rechtfertigt. Diese Beschränkung darf sich aber nicht, auch nicht zur Vereinfachung, an politischen Grenzen orientieren (z. B. Gemeindegebiet), sondern allein an sachlichen Kriterien, beispielsweise an der Entfernung oder Erreichbarkeit. Ausscheiden dürfte danach regelmäßig eine Beschränkung auf den Zuständigkeitsbereichs des Auftraggebers.

Art. 1, 2, 21, 23 Abs. 2 Richtlinie 2014/18/EG; Grundsatz der Gleichbehandlung

Leitsatz

Art. 23 Abs. 2 Richtlinie 2004/18/EG steht einem Erfordernis entgegen, das in Bekanntmachungen über die öffentliche Vergabe von Gesundheitsdienstleistungen als technische Spezifikation formuliert ist und dahin geht, dass die Gesundheitsdienstleistungen, die Gegenstand der Ausschreibungsverfahren sind, von privaten Krankenhauseinrichtungen erbracht werden müssen, die ausschließlich in einer bestimmten Gemeinde gelegen sind, in der die von diesen Dienstleistungen betroffenen Patienten nicht unbedingt ihren Wohnsitz haben müssen, sofern dieses Erfordernis zum automatischen Ausschluss derjenigen Bieter führt, die diese Dienstleistungen nicht in einer solchen in der fraglichen Gemeinde gelegenen Einrichtung erbringen können, alle übrigen Voraussetzungen dieser Ausschreibungsverfahren jedoch erfüllen.

Sachverhalt

Die zuständige Behörde schrieb Krankenhausdienstleistungen aus. Sie umfassten die Bereitstellung der personellen und materiellen Infrastruktur, damit Ärzte des öffentlichen Gesundheitssystems in privaten Einrichtungen Operationen und andere medizinische Dienstleistungen durchführen können.
Nach den Vergabeunterlagen mussten sich die Einrichtungen in der Gemeinde Bilbao befinden:

„Mit Rücksicht auf die Notwendigkeit, diese Dienstleistungen in angemessener Entfernung zu den Patienten und ihren Familienangehörigen zu erbringen, die Erreichbarkeit und die Fahrtzeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Notwendigkeit der Minimierung der erforderlichen Fahrten des medizinischen Personals der … Krankenhäuser, müssen sich die angebotenen Gesundheitszentren in der Gemeinde Bilbao befinden.“

Ein unterlegener Bieter machte geltend, dass die von ihm angebotene private Einrichtung zwar außerhalb der Gemeinde Bilbao liege, aber von der Gemeinde Bilbao – auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln – gut erreichbar sei. Sie gehöre zum Großraum Bilbao. Zudem kämen viele Patienten nicht aus der Gemeinde Bilbao selbst, sondern aus den umliegenden Gemeinden.

Die Entscheidung

Der EuGH ließ das Argument der geographischen Beschränkung grundsätzlich gelten. Es liege in der Natur der angefragten Dienstleistung, dass diese in angemessener Entfernung und Erreichbarkeit der Nutzer der Einrichtungen zu erbringen sei.

Die Beschränkung auf das Gebiet der Gemeinde Bilbao sei aber nicht geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Auch die Einrichtung des unterlegenen Bieters erfülle das Kriterium der angemessenen Entfernung und Erreichbarkeit. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Einrichtung auch von Personen außerhalb der Gemeinde Bilbao genutzt werde. Eine Beschränkung auf das Gebiet der Gemeinde Bilbao verletze daher das in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18/EG zum Ausdruck kommende Gebot der Gleichbehandlung.

Rechtliche Würdigung

Das Urteil überrascht nicht. Ihm ist vollumfänglich zuzustimmen.
Es ist weit über das Gesundheitswesen hinaus von Bedeutung. Geographische Einschränkungen sind häufig unabdingbar, die Formulierung der Einschränkung aber mit Risiken behaftet.

Der EuGH bestätigt zunächst, dass die Erbringung von Dienstleistungen bei Vorliegen entsprechender Gründe geographisch beschränkt werden können. Diese Beschränkung darf sich aber nicht, auch nicht zur Vereinfachung oder aus politischen Gründen, an politische Grenzen orientieren, auch nicht an den Grenzen des Zuständigkeitsbereichs des Auftraggebers. Gilt dies für nachrangige Dienstleistungen, so ist dieser Grundsatz erst recht bei Dienstleistungen anzuwenden, die dem Vergaberecht vollständig unterliegen.

Letztlich offen gelassen hat der EuGH die Frage, ob gefordert werden kann, dass die Dienstleistung in einem bestimmten Gebiet erbracht wird, wenn sie sich nur an die Einwohner dieses Gebietes richtet, beispielsweise Bildungseinrichtungen einer Gemeinde für ihre Einwohner. Einerseits wäre es politisch schwer durchsetzbar, dass eine solche Dienstleistung von einer Gemeinde finanziert, aber in einer anderen Gemeinde erbracht wird. Andererseits stehen die Einrichtungen einer Gemeinde jedenfalls meistens auch den Bewohnern der Nachbargemeinde offen. Faktisch nutzen also – wie im vorliegenden Fall – auch Einwohner außerhalb der Gemeinde die Dienstleistung. Pragmatisch wird man diese Fälle aber dadurch lösen können, dass eine gute Erreichbarkeit für alle Bewohner der Gemeinde sichergestellt werden muss und daher beispielsweise eine gewisse Entfernung zum zentralen Ort der Gemeinde nicht überschritten werden darf. So kann sichergestellt werden, dass die von einer Gemeinde bezahlten Dienstleistungen auch in der Gemeinde erbracht werden.

Nicht unmittelbar betrifft die Entscheidung, Anforderungen an den Auftragnehmer, seinen Sitz oder eine Niederlassung in einem bestimmten Bereich zu haben. Hier dürften die Anforderungen deutlich strenger sein, da der Sitz eines Auftragnehmers gerade kein Anknüpfungspunkt sein soll. In Ausnahmefällen, etwa bei zwingenden Vorgaben für Reaktionszeiten bei Wartungsverträgen, können aber auch Anforderungen an den Sitz des Unternehmens gerechtfertigt sein. Dann gilt auch für diese Beschränkung, dass sie sich an sachlichen Kriterien (im Beispiel: Reaktionszeit) orientieren muss.

DVNW_Mitglied [1]

Praxistipp

1. Soll oder muss die Ausführung einer Leistung oder der Sitz des Auftragnehmers örtlich begrenzt werden, so ist dies zwingend in der Vergabeakte zu begründen.

2. Die örtliche Einschränkung ist dabei nach sachlichen Kriterien zu beschreiben, wie Entfernung oder Erreichbarkeit. Eine Begrenzung auf bestimmte Gemeinden, Landkreise oder andere „politischen“ Grenzen scheidet regelmäßig aus. Sollen die Dienstleistungen für die Einwohner des Auftraggebers erbracht werden, sollte sich das örtliche Kriterium trotzdem an Erreichbarkeit und Entfernung, z. B. des zentralen Ortes des Auftraggebers, orientieren.

3. Die Gründe für die Beschränkung müssen stichhaltig sein und sich gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung durchsetzen können. Einen Auftragnehmer vor Ort vorzuziehen, weil die Leistungserbringung vor Ort genehmer ist oder um „schnell etwas mit ihm besprechen zu können“, dürfte nur in Ausnahmefällen (z. B. Bauleitung, Reaktionszeiten bei Wartungsverträgen) zulässig sein.

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Über Dr. Peter Neusüß [2]

Der Autor Dr. Peter Neusüß ist Rechtsanwalt der Sozietät Sparwasser & Heilshorn Rechtsanwälte [3], Freiburg. Herr Dr. Peter Neusüß berät im Bereich des Vergabe-, Bau-, Abfall- und Energierechts insbesondere die öffentliche Hand, aber auch private Unternehmen. Er begleitet  und unterstützt öffentliche Auftraggeber im Vergabeverfahren von der Vorbereitung einschließlich der Einbindung der (kommunalen) Gremien über die Erstellungder Vergabeunterlagen und Bieterinformationen bis hin zur Zuschlagserteilung und vertritt sie, soweit erforderlich, in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und den Oberlandesgerichten.

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