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Schadensersatzanspruch des übergangenen Bieters im Unterschwellenbereich ohne vorherige Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz (OLG Saarbrücken, Urt. v. 15.06.2016 – 1 U 151/15)

EntscheidungDie Schadensersatzklage des unterlegenen Bieters setzt nicht die vorherige Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz voraus. Der Verzicht auf Primärrechtsschutz kann allerdings zu einer Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens führen. Dies hat das OLG Naumburg am 23.12.2015 – 2 U 74/14 – bereits für den Oberschwellenbereich entschieden. Das OLG Saarbrücken führt diese Rechtsprechung in seinem Urteil vom 15.06.2016 nunmehr für den Unterschwellenbereich fort.

§§ 241 Abs. 2, 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 BGB; §§ 13 Abs. 1, 16 Abs. 1 VOB/A a.F.

Leitsatz

1. Die Bieter haben – auch im Unterschwellenbereich – gegen den Auftraggeber einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn dieser durch Missachtung der Vergabevorschriften den Bietern einen Schaden zufügt.
2. Der Geltendmachung von Schadensersatz steht nicht entgegen, dass ein Bieter zuvor keinen Primärrechtsschutz – hier in Form der einstweiligen Verfügung – in Anspruch genommen hat.

Sachverhalt

Die öffentliche Auftraggeberin schrieb Bauarbeiten an einer Brücke aus, die die europäischen Schwellenwerte für Bauleistungen nicht überschritten. Das Leistungsverzeichnis enthielt konkrete Vorgaben zur Bauausführung. Nebenangebote wurden nicht zugelassen. Ausschließliches Wertungskriterium war der Preis.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bot die günstigste Bieterin zunächst eine andere als die im Leistungsverzeichnis vorgesehene Auftragsausführung an und legte diese ihrer Kalkulation zugrunde. Nach Durchführung eines Aufklärungsgespräches änderte sie ihr Angebot in eine ausschreibungskonforme Bauausführung. Die Auftraggeberin erteilte ihr daraufhin den Zuschlag. Erst danach informierte sie die zweitplatzierte Bieterin. Diese hatte zwischen dem Zuschlag und der Information über die erfolgte Zuschlagserteilung Rügen gegen das Angebot der günstigsten Bieterin vorgebracht. Sie hatte jedoch nicht versucht, die Zuschlagserteilung im Wege einer einstweiligen Verfügung zu verhindern (sog. Primärrechtsschutz). Die zweitplatzierte Bieterin verklagte die Auftraggeberin anschließend vor dem Landgericht Saarbrücken auf Schadensersatz in Form des entgangenen Gewinns.

Das Landgericht Saarbrücken erklärte die Klage in einem Grundurteil für gerechtfertigt, ohne über die Höhe des Anspruchs zu entscheiden. Gegen das Urteil legte die Auftraggeberin Berufung ein.

Die Entscheidung

Das OLG Saarbrücken hat die Berufung der Auftraggeberin zurückgewiesen.

Der Zulässigkeit der Schadensersatzklage stehe zwar nicht entgegen, dass die Klägerin zuvor keinen Primärrechtsschutz in Form einer einstweiligen Verfügung in Anspruch genommen habe. Dies könne allerdings zu einer Minderung des Schadensersatzanspruchs aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2 Nr. 1, 241 Abs. 2 BGB wegen Mitverschuldens führen. Denn ein Bieter sei grundsätzlich gehalten, „durch rechtzeitige Rüge oder durch rechtzeitigen Nachprüfungsantrag seine Chance auf Erhalt des Zuschlags zu wahren„.

Der Klägerin könne ein solches Mitverschulden hier indessen nicht vorgeworfen werden, weil diese faktisch keine Möglichkeit gehabt habe, effektiven Primärrechtsschutz zu erlangen. Sie sei über die beabsichtigte Zuschlagserteilung nicht informiert worden und habe mit einer Zuschlagserteilung an die günstigste Bieterin auch nicht rechnen müssen.

Die Auftraggeberin sei hier zum Schadensersatz verpflichtet, da das Angebot der erfolgreichen Bieterin gemäß §§ 16 Abs. 1 Nr. 1 lit. b, 13 Abs. 1 Nr. 5 VOB/A auszuschließen gewesen sei. Die betroffene Bieterin habe ursprünglich eine Leistung angeboten, die nicht der Ausschreibung entsprochen habe. Die nachträgliche Angebotsänderung zur Heilung dieses Fehlers sei unzulässig.

Rechtliche Würdigung

Das OLG Saarbrücken überträgt mit seinem Urteil die vom OLG Naumburg im Jahr 2014 aufgestellten Grundsätze zum Schadensersatz im Oberschwellenbereich (vgl. OLG Naumburg, Urteil vom 23.12.2014 – 2 U 74/14) auf den Unterschwellenbereich. Dies ist folgerichtig und war zu erwarten. Im Rahmen des Sekundärrechtsschutzes kann es hier keine grundsätzlichen Differenzierungen geben.

Das Gericht geht ebenfalls zutreffend davon aus, dass die Notwendigkeit einer vorherigen Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz allein eine Frage des Mitverschuldens ist. Rechtlicher Anknüpfungspunkt ist dabei die Schadensabwendungs- und -minderungspflicht des Anspruchstellers gemäß § 254 Abs. 2 S. 1 BGB. Dies dürfte unabhängig von der in der Entscheidung offen gelassenen Frage gelten, ob der Auftraggeber verschuldensunabhängig haftet oder nicht.

Leider enthält das Urteil keine eindeutige Aussage dazu, ob zur Vermeidung einer Anspruchskürzung wegen Mitverschuldens sowohl die rechtzeitige Rüge des Vergabeverstoßes als auch ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gemäß §§ 935 ff. ZPO notwendig ist. Letztendlich musste das Gericht diese Frage nämlich nicht abschließend entscheiden, weil die Klägerin aufgrund der verspäteten Information über die Zuschlagserteilung weder die Möglichkeit der rechtzeitigen Rüge noch die eines Eilverfahrens hatte.

Der Anspruch auf Erlass einer einstweiligen Verfügung setzt nach herrschender Rechtsprechung zwingend eine vorherige Rüge des Vergabeverstoßes voraus. Eine einstweilige Verfügung ohne vorherige Rüge kommt daher nicht in Betracht und somit auch keine Kürzung des Schadensersatzanspruchs. Daher stellt sich lediglich die Frage, ob allein eine isolierte Rüge ausreichend sein kann, um den Schadensersatzanspruch in voller Höhe zu erhalten. Das ist jedoch zweifelhaft. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat ein Geschädigter die ihm zumutbaren und erfolgsversprechenden Rechtsbehelfe zu ergreifen, um ein Mitverschulden seinerseits auszuschließen. Daraus könnte geschlussfolgert werden, dass sowohl die vorherige Rüge als auch die Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz für den vollständigen Erhalt des Schadensersatzanspruchs erforderlich sind. Eine abschließende Entscheidung der Gerichte zu dieser Frage steht jedoch noch aus.

DVNW_Mitglied [1]

Praxistipp

Bis zu einer eindeutigen Entscheidung der Rechtsprechung sind übergangene Bieter gut beraten, Vergabeverstöße auch im Unterschwellenbereich zunächst rechtzeitig zu rügen. Bei Nichtabhilfe der Rüge sollte anschließend um Primärrechtsschutz in Form des einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht werden, um dem Risiko der Kürzung ihres Schadensersatzanspruchs vorzubeugen.

Unterlegene Bieter sollten sich darüber hinaus auch deshalb nicht ausschließlich auf die nachträgliche Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs beschränken, weil die Hürden hierfür sehr hoch sind. Insbesondere obliegt es dem Anspruchsteller zu beweisen, dass er ohne den Vergaberechtsverstoß den Zuschlag sicher erhalten hätte.

Kontribution
Dieser Beitrag wurde von Frau RA´in Marieke Schwarz in Zusammenarbeit mit ihrem Kollegen, Herrn RA Alexander Falk, verfasst.

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Über Alexander Falk [2]

Der Autor Alexander Falk ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte [3] in Düsseldorf. Als Mitglied der dortigen Praxisgruppe Öffentliches Recht und Vergaberecht berät und begleitet er bundesweit öffentliche Auftraggeber und Bieter bei verschiedensten Ausschreibungen.

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Über Marieke Schwarz [5]

Die Autorin Marieke Schwarz ist Rechtsanwältin bei Orth Kluth Rechtsanwälte [3] in Düsseldorf. Ihr Tätigkeitsbereich umfasst das Vergaberecht und das Öffentliche Recht. Im Vergaberecht berät und begleitet sie seit mehreren Jahren bundesweit öffentliche Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen von Liefer-, Bau- und Dienstleistungen, sowie freiberuflichen Leistungen.

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