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Produktneutralität: Zur verdeckten Ausschreibung eines Leitfabrikates (VK Baden-Württemberg, Beschl. v. 30.08.2016 – 1 VK 36/16)

EntscheidungGegen das verpflichtende Gebot einer produktneutralen Ausschreibung wird auch dann verstoßen, wenn verdeckt ein Leitfabrikat ausgeschrieben wird, weil nur ein einziges Produkt den Vorgaben der Leistungsbeschreibung gerecht wird.

 

§ 7 EG Abs. 8 VOB/A a.F.; § 7 Abs. 2 EU VOB/A 2016

Leitsatz

  1. In technischen Anforderungen darf nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren verwiesen werden, „das die von einem bestimmten Unternehmen bereitgestellten Produkte charakterisiert“.
  2. Gegen diese Verpflichtung zur produktneutralen Ausschreibung wird nicht nur dann verstoßen, wenn ein Leitfabrikat offen und explizit in der Leistungsbeschreibung benannt worden ist, sondern auch, wenn durch die Vielzahl der Vorgaben verdeckt ein Leitfabrikat ausgeschrieben wurde, weil nur ein einziges Produkt allen Vorgaben gerecht wird.
  3. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die fehlende Produktneutralität auf sachlichen Gründen beruht, liegt beim Auftraggeber. Hierzu bedarf es einer detaillierten und dokumentierten Begründung.

Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) hatte für den Umbau eines Berufschulzentrums das Gewerk „Mobilwände“ im offenen Verfahren nach EG-VOB/A europaweit ausgeschrieben. Gegenstand war die Lieferung und Montage von 100 laufenden mobilen Trennwandanlagen aus Verbundwerkstoff und Glas. Nach Wertung der Angebote wurde Bieter C über die Absicht des AG informiert, den Zuschlag auf das Angebot des Bieters A zu erteilen; C war nach Bieter A und B Drittplatzierter. C rügte darauf seine Nichtberücksichtigung und trug vor, dass die beiden vor ihm platzierten Bieter die geforderten Kriterien nach dem LV nicht einhielten. Nach Nichtabhilfe seiner Rüge beantragte er Nachprüfung. In der mündlichen Verhandlung hatte die VK u.a. den Sachverhalt hinsichtlich einer möglichen Vorbefassung des Bieters C aufzuklären.

Die Entscheidung

Die VK gibt hier Bieter C zwar Recht, ordnet aber die Zurückversetzung des Verfahrens vor Versendung der Vergabeunterlagen an. Die VK verweist dabei auf frühere Rechtsprechung der VK Bund (Beschl. vom 16.03.2015-VK 2-9/15) sowie der VK Sachsen-Anhalt (Beschl.vom 16.09.2015-3 VK LSA 62/15) und führt folgendes aus:

Die Entscheidung, welcher Gegenstand mit welchen Eigenschaften beschafft werden solle, obliege dem öffentlichen Auftraggeber. Dieser sei in der Auswahl der von ihm zu beschaffenden Gegenstände grundsätzlich frei. Der AG müsse allerdings wegen drohender Ermessenüberschreitung vermeiden, durch zu spezifische technische Vorgaben das Gebot der produktneutralen Ausschreibung zu verletzen. Grenze des Bestimmungsrechts des öffentlichen AG sei die Verpflichtung zur produktneutralen  Ausschreibung.

Nach  § 7 EG Abs. 8, Satz 1 VOB/A a.F. dürfe in technischen Anforderungen nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren oder auf Marken, Patente oder Typen eines bestimmten Ursprungs verwiesen werden, wenn dadurch bestimmte Unternehmen oder bestimmte Produkte begünstigt oder ausgeschlossen würden, es sei denn, dies sei durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt. Mit dem seit 18.04.2016 geltenden und im vorliegenden Falle anwendbaren § 7 Abs. 2 Satz 1 EU VOB/A sei der Halbsatz neu eingefügt worden, dass nicht auf eine bestimmte Produktion oder Herkunft oder ein besonderes Verfahren verwiesen werden dürfe, „das die von einem bestimmten Unternehmen bereitgestellten Produkte charakterisiere“.

Gegen diese Verpflichtung werde nicht nur dann verstoßen, wenn ein Leitfabrikat offen und explizit in der Leistungsbeschreibung benannt worden sei, sondern auch dann, wenn durch die Vielzahl der Vorgaben verdeckt ein Leitfabrikat ausgeschrieben werde, weil nur ein einziges Produkt allen Vorgaben gerecht werden könne. Sinn und Zweck der hersteller- und produktoffenen Ausschreibung sei es, ein möglichst breites Anbieterfeld zu gewährleisten oder anders ausgedrückt, sachlich nicht durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigte Wettbewerbsverengungen bzw. -verzerrungen zu verhindern.

Nach dem Ergebnis der Befragung in der mündlichen Verhandlung habe sich der Verdacht einer verdeckten Leitfabrikatausschreibung zur Überzeugung der Kammer erhärtet. Nach Darstellung des C und des AG in der mündlichen Verhandlung sei die Leistungsbeschreibung der Mobilwände das Ergebnis intensiver Abstimmungen zwischen  dem  AG und C  im Vorfeld der Ausschreibung gewesen, weshalb  die Leistungsbeschreibung im Detail exakt einem Produkt des C entsprochen habe, ohne jedoch dieses Leitfabrikat im LV offen zu benennen. C habe sich somit sicher sein können, dass er diese Vorgaben im LV erfüllen werde, während die beigeladenen  A und B sowohl nach dem Vortrag des C, aber auch nach dem Vortrag der Beigeladenen selbst, diese Vielzahl an Anforderungen nicht hätten erfüllen können.

Rechtliche Würdigung

Bestimmte Produkte  dürfen nur gefordert werden, wenn dies durch den Auftragsgegenstand gerechtfertigt ist. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die fehlende Produktneutralität auf sachlichen Gründen beruht, liegt dabei beim AG. Hierzu bedarf es einer detaillierten und dokumentierten Begründung. Das neue Vergaberecht 2016 verlangt in § 8 Abs. 1 VgV eine sehr detaillierte, fortlaufende Dokumentation in Textform, soweit dies für die Begründung von Entscheidungen auf jeder Stufe des Verfahrens erforderlich ist. Dazu gehören u.a. auch die Dokumentation der Kommunikation mit Unternehmen und interne Beratungen sowie die Vorbereitung der Auftragsbekanntmachung und der Vergabeunterlagen.

Eine konkrete sachliche Begründung der Vielzahl der Vorgaben des im LV verdeckt und nicht offen (und damit für die anderen Bieter nicht transparent erkennbare Festlegung auf ein Leitfabrikat) ausgeschriebenen Leitfabrikats war im vorliegenden Fall jedoch nicht dokumentiert.

Das Vergabeverfahren verstößt damit gegen den Grundsatz der produktneutralen Ausschreibung gemäß § 7 Abs. 2 EU VOB/A 2016 (vgl. §  7 Abs. 8 EG-VOB/A a.F.) sowie gegen die in § 8 Abs.1 VgV (vgl. § 20 EG-VOB/A a.F.) aktuell geregelte und durch den AG  zu befolgende Dokumentationspflicht. Der AG hat hier deshalb bei fortbestehender Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren in den Stand vor der Versendung der Vergabeunterlagen zurück zu versetzen und den Bietern Gelegenheit zur erneuten Angebotsabgabe auf Basis einer transparenten und produktneutralen Vorgabe zu geben.

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Praxistipp

Der vergaberechtliche Dauerbrenner „produktneutrale Ausschreibung“ bleibt auch im neuen Vergaberecht virulent und wird – wie die VK hier hinweist – durch den in § 7 Abs. 2 Satz 1 EU VOB/A eingefügten Halbsatz eher verschärft. Allen Auftraggeber ist daher zu raten, bei einer Festlegung auf ein bestimmtes Produkt in der Ausschreibung gemäß § 8 VgV sehr genau und sorgfältig zu dokumentieren und zu begründen, aus welchen Gründen auf ein konkretes  Leitfabrikat abgestellt wird.

Bietern ist zu raten, bei einer offenen wie verdeckten Ausschreibung von sog. Leitfabrikaten ganz genau hinzusehen und zu prüfen, ob das (bieterschützende) Gebot der produktneutralen Ausschreibung eventuell verletzt ist.

Anmerkung der Redaktion

Die rechtssichere Gestaltung der Vergabe von Bau- und Planungsleistungen ist Gegenstand des Bau-Vergabetag 2017, der am 16.02.2017 in Berlin stattfinden wird. Das Programm sowie eine Anmeldemöglichkeit findet Sie unter www.bau-vergabetag.de/ [1].

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Über Michael Werner [2]

Michael Werner ist Rechtsanwalt und bei der DEGES GmbH [3] in Berlin tätig. Herr Werner ist Experte im deutschen und europäischen Vergaberecht sowie im Bauvertragsrecht. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war Herr Werner langjähriger Leiter der Rechtsabteilung des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie e.V. und Mitglied im Deutschen Vergabe - und Vertragsausschuss des Bundes (DVA).

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