- Vergabeblog - https://www.vergabeblog.de -

Schwellenwertberechnung: Auftragswerte zusammengehörender Leistungen sind zu addieren (OLG Köln, Beschl. v. 24.10.2016 – 11 W 54/16)

Die ordnungsgemäße Schätzung des Auftragswertes nach § 3 VgV stellt den Rechtsanwender wiederholt vor schwierige Abgrenzungsfragen. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Einzelaufträge einem Gesamtauftrag zuzurechnen sind, so dass sie in der Summe den Gesamtauftragswert bilden. Im Bereich der Vergabe von Bauleistungen musste das OLG Köln eine solche Frage für den Fall beantworten, dass der öffentliche Auftraggeber beabsichtigte, Leistungen in verschiedenen Abschnitten ausführen zu lassen. In einem solchen Fall ist nach dem OLG Köln von einem Gesamtauftrag auszugehen, sofern die einzelnen Leistungen in wirtschaftlicher und technischer Hinsicht eine innere Kohärenz und eine funktionale Kontinuität aufweisen. Was dies im konkreten Fall bedeutet, soll im Folgenden dargestellt werden:

§ 3 VgV n.F.

Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber schreibt nach den Vorschriften des 1. Abschnitts der VOB/A Bagger- und Transportleistungen an einer Bundeswasserstraße aus. Nach Vorliegen des Submissionsergebnisses hebt der Auftraggeber das Vergabeverfahren auf und teilt mit, die Leistungen in einem erneuten, diesmal europaweiten, Vergabeverfahren nach der VOB/A-EU ausschreiben zu wollen. Der in der ursprünglichen Ausschreibung nach durchgeführter Submission auf dem ersten Wertungsrang liegende Bieter will die Aufhebung des Verfahrens jedoch nicht akzeptieren und beantragt zunächst vor dem Landgericht Bonn und sodann vor dem OLG Köln den Erlass einer einstweiligen Verfügung mit dem Inhalt, dass dem Auftraggeber untersagt wird, ein erneutes Vergabeverfahren durchzuführen.

Hintergrund dieses Antrages ist, dass der Bestbieter den Zuschlag im ursprünglichen Verfahren erhalten will. Der Bieter ist der Ansicht, zur Berechnung des Auftragswertes sei lediglich auf den Wert der konkreten Leistung, also der Bagger- und Transportleistung abzustellen. Die Angebotssumme des Bieters lag hierfür bei ca. 2,5 Millionen netto. Der Auftraggeber war jedoch der Ansicht, dass zur Berechnung des Gesamtauftragswertes zudem auf den Auftrag Entsorgung von Baggergut abzustellen sei, welchen der betreffende Bieter bereits zu einer Angebotssumme von ca. 4 Millionen netto erhalten hatte.

Die Entscheidung

Das OLG Köln weist den Antrag zurück. Die Aufhebung des nationalen Vergabeverfahrens sei nicht zu beanstanden, da aufgrund des Überschreitens des entsprechenden Schwellenwertes zwingend ein europaweites Vergabeverfahren nach den Regelungen des Oberschwellenbereiches durchzuführen ist. Im Zuge der Begründung beschäftigt sich das OLG damit, nach welchen Kriterien der Auftragswert gemäß § 3 VgV zu bestimmen ist, wenn Leistungen in einzelnen Abschnitten vergeben werden. Hierzu referiert das OLG die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, welche auch Grundlage der Gesetzesbegründung für die Vergaberechtsreform im April 2016 gewesen ist. Hiernach darf bei der Schätzung des Auftragswertes keine Aufteilung der Leistung vorgenommen werden, wenn diese im Hinblick auf ihre technische und wirtschaftliche Funktion einen einheitlichen Charakter aufweist. Sämtliche Leistungen sind im Rahmen einer funktionellen Betrachtungsweise auf das Bestehen organisatorischer, inhaltlicher, wirtschaftlicher sowie technischer Zusammenhänge zu überprüfen. Wenn zwischen Teilaufträgen unter Zugrundelegung dieser Kriterien eine Verbundenheit festzustellen ist, sind die Einzelaufträge als einheitlicher (Gesamt-)Auftrag anzusehen.

Die Auftragswerte sind auch dann zu addieren, wenn diese nicht gleichzeitig, sondern abschnittsweise ausgeführt werden sollen. Für den konkreten Fall kommt das OLG Köln zu dem Ergebnis, dass ein solcher Zusammenhang zwischen allen zur Erreichung des Werkerfolges (Freihaltung der Fahrrinne) erforderlichen Leistungen bestehe. Hierbei handelte es sich um die Arbeitsschritte auslagern, Transport des Baggergutes sowie Entsorgung des Baggergutes. Diese drei Leistungen bauen unmittelbar aufeinander auf und bedingten sich mit der Folge, dass sie notwendig in enger räumlicher, zeitlicher und technischer Abstimmung zu koordinieren seien. Aus diesem Grunde hätte der Auftraggeber die (geschätzten) Auftragswerte für alle Leistungen in einem ersten Schritt zusammenrechnen und aufgrund des Überschreitens des Schwellenwertes, auch wenn jeder Einzelauftrag für sich genommen den Schwellenwert unterschreitet, nach den Regelungen des Oberschwellenbereiches vergeben müssen.

Rechtliche Würdigung

Das OLG Köln bestätigt mit seiner Entscheidung insbesondere das in § 3 Abs. 2 VgV verankerte Verbot, Leistungen zum Zwecke der Umgehung der Vorschriften des Oberschwellenbereiches aufzuteilen. Diese Feststellung ist insbesondere deshalb relevant, da das deutsche Vergaberecht (obwohl unionsrechtlich nicht vorgeschrieben) in § 97 Abs. 3 GWB den Grundsatz der Losvergabe vorschreibt. Dieser kann dazu führen, dass auch Einzelaufträge mit den maßgeblichen Schwellenwert für Bauleistungen weit unterschreitenden Auftragsvolumina nach den Regeln der VOB/A-EU zu vergeben sind. Wenn solche Einzelaufträge Leistungen betreffen, die aufeinander aufbauen und einander bedingen, also für den Projekterfolg insgesamt erforderlich sind, sind diese in die Auftragswertberechnung einzustellen. Am Ende seiner Entscheidung erwähnt das OLG Köln, ohne dass es hierauf in der Entscheidung angekommen wäre, die erheblich praxisrelevante Neufassung des § 3 Abs. 6 Satz 1 VgV. Dieser beinhaltet, dass bei der Schätzung des Auftragswertes von Bauleistungen auch der geschätzte Gesamtwert aller Liefer- und Dienstleistungen zu berücksichtigen ist, die für die Ausführung der Bauleistung erforderlich sind und vom öffentlichen Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden. Nach dieser Vorschrift, welche erst im Zuge der Vergaberechtsreform 2016 in die VgV aufgenommen wurde, dürften zukünftig mehr Aufträge als bisher in einem europaweiten Vergabeverfahren zu vergeben sein.

Praxistipp

Öffentlichen Auftraggebern sollte diese Entscheidung vor Augen führen, dass eine solide Kostenschätzung vor Beginn jeder (Bau-)Maßnahme zwingend erforderlich ist, um zu ermitteln, nach welchem Vergaberegime die Leistungen vergeben werden müssen. Wird hierbei zu ungenau vorgegangen oder eigentlich zusammenzurechnende Leistungen nicht addiert, kann dies gravierende Folgen haben. So kann es sowohl zu erheblichen Zeitverzögerungen kommen, welche auch im Verfahren des OLG Köln eingetreten sein dürften, da hier die bereits nahezu abgeschlossene Vergabe aufgehoben und erneut durchgeführt werden musste.

(Noch) schlimmere Folgen kann eine fehlerhafte Berechnung des Schwellenwertes bei öffentlich geförderten Projekten haben, da die Anwendung des falschen Vergaberegimes der Regel einen schweren Vergabeverstoß darstellen dürfte, welcher jedenfalls zur teilweisen Rückforderung gewährter Zuwendungen führen kann. In diesem Zusammenhang sei auch an das kürzlich von Europäischen Kommission eingestellte Vertragsverletzungsverfahren in Sachen Stadt Elze [1] erinnert, welches die gängige Praxis bei der Schätzung des Auftragswertes bei der Vergabe von Architekten- und Ingenieurleistungen betraf. Hier zielte die Argumentation der Kommission insbesondere darauf ab, dass zwischen den einzelnen Leistungsbildern der HOAI ein funktioneller Zusammenhang und eine innere Kohärenz bestehe, so dass die jeweiligen Auftragswerte zu addieren seien.

Obwohl der Beschluss des OLG Köln nur eine Bauvergabe betraf, sind die Grundsätze der Schwellenwertberechnung bei der Vergabe sämtlicher Leistungen anzuwenden. Hier ist weiterhin erhebliche Vorsicht geboten.


Hinweis der Redaktion:
Der Autor Rechtsanwalt Oskar Maria Geitel hält in unserer DVNW-Akademie das Seminar „Die UVgO – Reform des Vergaberechts unterhalb der Schwellenwerte“ am 28.06.2017 in Frankfurt am Main. Weitere Informationen sowie eine Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier [2].
[3]


 

Avatar-Foto

Über Dr. Oskar Maria Geitel [4]

Dr. Oskar Maria Geitel ist Fachanwalt für Vergaberecht und Rechtanwalt bei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB [5] in Berlin. Er berät öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Konzeption und Gestaltung sowie der anschließenden Durchführung von Vergabeverfahren. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Tätigkeit stellt die rechtliche Begleitung von Bauvorhaben bezüglich aller Fragen des Baurechts dar, welche sich unmittelbar an die Begleitung des Vergabeverfahrens anschließt. Herr Geitel ist Kommentarautor, Lehrbeauftragter für Vergaberecht und Dozent bei diversen Bildungseinrichtungen.

Teilen
[7] [8] [9] [10] [11]