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Praktische Anwendungsmöglichkeiten für das dynamische Beschaffungssystem

Das in §§ 120 Abs. 1 GWB, 22 – 24 VgV geregelte dynamische Beschaffungssystem fristet bislang ein Schattendasein. Uns ist kein einziger Fall bekannt, in dem es im Rahmen einer Auftragsvergabe eingesetzt wird oder wurde. Wir meinen, dass das dynamische Beschaffungssystem in zumindest einer Fallkonstellation eine interessante Alternative gegenüber etablierten Instrumenten bieten kann.

Wesen des dynamischen Beschaffungssystems

Das dynamische Beschaffungssystem ähnelt der Rahmenvereinbarung mit mehreren Auftraggebern. Es dient der Beschaffung marktüblicher (d.h. standardisierter) Leistungen über einen begrenzten Zeitraum (§§ 22 Abs. 1, 23 Abs. 1 VgV). Es muss elektronisch betrieben werden (§ 22 Abs. 3 VgV). Während der gesamten Vertragslaufzeit kann jedes interessierte Unternehmen dem System beitreten (§ 22 Abs. 4 VgV), daher auch die Bezeichnung „dynamisch“. Dieser offene Charakter des dynamischen Beschaffungssystems ist auch der zentrale Unterschied zur Rahmenvereinbarung: Mit Abschluss der Rahmenvereinbarung stehen der/die Vertragspartner des öffentlichen Auftraggebers fest, neue Vertragspartner können während der Vertragslaufzeit nicht hinzukommen. Auch im Hinblick auf den Beschaffungsgegenstand scheint das dynamische Beschaffungssystem zumindest nach dem Gesetzeswortlaut im Vergleich zur Rahmenvereinbarung flexibler: Bei der Rahmenvereinbarung ist das „in Aussicht genommene Volumen…so genau wie möglich zu ermitteln und bekannt zu geben“ (§ 21 Abs. 1 S. 2 VgV). Beim dynamischen Beschaffungssystem reicht es hingegen aus, dass mit Inbetriebnahme des Systems „die Art und die geschätzte Menge der gewünschten Leistungen“ bekannt gegeben werden (§ 23 Abs. 3 VgV). Offenbar erkennt die Beschaffungspraxis in dieser größeren Flexibilität jedoch keinen hinreichenden Mehrwert dafür, sich auf dieses neue Instrument einzulassen. In der Praxis scheinen die Fälle selten zu sein, in denen die zu beschaffende Leistung einerseits für eine Rahmenvereinbarung nicht hinreichend präzise beschreibbar ist (sondern nur „der Art nach“ bestimmbar), andererseits aber für ein dynamisches Beschaffungssystem standardisiert genug ist. Auch im Hinblick auf den potentiellen Vertragspartner scheint es so zu sein, dass die Flexibilität, die eine Rahmenvereinbarung mit mehreren Auftragnehmern bietet, als hinreichend empfunden wird. Womöglich wird die Offenheit für Unternehmer beim dynamischen Beschaffungssystem vielfach auch als Nachteil empfunden, weil dies die Kalkulation für die Unternehmen erschwert, was sich negativ auf den Preis auswirken kann.

Flexibler als eine Rahmenvereinbarung

Für Einkaufsgemeinschaften und sonstige zentrale Beschaffungsstellen nach § 120 Abs. 1 GWB ist die Rahmenvereinbarung mit mehreren Auftragnehmern aber auch in anderer Hinsicht unflexibel: Die Vertragspartner auf Auftraggeberseite müssen nach dem Gesetzeswortlaut von Anfang an bestimmt sein (§ 21 Abs. 2 S. 2 VgV). Dies macht es gerade bei langfristigen Rahmenvereinbarungen schwer, auf Schwankungen auf der Auftraggeberseite zu reagieren, insbesondere neue interessierte Auftraggeber einzubinden. In der Vergangenheit haben daher zentrale Beschaffungsstellen auf verschiedene Art und Weise auf diesen Umstand reagiert. So genügt es wohl schon, wenn der Kreis der abrufberechtigen öffentlichen Auftraggeber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bestimmbar und nicht schon abschließend bestimmt ist (vgl. Erwägungsgrund 60 der RL 2014/24/EU). Dadurch ist es möglich, den Kreis der abrufberechtigten Auftraggeber auf eine bestimmte Kategorie innerhalb eines regional begrenzten Gebietes zu beschränken, ohne diese namentlich zu benennen.

Andere zentrale Vergabestellen sind dazu übergegangen, als Wiederverkäufer aufzutreten, wie es auch nach § 120 Abs.4 S.2 GWB zulässig ist. Dabei erwirbt die Einkaufsgemeinschaft zunächst (und sei es auch nur für eine juristische Sekunde) die Waren und Dienstleistungen aus dem Rahmenvertrag und veräußert diese dann weiter an den jeweiligen öffentlichen Auftraggeber. In diesem Fall trägt die Einkaufsgemeinschaft allerdings das Risiko, dass sie bei Streitigkeiten zwischen Auftragnehmer und öffentlichem Auftraggeber möglicherweise in Vorleistung gehen muss.

Nachträgliche Änderungen auf Auftraggeberseite möglich

Beim dynamischen Beschaffungssystem fehlt eine dem § 21 Abs. 2 S. 2 VgV entsprechende Bestimmung. Folgt daraus, dass anders als bei der Rahmenvereinbarung Auftraggeber nachträglich hinzutreten können, dass das dynamische Beschaffungssystem also sowohl auf Unternehmer- wie auch auf Auftraggeberseite offen ist? Die Richtlinie schweigt hierzu. Der Beantwortung dieser Frage nähert man sich daher am besten, indem man nach dem Sinn dieser Beschränkung fragt: Bei der Rahmenvereinbarung muss sich jeder Marktteilnehmer auf Grundlage der Bekanntgabe entscheiden, ob er ein Angebot zwecks Einbindung in die Rahmenvereinbarung abgeben möchte. Die Hinzunahme neuer Auftraggeber ändert das Beschaffungsvorhaben grundlegend. Wer genau Auftraggeber ist, kann darüber entscheiden, ob eine Angebotsabgabe für bestimmte Marktteilnehmer interessant ist oder nicht. So kann z.B. ein Markteilnehmer seine Angebotsabgabe davon abhängig machen, wie weit die Auftraggeber von seinem Standort entfernt sind. Aus Gründen der Transparenz muss die Identität der Auftraggeber daher Gegenstand der Bekanntmachung sein und diese Information darf nicht durch nachträgliche Änderungen plötzlich nicht mehr den Tatsachen entsprechen. Beim dynamischen Beschaffungssystem kann dagegen jeder Marktteilnehmer Änderungen auf Auftraggeberseite zum Anlass nehmen, dem System nunmehr beizutreten. Die Transparenz wird hier daher nicht beeinträchtigt. Im Ergebnis kann das Schweigen des Gesetzgebers daher nur so interpretiert werden, dass das dynamische Beschaffungssystem nicht nur allen Unternehmen offensteht, sondern auch offen gegenüber weiteren öffentlichen Auftraggebern ist. Einkaufsgemeinschaften und andere zentrale Vergabestellen, die für wechselnde öffentliche Auftraggeber tätig werden, können daher das dynamische Beschaffungssystem nutzen, um flexibel auf Änderungen auf der Auftraggeberseite reagieren zu können.

Reines Online-Verfahren

Notwendig dafür sind allerdings nicht zu unterschätzende technische Voraussetzungen: Ein dynamisches Beschaffungssystem wird ausschließlich online betrieben. Da mehrere Auftragnehmer regelmäßig an dem System teilnehmen muss eine technische Möglichkeit bestehen, unterschiedliche Angebote von den geeigneten Bietern für deren Leistungen zu hinterlegen und (ggf. tagesaktuell) anzupassen. Im Gegensatz zur Angebotsabgabe mittels eines elektronischen Katalogs, der weitestgehend statisch und unverändert über die ganze Vertragslaufzeit bleibt, müssen die technischen Voraussetzungen beim dynamischen Beschaffungssystem (der Name sagt es schon) wesentlich dynamischer sein und den zugelassenen Bietern einen eigenen Zugang zum System gewähren. Der öffentliche Auftraggeber muss sich wiederum darauf einstellen, über die gesamte Vertragslaufzeit erneut in die Eignungsprüfung eintreten zu müssen, wenn ein neuer Auftragnehmer den Zugang zum System begehrt. Dies ist technisch keineswegs unmöglich. Gleichwohl sind die Anforderungen für alle Beteiligten bei der Nutzung des dynamischen Beschaffungssystems erhöht.

Zusammenfassend: Wenn die notwendigen technischen Voraussetzungen existieren, bietet das dynamische Beschaffungssystem eine attraktive Möglichkeit für zentrale Beschaffungsstellen, flexibel auf Veränderungen auf der Auftraggeberseite zu reagieren und gleichzeitig einen konstanten Konkurrenzdruck auf die Bieter aufrecht zu erhalten, um möglichst attraktive Angebote zu erhalten.

 

Kontribution
Dieser Beitrag wurde von Herrn Prof. Dr. Einmahl in Zusammenarbeit mit Herrn RA André Siedenberg verfasst.

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Über Prof. Dr. Matthias Einmahl [1]

Prof. Dr. Matthias Einmahl ist seit 2005 Professor an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Köln. Er lehrt dort Zivilrecht, öffentliche Beschaffung/Vergaberecht und juristische Methodik. Prof. Dr. Matthias Einmahl hat zudem einen Lehrauftrag im Masterstudiengang New Public Management der FH Dortmund für das Modul öffentliche Beschaffung/Vergaberecht. Er war zwischen 1996 und 2004 Richter und kurzzeitig Staatsanwalt in Halle/Saale. Prof. Dr. Matthias Einmahl forscht und publiziert auf den Gebieten der öffentlichen Beschaffung und der Korruptionsprävention. Zu diesen Themen führt er auch Fortbildungen durch und berät Kommunen.

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Über André Siedenberg [3]

André Siedenberg ist Berater bei der Kommunal Agentur NRW [4]und Rechtsanwalt in Düsseldorf. In dieser Funktion unterstützt er öffentliche Auftraggeber und NGO’s bei verschiedenen vergaberechtlichen Fragestellungen. Nach seinem Referendariat in Würzburg war er zunächst im Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes Nordrhein-Westfalen im Referat für Vergaberecht beschäftigt.

 

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Über Prof. Dr. Matthias Einmahl [1]

Prof. Dr. Matthias Einmahl ist seit 2005 Professor an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Köln. Er lehrt dort Zivilrecht, öffentliche Beschaffung/Vergaberecht und juristische Methodik. Prof. Dr. Matthias Einmahl hat zudem einen Lehrauftrag im Masterstudiengang New Public Management der FH Dortmund für das Modul öffentliche Beschaffung/Vergaberecht. Er war zwischen 1996 und 2004 Richter und kurzzeitig Staatsanwalt in Halle/Saale. Prof. Dr. Matthias Einmahl forscht und publiziert auf den Gebieten der öffentlichen Beschaffung und der Korruptionsprävention. Zu diesen Themen führt er auch Fortbildungen durch und berät Kommunen.

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