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Schätzung des Auftragswerts: Schwellenwertberechnung kann nachgeholt werden! (OLG Celle, Beschl. v. 29.06.2017 – 13 Verg 1/17)

Der Auftraggeber muss anhand objektiver Kriterien eine Prognose über den voraussichtlichen Auftragswert erstellen und dies ordnungsgemäß in der Vergabeakte dokumentieren. Aus dem Einsatz von Städtebauförderungsmitteln lassen sich keine verlässlichen Rückschlüsse auf den Auftragswert ziehen. Ist im Zeitpunkt der Ausschreibung noch nicht abzuschätzen, welchen konkreten Umfang und welche Dauer die zu vergebenden Leistungen haben werden, kann kein Gesamtpreis angegeben werden. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Umfang der Sanierungsträgerleistungen noch nicht feststeht. Die Dokumentation der Auftragswertschätzung bzw. der Schwellenwertberechnung kann im Nachprüfungsverfahren nachgeholt werden.

§§ 149, 159 Abs. 2, 164a BauGB, 106 GWB, 3 VgV

Sachverhalt

Die Parteien streiten um die Vergabe von Sanierungsträgerleistungen im Zusammenhang mit städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen im Stadtgebiet der Auftraggeberin. Die Auftraggeberin plant städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen im Gebiet ihrer Altstadt mit einem Volumen von über EUR 4 Mio. Die Sanierungsträgerleistungen (u.a. Leistungen des Projektmanagements) belaufen sich auf EUR 313.080 (brutto) bei einer angenommenen Gesamtlaufzeit von 10 Jahren. Dieser Betrag entspricht der (üblichen) Kappungsgrenze in Höhe von 6% des Gesamtvolumens und im Ergebnis den maximal förderfähigen Kosten. Der Wert des Dienstleistungsauftrags wird von dem Auftraggeber gemäß § 3 Abs. 11 VgV allerdings nach dem 48-fachen Monatswert geschätzt. Dafür hat der Auftraggeber den sich aus der geschätzten Verfahrensdauer von 10 Jahren ergebenden mittleren Monatswert errechnet, mit 48 multipliziert und daraus einen Auftragswert in Höhe von unter EUR 150.000 (netto) ermittelt. Der Auftraggeber schreibt die Sanierungsträgerleistungen dementsprechend national aus. Der Antragsteller (ASt) rügt das Unterbleiben einer europaweiten Ausschreibung und legt nach Zurückweisung der Rüge einen Nachprüfungsantrag ein. Der ASt argumentiert im Wesentlichen, dass der Auftragswert den EU-Schwellenwert von EUR 209.000 (netto) überschreite, da auf den Betrag der Kappungsgrenze als mögliches Maximalhonorar abzustellen sei. Die Vergabekammer widerspricht der Argumentation des ASt und weist den Nachprüfungsantrag als unzulässig zurück. Der Auftragswert überschreite nicht den maßgeblichen Schwellenwert gem. § 106 GWB. Das Vergabeverfahren sei daher einer Überprüfung durch die Vergabekammer nicht zugänglich. Bei Aufträgen über Liefer- oder Dienstleistungen, für die kein Gesamtpreis angegeben werde, sei in Abweichung zu § 3 Abs. 1 VgV gemäß § 3 Abs. 11 VgV der 48-fache Monatswert Berechnungsgrundlage für den geschätzten Auftragswert. Der ASt legt dagegen sofortige Beschwerde ein.

Die Entscheidung

Ohne Erfolg! Der Nachprüfungsantrag ist unzulässig. Der in Rede stehende Auftragswert liegt unterhalb des für das Eingreifen des Vergaberechtsregimes hier maßgeblichen Schwellenwerts (§ 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB).

Bei der Schätzung des Auftragswerts ist vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer, mithin dem Nettobetrag, auszugehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 VgV). Etwaige Optionen oder Vertragsverlängerungen sind zu berücksichtigen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 VgV), ebenso vom Auftraggeber vorgesehene Prämien oder Zahlungen (§ 3 Abs. 1 Satz 3 VgV). Bei Aufträgen über Liefer- und Dienstleistungen, für die kein Gesamtpreis angegeben wird, ist gemäß § 3 Abs. 11 VgV Berechnungsgrundlage für den geschätzten Auftragswert bei zeitlich begrenzten Aufträgen mit einer Laufzeit von bis zu 48 Monaten der Gesamtwert für die Laufzeit dieser Aufträge (Nr. 1), und bei Aufträgen mit unbestimmter Laufzeit oder einer Laufzeit von mehr als 48 Monaten der 48-fache Monatswert (Nr. 2).

Der Auftraggeber muss eine ernsthafte Prognose über den voraussichtlichen Auftragswert nach objektiven Kriterien erstellen oder erstellen lassen. Die Prognose zielt darauf ab, festzustellen, zu welchem Preis die in den Vergabeunterlagen beschriebene Leistung voraussichtlich unter Wettbewerbsbedingungen beschafft werden kann. Der Wert darf nicht in der Absicht geschätzt oder aufgeteilt werden, den Auftrag der Anwendung der Vergabebestimmungen zu entziehen (vgl. § 3 Abs. 2 VgV). Im Nachprüfungsverfahren trägt der Antragsteller die Darlegungs- und Beweislast für die Frage, ob der Schwellenwert erreicht oder überschritten ist; entscheidend ist die Sicht ex-ante. Hält sich der Auftraggeber innerhalb dieses Rahmens, steht ihm ein Beurteilungsspielraum zu, der von den Nachprüfungsinstanzen beachtet werden muss. Wegen der Bedeutung des Schwellenwertes ist es erforderlich, dass die Vergabestelle die ordnungsgemäße Ermittlung des geschätzten Auftragswerts in einem Aktenvermerk festhält, wobei die Anforderungen an die Genauigkeit der Wertermittlung und der Dokumentation steigen, je mehr sich der Auftragswert dem Schwellenwert annähert.

Dem pflichtgemäß geschätzten Auftragswert liegt der Wert zugrunde, den ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des relevanten Marktsegmentes und im Einklang mit den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Finanzplanung bei der Anschaffung der vergabegegenständlichen Sachen bzw. Leistungen veranschlagen würde. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Schätzung ist der Tag der Absendung der Auftragsbekanntmachung oder Einleitung des Vergabeverfahrens auf sonstige Weise (§ 3 Abs. 3 VgV).

Der Auftraggeber durfte den Auftragswert in zulässiger Weise unter Rückgriff auf den 48-fachen Monatswert der in Rede stehenden Sanierungsträgerleistungen berechnen. Der Auftraggeber hat sein Unvermögen, einen Gesamtpreis anzugeben, nachvollziehbar damit begründet, dass im Zeitpunkt der Ausschreibung nicht abzuschätzen war, welchen Umfang und welche Dauer die zu vergebende Leistung haben würde. Im Zeitpunkt der Ausschreibung war nicht abzuschätzen, welchen Umfang und welche Dauer die zu vergebende Leistung haben würde, womit die von den Bietern lediglich abgefragten Stundensätze und die noch nicht abschließend festgelegte nur pauschal beschriebene Aufgabenstellung korrelieren. Der Auftragsumfang war mithin nicht abschließend festgelegt und Änderungen denkbar.Gegen die Möglichkeit, einen bestimmten Auftragswert zu benennen, spricht ferner die ungewisse Dauer der Maßnahme.

Etwas anderes folgt auch nicht aus der Kosten- und Finanzübersicht. Aus dem dort aufgeführten Betrag in Höhe von EUR 313.080 (brutto) lassen sich keine belastbaren Schlussfolgerungen für den in Rede stehenden Auftragswert für die Vergabe der Sanierungstreuhänderleistungen ziehen. Dieser Betrag entspricht lediglich dem maximal förderfähigen Betrag für die Sanierungsträgerleistungen (6% vom Gesamtbetrag ohne Grunderwerb), er kann nicht mit dem Auftragswert gleichgesetzt werden. Abweichendes ergibt sich auch nicht aus den Vorschriften des Baugesetzbuchs über den Ablauf von städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen (§§ 136 ff. BauGB; siehe dazu ausführlich die Ausführungen des Senats unter den Ziffer 61 ff. des Beschlusses).

Unerheblich war im Ergebnis, dass der Auftraggeber (zunächst) keine ordnungsgemäße Schätzung des Auftragswerts in den Vergabeakten dokumentiert hatte. Er hat diese durch die Übergabe von Dokumenten in der mündlichen Verhandlung (!) während des Nachprüfungsverfahrens nachgeholt und damit den Dokumentationsfehler geheilt.

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Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung ist richtig.

1. Erstens muss der Auftraggeber bei der Auftragswertschätzung nur solche Umstände berücksichtigen, die auf Grundlage objektiver Kriterien hinreichend wahrscheinlich sind. Wenn der Auftraggeber sich auf § 3 Abs. 11 VgV berufen möchte und angibt, dass kein Gesamtpreis angegeben werden kann, muss er dies nachvollziehbar begründen. Dies hatte der Auftraggeber vorliegend getan und sein Unvermögen, einen Gesamtpreis anzugeben, nachvollziehbar damit begründet, dass er im Zeitpunkt der Vergabebekanntmachung nicht abschätzen konnte, welchen Umfang und welche Dauer die zu vergebende Leistung haben würde. Es war für den Auftraggeber unklar, welchen Umfang und welche Dauer die zu vergebende Leistung haben würde. Der Auftragsumfang war mithin nicht abschließend festgelegt und Änderungen denkbar, so dass für die Wertberechnung vorliegend der 48-fache Monatswert herangezogen werden durfte.

2. Zutreffend ist zweitens die Entscheidung des Senats, wonach die fehlerhafte Dokumentation im Nachprüfungsverfahren (vorliegend sogar erst in der mündlichen Verhandlung) nachgebessert und damit der Vergabeverstoß geheilt werden kann. Dies ist seit der Entscheidung des BGH vom 8. Februar 2011 zum Az. X ZB 4/10 ganz herrschende Meinung und wird in diesem Sinne auch von dem hier zuständigen Senat vertreten (vgl. Senatsbeschlüsse vom 10. November 2016 zum Az. 13 Verg 7/16 und vom 13. Mai 2013 zum Az. 13 Verg 13/12).

3. Schließlich sind drittens auch die Ausführungen des Senats zur Unmaßgeblichkeit der Vorschriften des Baugesetzbuches über den Ablauf von städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen (§§ 136 ff. BauGB) und insbesondere des § 159 BauGB für die hier in Rede stehende Auftragswertschätzung nach § 3 Abs. 11 VgV nicht zu beanstanden. Sie stehen der mangelnden Möglichkeit der Schätzung der Sanierungsträgerleistungen nicht entgegen. Eine genaue Leistungsbeschreibung ist für die hier in Rede stehenden Sanierungsträgerleistungen im Regelfall kaum möglich, weil zu Beginn einer Sanierungsmaßnahme die einzelnen anfallenden Aufgaben in ihrem wirklichen Leistungsumfang in der Regel nicht übersehen werden können. Die Vergütung lässt sich im Zeitpunkt der Bekanntmachung der Höhe nach nur schwer im leistungsgerechten Umfang vorhersehen. Es ist daher auch nach der vom Senat zitierten Literatur üblich, dass die Gemeinden einen Rahmenvertrag schließen, der nur eine grobe Umschreibung der vom Träger zu erbringenden Leistungen und die Berechnungsart der an den Träger zu zahlenden Vergütung nach Stundensätzen sowie allgemeine Regelung zur Vertragsabwicklung zum Inhalt hat.

Praxistipp

Bei Aufträgen über Liefer- und Dienstleistungen, für die kein Gesamtpreis angegeben wird, ist gemäß § 3 Abs. 11 VgV Berechnungsgrundlage für den geschätzten Auftragswert bei zeitlich begrenzten Aufträgen mit einer Laufzeit von bis zu 48 Monaten der Gesamtwert für die Laufzeit dieser Aufträge (Nr. 1), und bei Aufträgen mit unbestimmter Laufzeit oder einer Laufzeit von mehr als 48 Monaten der 48-fache Monatswert (Nr. 2). Dabei muss sich die Schätzung nicht auf einen nur möglichen, aber keineswegs sicheren höheren Gesamtumfang stützen. Wegen der hohen Bedeutung des Schwellenwertes für das Vergabeverfahren ist es erforderlich, dass die Vergabestelle die ordnungsgemäße Ermittlung des geschätzten Auftragswerts in einem Aktenvermerk festhält, wobei die Anforderungen an die Genauigkeit der Wertermittlung und der Dokumentation steigen, je mehr sich der Auftragswert dem Schwellenwert annähert. Unabhängig davon, dass die Dokumentation der Schwellenwertberechnung in einem etwaigen Nachprüfungsverfahren nach überwiegender Auffassung nachgeholt werden kann, sollte diese von Anfang an ordnungsgemäß erfolgen; dies vor allem immer dann, wenn der geschätzte Auftragswert bei Liefer- und Dienstleistungsvergaben oberhalb von EUR 150.000 (netto) liegt.

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Über Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG [2]

Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte [3] in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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