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Keine Addition der Auftragswerte bei Hauptauftrag und begleitenden Beratungsleistungen (VK Bund, Beschl. v. 01.06.2017 – VK 1-47/17)

EntscheidungBeratungsleistungen für die Vergabe eines öffentlichen Auftrags sind nicht auch nicht im Wege einer funktionalen Gesamtbetrachtung als Teil des Hauptauftrags anzusehen. Der Auftragswert baubegleitend ausgeschriebener Rechtsberatungsleistungen wird nicht bei der Gesamtauftragswertschätzung mit dem Auftragswert des Hauptauftrags der Bauleistung addiert. Beratungsleistungen sind nicht auch nicht im Wege einer funktionalen Gesamtbetrachtung als Teil des Hauptauftrags anzusehen.

GWB § 106 Abs. 2, VgV § 3 Abs. 6

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb europaweit einen Bauauftrag aus. Bestandteil des Auftrags sollten auch vergabe- und vertragsrechtliche Beratungsleistungen für die Dauer von zwei Jahren nach Vertragsschluss sein. Nach der Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens im Hinblick auf die Vergabe bildete der Auftraggeber vier Lose und schloss interimsweise einen Vertrag mit einer Anwaltskanzlei über konkret bezeichnete vergabe- und vertragsrechtliche Beratungsleistungen für den Zeitraum bis zum Abschluss des zum damaligen Zeitpunkt anhängigen Beschwerdeverfahrens zum Hauptauftrag. Nach eigenen Angaben hatte der Auftraggeber hierfür eine freihändige Vergabe mit beschränktem Teilnahmewettbewerb durchgeführt. Die Antragstellerin wandte sich dagegen mit einem Nachprüfungsantrag. Sie machte geltend, vorher hätte eine Bekanntmachung im EU-Amtsblatt erfolgen müssen. Der maßgebliche Schwellenwert sei nämlich überschritten, da der Wert des Hauptauftrags bei der Berechnung des Auftragswerts der Beratungsleistungen hätte berücksichtigt werden müssen. Es liege ein einheitlicher Auftrag und zugleich eine Vorwegnahme der Leistung des Hauptauftrags vor, weil Beratungsleistungen aus dem Interimsauftrag und der Hauptauftrag auf einer im Wesentlichen identischen Leistungsbeschreibung beruhen würden und vom Auftragnehmer des Interimsauftrags auf den Auftragnehmer des Hauptauftrags übergehen sollten.

Die Entscheidung

Der Nachprüfungsantrag blieb ohne Erfolg! Die VK Bund verwarf ihn als unzulässig. Der nach § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i.V.m. Art. 4 lit. d) der Richtlinie 2014/24/EU maßgebliche Schwellenwert von 750.000 Euro sei vorliegend nicht überschritten. Die vier Lose des Interimsvertrags seien nicht als Lose des Bauauftrags zu sehen, dem sie letztlich dienen sollen. Weder seien die Beratungsleistungen i.S.d. § 3 Abs. 6 Abs. 1 VgV für die Ausführung des Bauauftrags erforderlich, da das Bauvorhaben auch ohne sie realisiert werden könne; noch würden sie dem Auftragnehmer vom Auftraggeber für die Bauleistung zur Verfügung gestellt. Damit seien Beratungsleistungen nicht als Teil des Bauauftrags anzusehen.

Etwas anderes folge nach Auffassung der VK Bund auch nicht aus der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 15.03.2012, C-574/10 Autalhalle Niedernhausen Rn. 50).  Der EuGH spreche sich zwar für eine funktionale Betrachtungsweise der Frage aus, ob ein einheitlicher Auftrag vorliegt. Jedoch müssten auch danach die Beratungsleistungen derart mit dem Bauauftrag verknüpft sein, dass sie davon nicht trennbar sind. Da die Annahme einer solch engen Verknüpfung mit einer Bauleistung nach dem EuGH schon bei Architektenleistungen ausscheide, müsse dies erst recht für juristische Beratungsleistungen in Bezug auf einen Bauauftrag gelten.

Sodann befasst sich die VK Bund ausführlich mit der Berechnung des Auftragswerts der Beratungsleistungen selbst: Der Auftragswert des Hauptauftrags, der ja ebenfalls Beratungsleistungen zum Inhalt habe, sei hierbei nicht hinzuzurechnen. Die Leistungen des Interimsauftrags und des Hauptauftrags würden nicht in wirtschaftlicher oder technischer Sicht aufeinander aufbauen. Vielmehr sei der Bedarf für den Interimsauftrag erst durch den für den Hauptvertrag anhängigen Nachprüfungsantrag entstanden. Er lässt den Bedarf für den Hauptauftrag hier auch unberührt. Dies schließe eine funktionale Gesamtbetrachtung beider Abschnitte ebenfalls aus.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der VK Bund macht deutlich, dass auch im Rahmen einer funktionalen Betrachtung der Funktionszusammenhang zwischen Beratungsdienstleistungen und dem Hauptauftrag stets im Blick behalten werden muss. Der Anwendungsbereich des europäischen Vergaberechts kann auch infolge der funktionalen Betrachtung nicht beliebig ausgeweitet werden.

Gestützt wird die ausführlich begründete Auffassung der VK Bund insbesondere durch die amtliche Begründung zu der Verordnung der Bundesregierung zur Modernisierung des Vergaberechts (BT-Drs. 18/7318, S. 148). In der Begründung zu § 3 Abs. 6 VgV heißt es nämlich, diese Vorschrift beziehe sich ausschließlich auf die unmittelbar für die Errichtung eines Bauwerks erforderlichen Dienstleistungen. Nur in diesem Zusammenhang stehende Dienstleistungen seien gemeint. § 3 Abs. 6 VgV bezwecke hingegen nicht, eine gemeinsame Vergabe von Bau- und Planungsleistungen vorzuschreiben. Dass auch einer funktionalen Betrachtungsweise gewisse Grenzen gesetzt sind, lässt sich also auch der amtlichen Begründung zu § 3 Abs. 6 VgV durchaus entnehmen.

Überzeugend ist die Entscheidung der VK Bund im Ergebnis auch deswegen, weil sie den Umstand berücksichtigt, dass der Auftraggeber vorliegend gerade nicht von vornherein den gesamten Auftrag künstlich unterteilen wollte. Die Notwendigkeit eines Interimsauftrags ist schließlich durch das Nachprüfungsverfahren in Bezug auf den Hauptauftrag entstanden. Ferner bestand auf Seiten des Auftraggebers nicht vornherein der Wille, die benötigten Dienstleistungen zwecks Umgehung des EU-Vergaberechts in mehrere Abschnitte zu unterteilen. Gerade aber diese künstliche Aufteilung will der EuGH schließlich durch eine funktionale Betrachtungsweise unterbinden (EuGH, Urt. v. 15.03.2012, C-574/10 Autalhalle Niedernhausen, Rdnr. 36). Daher steht die Entscheidung der VK Bund im Einklang mit der Linie des EuGH.

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Praxistipp

Auch bei Zugrundelegung einer funktionalen Betrachtungsweise im Rahmen der Schwellenwertermittlung sind der Zusammenrechnung von Aufträgen Grenzen gesetzt: Nur dort, wo die Verknüpfung zwischen einer Baudienstleistung und einer begleitenden Beratungsleistung derart eng ist, dass die erste nicht ohne die zweite möglich ist, muss addiert werden. Dies wird manchem Auftraggeber sicher gelegen kommen, gerade wenn es um die Beauftragung von Projektantenleistungen (d.h. Hilfestellung bei der Vergabe als solcher) geht.

Sofern es nicht um bauauftragsbegleitende Beratungsleistungen, sondern um Fachplanungsleistungen geht, gelten einer aktuellen Entscheidung des OLG München zufolge dieselben Grundsätze. Im Ergebnis aber wird hier im Unterschied zu juristischen Beratungsleistungen die enge Verknüpfung bei funktionaler Betrachtung eher gegeben sein (OLG München, Beschl. v. 13.03.2017 Verg 15/16).

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Über Dr. Michael Sitsen [2]

Dr. Michael Sitsen ist Rechtsanwalt bei Orth Kluth Rechtsanwälte [3] in Düsseldorf und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er berät und begleitet seit vielen Jahren Auftraggeber und Bieter bei Ausschreibungen aller Art. Neben dem Vergaberecht gehört auch das Beihilfenrecht zu seinen Beratungsschwerpunkten. Er hält Schulungen zum Vergaberecht, u.a. für den Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME), und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen. Vor seiner anwaltlichen Tätigkeit war er mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter des bekannten Vergaberechtlers Prof. Dr. Jost Pietzcker in Bonn.

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