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Nachträgliche Einführung von Unterkriterien bzw. Gewichtungskoeffizienten für Unterkriterien und Schadensersatz wegen außervertraglicher Haftung des Auftraggebers (EuGH, Urt. v. 20.12.2017, C-677/15 P)

Entscheidung-EUDer Europäische Gerichtshof hat sich in einem Grundsatzurteil vom 20. Dezember 2017 zur Anwendung der Grundsätze von Chancengleichheit und Transparenz sowie außervertragliche Haftung aufgrund von Begründungsmängeln geäußert. Dem Beitrag liegt die Nichtigerklärung einer Vergabeentscheidung und deren gerichtliche Überprüfung im Rechtsmittelverfahren durch den Gerichtshof der Europäischen Union zu Grunde.

Leitsatz des Bearbeiters

Eine außervertragliche Haftung setzt einen Kausalzusammenhang zwischen der materiellen Rechtswidrigkeit der Bewertung des Angebotes und dem Verlust einer Chance voraus.

Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, Art. 100 Abs. 2 Unterabs. 1 und 2 der Haushaltsordnung sowie Art. 149 der Durchführungsbestimmungen, Art. 296 Abs. 2 AEUV, Art. 340 Abs. 2 AEUV

Sachverhalt

Im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung über einen Auftrag der u. a. die externe Bereitstellung von Dienstleistungen für das Programm- und Projektmanagement und technische Beratung im Bereich Informationstechnologien zum Gegenstand hatte, griff ein öffentlicher Auftraggeber für die technische Beurteilung der Angebote auf fünf Zuschlagskriterien, von denen die ersten beiden Kriterien weitere Unterkriterien aufwiesen, zurück. Nach erfolgter Wertung durch einen Bewertungsausschuss, informierte der Auftraggeber die Bieterin, dass das von ihr abgegebene Angebot an die dritte Stelle gesetzt wurde.

Die hiergegen gerichtete Klage beim EUGH, die Vergabeentscheidung des Auftraggebers für nichtig zu erklären und zusätzlich den durch den Verlust einer Chance, sowie die damit einhergehende Schädigung des guten Rufes und der Glaubwürdigkeit entstandenen Schaden der Bieterin zu ersetzen, hatte in wesentlichen Punkten Erfolg.

Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass der öffentliche Auftraggeber bei der Wertung zweien der fünf Unterkriterien nachträglich ein größeres Gewicht als den anderen im Rahmen des ersten Zuschlagskriteriums genannten Unterkriterien beigelegt habe. Dies begründe einen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit und der Transparenz. Ferner leide die Vergabeentscheidung an offensichtlichen Beurteilungsfehlern, da der öffentliche Auftraggeber im Nachhinein ein zusätzliches Unterkriterium in die Wertung einbezogen habe.

Hinsichtlich des Schadensersatzes erkannte das Gericht an, dass der Verlust der Chance, den die Bieterin erlitt, einen tatsächlichen und sicheren Schaden im Sinne der Rechtsprechung unter Beachtung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes gemäß Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, darstellt.

Hiergegen legte der Auftraggeber ein Rechtsmittel nach Artikel 56 der Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Union ein, um das Urteil auf Rechtsfehler überprüfen zu lassen.

Die Entscheidung

Das Gericht stellt fest, dass es zulässig sein kann, nachträglich Gewichtungskoeffizienten für Unterkriterien zu bilden, wenn diese im Wesentlichen den Kriterien entsprechen, die den Bietern vorher zur Kenntnis gebracht wurden. Die Zulässigkeit wird an drei Voraussetzungen geknüpft:

1) Die Gewichtung darf die in den Verdingungsunterlagen oder in der Vergabebekanntmachung bestimmten Zuschlagskriterien nicht ändern.

2) Die Gewichtung darf nichts enthalten, was, wenn es bei der Vorbereitung der Angebote bekannt gewesen wäre, diese Vorbereitung hätte beeinflussen können.

3) Die Gewichtung darf nicht unter Berücksichtigung von Umständen gewählt worden sein, die einen der Bieter diskriminieren konnte.

Bezüglich des offensichtlichen Beurteilungsfehlers wegen eines im Nachhinein einbezogenen zusätzlichen Unterkriterium in die Wertung, hat das Gericht festgestellt, dass ein offensichtlicher Beurteilungsfehler in Bezug auf ein Zuschlagskriterium nicht die Nichtigerklärung einer Vergabeentscheidung rechtfertigt, wenn diese andere Gesichtspunkte enthält, die für sich genommen genügen, um sie rechtlich zu begründen.

Zum anderen hat die Überprüfung der Entscheidung ergeben, dass die Haftung zwingend einen Kausalzusammenhang zwischen der festgestellten materiellen Rechtswidrigkeit der Bewertung des Angebotes und dem Verlust einer Chance voraussetzen.

Rechtliche Würdigung

Aufschlussreich ist die Entscheidung des Rechtsmittelverfahrens hinsichtlich der Benennungen von materiellen Anforderungen für die Zulässigkeit einer nachträglichen Gewichtung von Unterkriterien. Letztlich darf es zwar nicht überraschen, dass die Addition der drei Kriterien in ihrer Gesamtheit die Verwirklichung der Grundsätze von Transparenz und Gleichbehandlung ergibt. Allerdings gibt das Gericht Auftraggebern konkrete Prüfschritte für den Umgang mit Unterkriterien an die Hand, die ggf. sogar als Auslegungs- und Argumentationshilfe dienen können.

Wesentlich unscheinbarer wirkt die Feststellung des Gerichts über die Einbeziehung eines im Nachhinein einbezogenen zusätzlichen Unterkriterium in die Wertung. Letztlich öffnet das Ergebnis der Rechtmittelüberprüfung eine Hintertür zu Gunsten des Auftraggebers. Dieser soll hiernach in der Lage sein, seine Vergabeentscheidung auch bei Vorliegen einer partiell fehlerhaften Wertung bzw. unzureichenden Begründung oder einem offensichtlichen Beurteilungsfehler vor einer Nichtigerklärung bewahren zu können, wenn seine Entscheidung andere Gesichtspunkte enthält, die für sich genommen genügen, um sie rechtlich zu begründen. Im Ergebnis dürfte es in der Praxis auf die Frage hinauslaufen, ob sich ein Fehler in der Wertung auf die Rangfolge der Bieter ausgewirkt hat. Diese Möglichkeit ist von Seiten der Auftraggeber ebenfalls zu begrüßen, da diese bei umfangreichen Auftragsvergaben mit komplexer und damit fehleranfälligeren Wertungen, nicht befürchten müssen, dass das Ergebnis ihrer Entscheidung einer rein formalen Alles-oder-Nichts-Prüfung unterzogen wird.

Im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens nutze dem Auftraggeber dieser Einwand aber nichts, da er es versäumt hat zu erklären bzw. darzutun, dass im vorliegenden Fall die Vergabeentscheidung ohne die verschiedenen Verstöße nicht günstiger für die Bieterin hätte sein können und damit nicht nachgewiesen hat, dass sich der Fehler in der Wertung nicht auf die Rangfolge der Bieter ausgewirkt hat.

Letztlich hat das Gericht im angefochtenen Urteil den erforderlichen Kausalzusammenhang rechtlich nicht hinreichend nachgewiesen. Insbesondere hat es nicht festgestellt, ob und inwieweit die Bieterin angesichts des Sachverhalts ohne die vom Auftraggeber begangenen Fehler an die erste Stelle gesetzt geworden wäre und den fraglichen Auftrag erhalten hätte.

Insoweit ist ein Anspruch auf Schadensersatz zutreffend versagt worden.

Praxistipp

Die Verwendung von Unterkriterien sowie deren Gewichtung darf nicht dazu führen, dass diese rein ergebnisorientiert eingesetzt werden.

Sofern der Einsatz von Unterkriterien zu einem Vergabefehler führt, sollte der Auftraggeber den Nachweis erbringen, dass sich dieser Fehler nicht auf die Wertung bzw. die daraus resultierende Rangfolge der beteiligten Bieter ausgewirkt hat.

Bei der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches müssen Bieter darauf achten, dass sie einen Kausalzusammenhang zwischen der Rechtswidrigkeit der Bewertung ihres Angebotes und dem Verlust einer Chance den ausgeschriebenen Auftrag zu erhalten, nachweisen.

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Über Robin Bonsack [1]

Robin Bonsack ist seit 2014 bei der Förder- und Investitionsbank Niedersachsen-NBank tätig. Als stellvertretender Teamleiter ist er mitverantwortlich für die Bearbeitung der Themen Vergaberecht, Zuwendungsrecht und EU-Beihilfenrecht. Neben vergaberechtlichen Prüfungen führt er Schulungen mit den Schwerpunkten Zuwendungs- sowie Vergaberecht durch und bearbeitet darüber hinaus Grundsatzfragen im Bereich des EU-Beihilfenrechts.

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