- Vergabeblog - https://www.vergabeblog.de -

Zur Ausschreibung der Nachrüstung von Abfallsammelbehältern mit Ident-Chips (VK Hessen, Beschl. v. 17.05.2018 – 69d VK 2 – 18/2018)

EntscheidungEin Nachprüfungsantrag ist nur zulässig, wenn eine Rechtsverletzung oder ein drohender Schaden dargetan wird.

Wenn ein Bieter kein Angebot abgibt, muss er für jede Rüge dartun, dass die vermeintliche Rechtsverletzung ihn in eigenen Rechten verletzen würde. Insoweit gilt die im Rahmen des Art. 19 GG, § 42 Abs. 2 VwGO anerkannte Möglichkeitstheorie entsprechend auch im Vergaberecht.

§ 160 Abs. 2 VgV

Sachverhalt

Der Antragsgegner schrieb die Nachrüstung seines Bestands an Abfallsammelbehältern (ca. 170.000 Stück) mit Ident-Chips in einem offenen Verfahren aus. Der Behälterbestand beinhaltete dabei einen geringen Anteil an Abfallsammelbehältern, die werkseitig noch nicht über ein so genanntes Chip-Nest zur Aufnahme der Chips verfügt. Daher war Ausschreibungsgegenstand auch das Nachfräsen eines solchen Chipnests, wo dies notwendig war. Der Antragsgegner legte dabei den Bietern das Risiko auf, dass durch das Nachfräsen Abfallsammelbehälter kaputt gehen sollten.

Die spätere Antragstellerin rügte einen Tag vor Angebotsende insgesamt 18 vermeintliche Vergaberechtsverstöße und gab kein Angebot ab. Der Antragsgegner führte die Submission plangemäß am nächsten Tag durch und beantwortete das Rügeschreiben erst nach der Submission. Dabei half er einigen Rügen ab, andere wies er zurück.

Bereits zuvor, also vor Erhalt der Antwort auf ihre Rügen, leitete die Antragstellerin das Nachprüfungsverfahren ein. Mit ihrem Nachprüfungsantrag verfolgte sie ihre Rügen weiter.

Im Folgenden sollen nicht alle Rügen besprochen werden, sondern nur die rechtlich und praktisch interessanten Fragestellungen behandelt werden.

Die Entscheidung

Die Antragstellerin scheiterte mit ihre Nachprüfungsantrag. Der Nachprüfungsantrag erwies sich teilweise bereits als unzulässig, im Übrigen als unbegründet.

Die Antragstellerin konnte für eine Vielzahl von Rügen keine subjektive Rechtsverletzung bzw. keinen drohenden Schaden darlegen.

Nur bespielhaft erwähnt sei die Rüge der vermeintlich rechtswidrig unterbliebenen Losteilung. Die Antragstellerin sah die Notwendigkeit, ein Fachlos nur für das Nachfräsen zu bilden. Da sie aber gleichzeitig erklärte, sie könne auch ohne Losteilung ein Angebot abgeben, sah die Vergabekammer insoweit keine Rechtsverletzung.

Weiter wurde vorgetragen, das Nachfräsen verstoße gegen arbeitsschutzrechtliche Vorschriften. Auch hier sah die Vergabekammer keine Antragsbefugnis, da die Einhaltung von Vorschriften des Arbeitsschutzrechts nicht in ihre Prüfungskompetenz falle.

Ebenso sah die Vergabekammer keine Rechtsverletzung in dem Umstand, dass die Bieter das Beschädigungsrisiko im Falle des Nachfräsens zu tragen hatten.

Unter anderem für die nachfolgenden Rügen hat die Vergabekammer die Antragsbefugnis der Antrgastellerin bejaht:

  1. Vorgabe, dass elektronische Angebote nur mit fortgeschrittener oder qualifizierter elektronischer Signatur eingereicht werden konnten.
  2. Zeitliches Zusammenfallen von Angebotsfristende und Angebotsöffnung.
  3. Länge der Bindefrist

Die Vorgabe einer fortgeschrittenen oder qualifizierten elektronischer Signatur für die elektronische Angebotseinreichung hat die Vergabekammer akzeptiert, da der Antragsgegner ein nach § 53 Abs. 3 VgV erhöhtes Sicherheitsniveau dargelegt hat. Der Antragsgegner hatte insoweit vorgetragen, dass ein hart umkämpfter Markt vorliege und insoweit die Angebotsinhalte vor dem Zugriff Dritter geschützt werden müsse.

Das zeitliches Zusammenfallen von Angebotsfristende und Angebotsöffnung (beide Termine waren in den Vergabeunterlagen auf den 27.03.2018 um 12:00 Uhr festgelegt) sei bereits nach § 55 Abs. 2 statthaft. Im Übrigen läge zwischen Angebotsende und Angebotsöffnung eine juristische bzw. logische Sekunde. Außerdem reiche es, wenn sicher gestellt ist, dass die Angebotsöffnung nach der Angebotsfrist stattfinde. Das war ausweislich der Niederschrift über die Eröffnung der Angebote gegeben.

Auch die als zu lang gerügte Bindefrist (vorgegeben war als Ende der Bindefrist der 31.07.2018, Angebotseröffnung war am 27.03.2018) hielt die Vergabekammer für angemessen. Der Antragsgegner hatte sich für die Bemessung der Bindefrist darauf berufen, dass er notwendige Gremienläufe, die Angebotswertung und eine mögliche Vergabenachprüfung berücksichtigt habe. Vor diesem Hintergrund hielt die Vergabekammer die viermonatige Bindefrist für angemessen.

In ihrer Kostenentscheidung bejahte die Vergabekammer die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Verfahrensbevollmächtigten für den Antragsgegner. Zur Begründung führte sie aus, dass in diesem Nachprüfungsverfahren nicht nur auftragsbezogene Sach- und Rechtsfragen gehörten, sondern darüber hinaus auch Rechtsfragen, die gerade vor dem Hintergrund der Vergaberechtsmodernisierung nicht ohne anwaltliche Hilfe beantwortet werden können. Außerdem sei eine anwaltliche Unterstützung auch vor dem Hintergrund der Waffengleichheit und der umfangreichen Rügen und kurzen Fristen.

Rechtliche Würdigung

Der Entscheidung der Vergabekammer ist in allen Punkten zuzustimmen. Insbesondere ist der Vergabekammer dabei beizupflichten, dass nur insoweit Nachprüfung verlangt werden kann, als es um die Verletzung subjektiver Bieterrechte geht. Dogmatisch hätte m.E. auch die Rüge des Zusammenfallens von Angebots- und Bindefrist als unzulässig eingeordnet werden müssen, da auch insoweit keine Rechtsverletzung erkennbar ist.

Zuzustimmen ist der Vergabekammer vor allem im Hinblick auf die Zulässigkeit einer viermonatigen Bindefrist. Aus der eigenen Beratungspraxis kann der Verfasser bestätigen, dass insbesondere die Einbindung der politischen Gremien auf der Zeitschiene große Probleme bereiten kann. Als Denkanstoß sei darauf hingewiesen, dass die Zuschlagsentscheidung in nahezu allen Fällen eine rechtlich gebundenen Entscheidung ist; das Gremium also nur eine einzige rechtmäßige Entscheidung treffen kann. Wenn das so ist sollte man daher darüber nachdenken, ob nicht bereits bei dem Beschluss, eine Ausschreibung zu starten schon eine Ermächtigung für die Verwaltung ausgesprochen wird, entsprechend dem Ausschreibungsergebnis auch den Zuschlag zu erteilen.

Praxistipp

Für die Bieter: Prüfen Sie immer sorgfältig, ob bei einem möglichen Vergaberechtsverstoß auch eine Verletzung in eigenen Rechten oder ein drohender Schaden dargetan werden kann. Ist das nicht der Fall, ist eine Nachprüfung nicht nur erfolglos, sondern auch noch teuer. Teuer deswegen, weil im vorliegenden Fall die Antragstellerin neben den Gebühren der Vergabekammer auch die Anwaltskosten des Antragsgegners (neben den eigenen) zu tragen hat.

Und warten Sie bitte eine Antwort der Vergabestelle auf ihre Rüge ab, bevor Sie einen Nachprüfungsantrag stellen.

Für die öffentlichen Auftraggeber: Von praktischer Relevanz sind vor allem die Ausführungen zu der hier zulässigen viermonatigen Bindefrist. Gleichwohl ist davor zu warnen, dies als Freibrief für lange Bindefristen zu verstehen. Es ist immer im konkreten Einzelfall zu prüfen, wie lange die Bindefrist sein darf. Immerhin ist durch diese Entscheidung klar, dass ein mögliches Nachprüfungsverfahren bei der Bemessung der Bindefrist ebenso berücksichtigt werden darf wie die notwendige Gremienbefassung.

Der Verfasser hat in diesem Nachprüfungsverfahren den Antragsgegner vertreten.

Avatar-Foto

Über Martin Adams, Mag. rer. publ. [1]

Herr Martin Adams, Mag. rer. publ. ist Rechtsanwalt und Inhaber der Kanzlei _teamiur_Rechtsanwälte [2], Mannheim. Herr Adams berät bundesweit öffentliche Auftraggeber bei Ausschreibungen und in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren, insbesondere im Bereich der Abfallwirtschaft. Darüber hinaus veröffentlicht er regelmäßig Beiträge in entsprechenden Fachmedien und tritt als Referent in Fachseminaren auf.

Teilen
[4] [5] [6] [7] [8]