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Freihändige Vergabe in Polen – Immer mehr Aufträge werden ohne Wettbewerb vergeben

Das polnische Vergabegesetz sieht vor, dass öffentliche Auftraggeber den Auftrag nach Verhandlungen mit nur einem Unternehmen vergeben können (sog. Freihändige Vergabe). Andere potentielle Bieter werden in diesem Verfahren nicht zur Verhandlung eingeladen. Von einem solchen Verfahren können interessierte Bieter auch erst nach Vertragsschluss erfahren. Denn eine freihändige Vergabe muss nicht zwingend vor dem Vertragsschluss bekannt gemacht werden.

Wann ist die freihändige Vergabe in Polen zulässig?

Der Auftrag kann vor allem dann freihändig vergeben werden, wenn Lieferungen, Dienstleistungen oder Bauleistungen nur durch ein Unternehmen erbracht werden können, und zwar aus technischen Gründen objektiver Art, aus Gründen im Zusammenhang mit dem Schutz von ausschließlichen Rechten oder falls der Auftrag im kreativen oder künstlerischen Bereich zu vergeben ist.

Eine Freihändige Vergabe ist auch dann zulässig, wenn im Hinblick auf eine besondere Situation, die sich aus Gründen ergibt, die nicht vom Auftraggeber zu vertreten sind und von ihm nicht vorausgesehen werden konnten, der Auftrag dringend ausgeführt werden muss.

Von einem wettbewerblichen Vergabeverfahren kann auch abgesehen werden, wenn in einem vorher durchgeführten wettbewerblichen Verfahren kein Teilnahmeantrag eingegangen ist oder kein Angebot abgegeben wurde, beziehungsweise wenn alle Angebote wegen deren Unvereinbarkeit mit der Beschreibung des Auftragsgegenstandes abgelehnt worden sind oder alle Bieter von dem Verfahren ausgeschlossen wurden und die ursprünglichen Auftragsbedingungen nicht wesentlich geändert worden sind.

Des Weiteren kann der Auftrag dem bisherigen Anbieter von Dienstleistungen oder Bauleistungen freihändig vergeben werden, wenn dies in der Bekanntmachung des Hauptauftrags vorgesehen war, der Auftrag dem Gegenstand des Hauptauftrags entspricht und in der Wiederholung von vergleichbaren Dienstleistungen oder Bauleistungen besteht. Bezieht sich der Auftrag auf zusätzliche Lieferaufträge, die eine teilweise Ersetzung der gelieferten Produkte oder Anlagen oder die Erhöhung laufender Lieferungen oder die Erweiterung bestehender Anlagen zum Zweck haben, so kann er dem bisherigen Anbieter vergeben werden, wenn bei Auftragnehmerwechsel der Auftraggeber das Material mit anderen technischen Eigenschaften erwerben müsste, was zu einer technischen Inkompatibilität oder zu unverhältnismäßig großen technischen Schwierigkeiten bei der Nutzung und Instandhaltung dieser Produkte oder Anlagen führen würde.

Ein Rechtsinstitut, das Polen als eines der wenigen EU-Länder eingeführt hat, ist die sog. Inhouse-Vergabe. Bei der Inhouse-Vergabe an eine juristische Person müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

– Der öffentliche Auftraggeber übt über die juristische Person eine ähnliche Kontrolle wie über seine eigenen Organisationseinheiten aus und diese Kontrolle beruht auf dem beherrschenden Einfluss auf die strategischen Ziele und maßgebliche Entscheidungen bezüglich der Verwaltung der Angelegenheiten der kontrollierten juristischen Person;

– Mehr als 90% der Tätigkeiten der kontrollierten juristischen Person müssen sich auf die Ausübung der Aufgaben beziehen, mit denen sie vom beherrschenden öffentlichen Auftraggeber betraut wurde;

– An der kontrollierten juristischen Person besteht keine direkte private Kapitalbeteiligung.

Freihändige Vergabe in der polnischen Praxis

Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Auftragsbekanntmachung und mit nur einem Anbieter sind nach den unionsrechtlichen Vorschriften zulässig. Und sie kommen auch in anderen Mitgliedstaaten vor. Allerdings sieht das polnische Recht sehr viele Gründe für die Freihändige Vergabe vor. Obwohl sich Pendants dazu oft auch in den Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten oder aber unmittelbar im Unionsrecht finden, werden die Gründe für die Wahl eben dieses Vergabeverfahrens in letzter Zeit sehr weit, sogar liberal, verstanden.

Anders als in den zurückliegenden Jahren wählen polnische Auftraggeber diese Vergabeform immer öfter. Mehr und mehr findet die Freihändige Vergabe in Polen bei besonders staatsrelevanten Aufträgen mit sehr hohem Auftragswert Verwendung. Freihändig werden Aufträge sowohl durch zentrale öffentliche Auftraggeber (z.B. eines der letzten Vergabeverfahren für die Beschaffung von Hubschraubern für die Polizei) als auch kleinere öffentliche Auftraggeber, davon im kommunalen Bereich (Auftragsvergaben zur Abholung von Siedlungsabfällen an eigene, oft gerade für diesen Zweck gegründete Gesellschaften) vergeben. Obwohl die Freihändige Vergabe nach den unionsrechtlichen Vorschriften angesichts der negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb nur unter sehr außergewöhnlichen Umständen zur Anwendung kommen sollte, kann man den Eindruck gewinnen, dass sie in Polen ihren außergewöhnlichen Charakter verliert.

Die Wahl dieser Vergabeform durch den öffentlichen Auftraggeber kann angefochten werden. In Streitfällen in diesem Bereich entscheiden die Landesberufungsbehörde (poln. abgekürzt: KIO, zentrale Nachprüfungsstelle in Polen) und – im zweiten Rechtszug – ordentliche Gerichte (Bezirksgerichte).

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Über Anna Specht-Schampera [1]

Anna Specht-Schampera ist Rechtsanwältin der Sozietät sdzlegal Schindhelm [2]in Breslau (Wroclaw) und Warschau (Warszawa), Polen. Sie berät in‐ und ausländische Unternehmen im Bereich des Vergabe- und Baurechts. Im Rahmen ihrer vergaberechtlichen Tätigkeit berät sie insbesondere Mandaten aus der Bau- und Eisenbahnindustrie sowie aus der Medizin‐ und Abfallwirtschaft. Sie vertritt Unternehmen bei der Realisierung der größten Infrastrukturprojekte in Polen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Verfahren vor der Nationalen Beschwerdekammer und vor den Berufungsgerichten. Sie ist Vorstandsmitglied des Vereins für Vergaberecht. Des Weiteren ist sie Mitglied des Gesamtpolnischen Vereins der Konsultanten des öffentlichen Vergabewesens und ständige Mitarbeiterin des Branchenmagazins „Przetargi Publiczne“ (“Öffentliche Ausschreibungen”). Anna Specht‐Schampera führt sowohl in polnischer als auch in deutscher Sprache regelmäßig Seminare für Unternehmen und an Universitäten durch.

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