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EuGH schränkt Flexibilität von Rahmenvereinbarungen ein (EuGH, Urt. v. 19.12.2018 – C-216/17 – „Antitrust und Coopservice“)

Entscheidung-EUIn der Beschaffungspraxis (z.B. Klärschlammentsorgung) sind Rahmenvereinbarungen heute kaum mehr wegzudenken. Denn häufig ist eine genaue, abschließende Bestimmung des zu beschaffenden Leistungsvolumens nicht möglich. Mit Hilfe von Rahmenvereinbarungen können öffentliche Auftraggeber ihren Beschaffungsbedarf flexibel eindecken. So regelt das deutsche Vergaberecht, dass das in Aussicht genommene Auftragsvolumen so genau wie möglich zu ermitteln, aber nicht abschließend anzugeben ist. Breite Anwendung findet das Beschaffungsinstrument auch deshalb, weil oftmals mehrere öffentliche Auftraggeber auf Grundlage derselben Rahmenvereinbarung Einzelaufträge vergeben.

Der EuGH musste nun zwei Fragen beantworten. Erstens: Wer kann auf Grundlage einer Rahmenvereinbarung überhaupt Einzelaufträge erteilen? Zweitens: Muss für die Rahmenvereinbarung eine Höchstmenge bestimmt werden?

§ 21 Abs. 1 u. 2 VgV, § 4a EU Abs. 1 u. 2 VOB/A; Art. 33 Abs. 1 RL 2014/24/EU.

Leitsatz

Eine Rahmenvereinbarung muss von Anbeginn die Höchstmenge der Leistungen bestimmen, die Gegenstand der Einzelaufträge sein können.

Sachverhalt

Eine italienische Gesundheitseinrichtung schloss im Jahr 2011 einen bis 2021 laufenden Vertrag über Reinigungs- und Abfallentsorgungsdienstleistungen. In den Vergabeunterlagen waren neben dem ausschreibenden öffentlichen Auftraggeber 18 weitere Gesundheitseinrichtungen als mögliche Auftraggeber in einer Erweiterungsklausel namentlich erwähnt (vgl. auch Rdnr. 21 der Schlussanträge des Generalanwaltes Campos Sanchez-Bordona vom 3.10.2018). Im Jahr 2015 beauftragte eine dieser Gesundheitseinrichtungen – ohne Vergabeverfahren – ebenfalls den Dienstleister (Rdnr. 18 ff.).

Gegen die Direktvergabe klagten das Reinigungsunternehmen Coopservice und die italienische Wettbewerbsbehörde Antitrust. Erstinstanzlich ohne Erfolg (Rdnr. 21 ff.).

Das zweite Instanzgericht ersuchte den EuGH zur Auslegung der Rahmenvereinbarung (Rdnr. 33).

Die Entscheidung

Das Vorabentscheidungsverfahren wurde vom EuGH auf Grundlage der zum 18.4.2016 aufgehobenen Richtlinie 2004/18/EG, nicht gemäß der aktuellen Richtlinie 2014/24/EU entschieden. Dafür war der Vertragsabschluss im Jahr 2011 maßgeblich (Rdnr. 46 f.).

Die Luxemburger Richter haben ferner klargestellt, dass der Vertrag über die Reinigungs- und Abfallentsorgungsdienstleistungen als Rahmenvereinbarung eingeordnet werden könne. Die Überschreitung der Regellaufzeit von vier Jahren ändere daran grundsätzlich nichts. Die Sicherstellung des ordnungsgemäßen Betriebs mehrerer Gesundheitseinrichtungen könne eine solche Laufzeitausnahme durchaus rechtfertigen (vgl. Rdnr. 48 der Schlussanträge des Generalanwaltes Campos Sanchez-Bordona vom 3.10.2018). Das Vorliegen eines laufzeitverlängernden Sonderfalls hat das nationale Gericht abschließend zu prüfen (Rdnr. 34 ff.).

In materieller Hinsicht beantwortete der EuGH zunächst die Frage, ob ein öffentlicher Auftraggeber eine Rahmenvereinbarung nur für sich selbst oder auch für andere, aber eindeutig und ausdrücklich genannte öffentliche Auftraggeber abschließen kann. Der EuGH bejaht dies, soweit die Anforderungen an die Publizität, Rechtssicherheit und damit an die Transparenz eingehalten werden (Rdnr. 56). Durch die Einbeziehung solcher „sekundärer“ Auftraggeber werde die praktische Wirksamkeit der Richtlinie sichergestellt. Die Effizienz des öffentlichen Beschaffungswesens werde verbessert, weil mit Hilfe von Rahmenvereinbarungen Sammelbestellungen ermöglicht werden, wodurch Skaleneffekte bei öffentlichen Aufträgen erzielt würden (Rdnr. 53).

Die zweite Vorlagefrage hingegen zielte darauf ab, ob für die abrufberechtigten sekundären Auftraggeber eine (Höchst-)Menge zu bestimmen ist oder die Einzelaufträge aufgrund des üblichen Bedarfs vergeben werden können. Nach Ansicht des EuGH muss unbedingt die Gesamtmenge für die Rahmenvereinbarung angegeben werden (Rdnr. 59).

Aus der Legaldefinition der Rahmenvereinbarung gehe nicht hervor, dass die Angabe der Leistungsmenge nur fakultativ sei, so die Luxemburger Richter. Danach sind in einer Rahmenvereinbarung, „die Bedingungen für die Aufträge, die im Laufe eines bestimmten Zeitraums vergeben werden sollen, festzulegen, insbesondere in Bezug auf den Preis und gegebenenfalls die in Aussicht genommene Menge.“ Aus dem Adverb „gegebenenfalls“ sei nicht abzuleiten, dass die Angabe des Auftragsvolumens nur möglich ist (Rdnr. 58 f.).

Der EuGH bekräftigt seine Rechtsauffassung mit vier Argumenten:

Erstens folge aus den Schätzregeln für den Wert der Rahmenvereinbarung, dass diese auch die Höchstmenge der Leistungen bestimmen muss, die Gegenstand der Einzelaufträge sein können. Maßgeblich sei der geschätzte Gesamtwert aller für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung geplanten Einzelaufträge. Außerdem sei nach den Bekanntmachungsmustern im Richtlinienanhang der veranschlagte Gesamtwert der Leistungen anzugeben. Lediglich die Häufigkeit und der Wert jedes einzelnen der abzuschließenden Einzelaufträge sei nicht zwingend bekanntzugeben (Rdnr. 60).

Zweitens müssen Einzelaufträge bei einer Rahmenvereinbarung mit einem einzigen Auftragnehmer entsprechend der Bedingungen der Rahmenvereinbarung vergeben werden. Daraus folge, dass der Auftragnehmer nur bis zu einer bestimmten Menge verpflichtet werden könne, und dass diese Rahmenvereinbarung ihre Wirkung verliere, wenn diese Menge erreicht ist. Dies gelte sowohl für den öffentlichen Auftraggeber selbst als auch für die sekundären Auftraggeber, die eindeutig in der Rahmenvereinbarung genannt werden (Rdnr. 61).

Drittens falle die Rahmenvereinbarung allgemein unter den Begriff „öffentlicher Auftrag“, weil sie die verschiedenen Aufträge, für die sie gilt, zu einem einheitlichen Auftrag zusammenfasst. Sowohl die Grundsätze der Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und der daraus folgende Grundsatz der Transparenz verlangen, dass alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens in der Bekanntmachung oder den Vergabeunterlagen klar, genau und eindeutig formuliert sind. Das Transparenz- und Gleichbehandlungsgebot werde hingegen beeinträchtigt, wenn die Gesamtmenge einer Rahmenvereinbarung nicht angegeben wird. Dies gelte insbesondere deshalb, weil die aufgrund der Rahmenvereinbarung zu vergebenden Einzelaufträge nicht mehr veröffentlicht werden. Außerdem könnte bei einer fehlenden Verpflichtung zur Angabe der Gesamtmenge einer Rahmenvereinbarung, ein Auftrag künstlich aufgespalten werden, um so die EU-Schwellenwerte zu unterschreiten (Rdnr. 62 ff.).

Viertens konkretisiere die Pflicht zur Angabe der Menge und des Leistungsbetrages das ausdrückliche Verbot, Rahmenvereinbarungen nicht missbräuchlich oder in einer Weise anzuwenden, durch die der Wettbewerb behindert, eingeschränkt oder verfälscht wird (Rdnr. 69).

Rechtliche Würdigung

Das Urteil erging noch zur alten RL 2004/18/EG. Der EuGH hat ausdrücklich nicht zur Rahmenvereinbarung gemäß der heute anwendbaren RL 2014/24/EU entschieden. Dies ist durchaus beachtlich, weil Art. 33 RL 2014/24/EU teilweise von der Vorläufernorm des Art. 32 RL 2004/18/EG inhaltlich abweicht. Gleichwohl ist die Entscheidung nicht überholt, vor allem mit Blick auf die zweite Vorlagefrage zur Angabe einer Höchstmenge. Im Einzelnen:

Die erste Vorlagefrage zum Kreis der abrufberechtigten Auftraggeber dürfte vom EuGH heute einfacher zu beantworten sein. Denn anders als die Altregelung nach Art. 32 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 2 RL 2004/18/EG bestimmt Art. 33 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2014/24/EU (vgl. auch § 21 Abs. 2 Satz 2 VgV, § 4a EU Abs. 2 Satz 2 VOB/A) klar und deutlich, dass Einzelaufträge – neben dem/den primär ausschreibenden öffentlichen Auftraggeber/n selbst – auch von solchen (sekundären) öffentlichen Auftraggebern vergeben werden können, die in der Auftragsbekanntmachung (bzw. in der Aufforderung zur Interessenbestätigung) eindeutig bezeichnet sind. Dies kann namentlich oder z.B. durch Bezugnahme auf eine bestimmte Kategorie öffentlicher Auftraggeber innerhalb eines klar abgegrenzten geografischen Gebiets erfolgen, so der Erwägungsgrund 60 zur RL 2014/24/EU.

Ein nachträglicher Beitritt zur Rahmenvereinbarung von in der Auftragsbekanntmachung (bzw. in der Aufforderung zur Interessenbestätigung) nicht klar, genau und eindeutig genannten öffentlichen Auftraggebern ist nach den heute gültigen Vorschriften allerdings nicht möglich. Solche Fälle dürften wohl nur unter den strengen Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 GWB zu lösen sein.

Der Richterspruch zur zweiten Vorlagefrage hingegen überrascht, weil die Rahmenvereinbarung als flexibles Beschaffungsinstrument beschnitten wird. Der EuGH verlangt letztlich die Angabe einer Höchstmenge, die von primären und sekundären öffentlichen Auftraggebern abgerufen werden kann. Eine bloß in Aussicht genommene Menge ohne Obergrenze genügt nicht zur flexiblen Beschaffung. Die Luxemburger Richter dürften ein ähnliches Judiz – zum Leidwesen der öffentlichen Auftraggeber – auch unter der geltenden Rechtslage fällen. Warum?

Zum einen ist der argumentative Ausgangspunkt wortlautgleich, nämlich der entscheidende Textpassus der legaldefinierten Rahmenvereinbarung. Gestern wie heute regeln die Richtlinien, dass die Bedingungen für die Einzelaufträge festzulegen sind, insbesondere in Bezug auf den Preis und „gegebenenfalls“ die in Aussicht genommene Menge. Das Adverb „gegebenenfalls“ ist in Art. 1 Abs. 5 RL 2004/18/EG genauso wie in Art. 33 Abs. 1 UAbs. 2 RL 2014/24/EU enthalten. Insoweit besteht also keine Veranlassung die aktuell gültige RL anders auszulegen als die aufgehobene. Das Adverb „gegebenenfalls“ bezieht sich somit nur auf die Genauigkeit des Volumens der Einzelaufträge (vgl. Rdnr. 75 der Schlussanträge des Generalanwaltes Campos Sanchez-Bordona vom 3.10.2018).

Zum anderen treffen die vier dazu vom EuGH herausgearbeiteten Auslegungsgründe ganz überwiegend auch für die heute geltende Rechtslage zu. Dies gilt für die Auslegung

Für die vom EuGH vorgenommene Auslegung des Missbrauchsverbots nach Art. 32 Abs. 2 UAbs. 5 RL 2004/18/EG findet sich heute zwar keine entsprechende spezielle Richtlinienregelung. Allerdings dürfte die Streichung des Verbots nur deshalb erfolgt sein, weil missbräuchlichen oder wettbewerbsbehindernden Rahmenvereinbarungen ohnehin die allgemeinen Vergabegrundsätze des Wettbewerbs, Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung entgegenstehen. Eine besondere Richtlinienbestimmung bedurfte es daher nicht. Immerhin findet das Missbrauchsverbot noch in Erwägungsgrund 61 der RL 2014/24/EU sowie in § 21 Abs. 1 Satz 3 VgV und § 4a EU Abs. 1 Satz 3 VOB/A klarstellend Erwähnung.

Lediglich die richterliche Auslegung des Bekanntmachungsmusters im Richtlinienanhang, das auch der Generalanwalt zitiert hatte (vgl. Rdnr. 77 dessen Schlussanträge vom 3.10.2018), könnte eine andere Sicht rechtfertigen. Der „veranschlagte Gesamtwert“ der Leistungen ist heute nämlich nicht mehr als bekanntzumachende Angabe im Anhang V der RL 2014/24/EU angegeben. Die Übertragbarkeit des EuGH-Urteils auf die aktuell gültige Rechtslage allein deshalb abzulehnen, dürfte aber zu kurz greifen.

Denn bei einer Gesamtschau sprechen mehr Urteilsgründe für als gegen die Angabe einer Höchstmenge. Hieran dürften die § 21 Abs. 1 Satz 2 VgV und § 4a EU Abs. 1 Satz 2 VOB/A nichts ändern. Danach ist zwar das – richtlinienkonform – in Aussicht genommene Auftragsvolumen festzulegen. Allerdings dürften die übrigen (scheinbar richtlinienstrengeren) Satzteile „so genau wie möglich“ und „aber nicht abschließend“ europarechtskonform auszulegen sein, sodass die in Aussicht genommene Leisungsmenge mit einer Obergrenze, also eine Höchstmenge anzugeben ist. Denn diese Satzteile setzen den Richtlinientext nicht eins zu eins um, sondern dürften in dem vom EuGH ausgelegten Adverb „gegebenenfalls“ ihren normativen Anknüpfungspunkt finden.

Praxistipp

Es fällt zwar schwer dem Richtlinienwortlaut eine klare und deutliche Forderung nach Angabe einer Höchstmenge der Rahmenvereinbarung zu entnehmen. Allerdings dürften die Vergabestellen bis zu einer belastbaren und anderslautenden Spruchpraxis in Zukunft gut beraten sein, wenn sie bei der Ausschreibung von Rahmenvereinbarungen eine Höchstmenge der von den primären und sekundären öffentlichen Auftraggebern abrufbaren Leistungen festlegen. Die Festsetzung sollte mit dem Hinweis verbunden werden, dass bei Erreichen bzw. Ausschöpfung der Höchstmenge die Rahmenvereinbarung endet.

Bei schon in der Vergangenheit vergebenen Rahmenvereinbarungen, welche die Leistungsmenge circa- oder rundweise in der Auftragsbekanntmachung und/oder den Vergabeunterlagen beschreiben, dürfte –  vor allem wegen der Transparenz –  nur genau dieser Wert die Höchstmenge darstellen. Über diese Maximalmenge hinaus dürften weitere direkte (Einzel-)Aufträge nur unter den Voraussetzungen des § 132 GWB erteilt werden können.

Anmerkung der Redaktion
Unter dem Thema: „EuGH: Höchstmenge für Einzelabrufe aus Rahmenvereinbarung [1]“ wird die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof im Mitgliederbereich des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) diskutiert. Noch kein Mitglied? Zur kostenlosen Mitgliedschaft geht es hier [2].

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Über Holger Schröder [3]

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner [4] in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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