- Vergabeblog - https://www.vergabeblog.de -

Gestaltungsfreiheit und Ermessensgrenzen bei Leistungsbeschreibungen (EuGH, Urt. v. 25.10.2018 – C‑413/17 – „Roche Lietuva“)

Entscheidung-EU

Bei der Festlegung der technischen Spezifikationen einer Ausschreibung zur Beschaffung medizinischer Gegenstände besteht kein Vorrangverhältnis zwischen den individuellen technischen Merkmalen der zu beschaffenden medizinischen Geräte und deren Funktionalität. Entscheidend kommt es vielmehr darauf an, dass die technischen Spezifikationen insgesamt die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit wahren. Mit diesen (redaktionell bearbeiteten) Entscheidungssätzen äußerte sich der EuGH zu den Spielräumen und Grenzen der Bestimmungsfreiheit von öffentlichen Auftraggebern im Gesundheitssektor.

Sachverhalt

Eine Poliklinik in Kaunas (Litauen) schrieb im offenen Verfahrens die „Miete von Labordiagnostikeinrichtungen für die Gesundheitsvorsorge und die Beschaffung von Material und Dienstleistungen zur Gewährleistung des ordnungsgemäßen Funktionierens dieser Einrichtungen“ aus. Ein Bieter rügte, dass die vorgesehenen technischen Spezifikationen den Wettbewerb zwischen den Bietern unangemessen beschränkten, da sie den Merkmalen der Produkte bestimmter Hersteller von Blutanalysegeräten angepasst seien.

Damit unterlag der Bieter vor den litauischen Vergaberechtsinstanzen. Diese urteilten, dass die Poliklinik bei der Festlegung der technischen Spezifikationen in zulässiger Weise von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht habe. Auch sei nicht der Beweis erbracht worden, dass die Spezifikationen tatsächlich auf die Geräte bestimmter Hersteller zugeschnitten waren.

Die Vorlagefrage

Im Kern hatte sich der EuGH mit der Frage zu befassen, inwieweit ein öffentlicher Auftraggeber bei der Festlegung der technischen Spezifikationen den individuellen Merkmalen der zu beschaffenden Geräte oder dem Ergebnis der Funktionsweise dieser Geräte Bedeutung zumessen muss.

Die Entscheidung

Der Aussagegehalt der Entscheidung erscheint auf den ersten Blick trivial. Ob der öffentliche Auftraggeber die zu beschaffende Leistung anhand von Leistungs- oder Funktionsanforderungen beschreibt, ist einerlei, solange er insgesamt die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit wahrt. Die entscheidende Frage, ob Poliklinik diesen Anforderungen hinreichend Rechnung trug, reichte der EuGH zur Klärung an das vorlegende Gericht zurück.

Vielleicht liegt es an der mangelnden begrifflichen Schärfe des in Art. 42(3) lit. a) der Richtlinie 2014/24/EU verwendeten Doppelbegriffs der „Leistungs- und Funktionsanforderungen“, dass der EuGH nicht auf die Frage zu antworten scheint, auf die es zumindest dem antragstellenden Bieter im Ausgangsverfahren angekommen sein dürfte. Mit einer Abgrenzung der beiden Beschreibungsarten hielt sich das Gericht auch nicht lange auf.

Die Funktion eines Gerätes wird dadurch beschrieben, was es leistet. Auch die Leistungsanforderungen sind daher zumindest nach dem unionsrechtlichen Verständnis outputorientiert. Die funktionalen Anforderungen lösen sich hingegen davon, was ein Gerät in technischer Hinsicht leistet, sondern zielen darauf ab, welchen Nutzen sich der Auftraggeber vom Leistungsgegenstand verspricht. Funktionsanforderungen werden vom zu deckenden Bedarf her gedacht. Leistungsanforderungen antworten nach diesem Verständnis auf die Frage „Was macht das Gerät?“, Funktionsanforderungen auf die Frage „Wofür brauche ich das Gerät?“.

Das Problem vieler Ausschreibungen gerade auch im Bereich der Medizin liegt nun nicht darin, dass Leistungsanforderungen anstelle von Funktionsanforderungen gestellt werden. Das Problem tritt vielmehr dann auf, wenn die zu beschaffende Leistung eher technisch-konstruktiv beschrieben wird, und zwar mitunter mehr oder weniger zufällig anhand der Eigenschaften der Produkte eines bestimmten Herstellers. Diese technisch-konstruktiven Eigenschaften können sich von den Eigenschaften der Geräte anderer Hersteller unterscheiden, ohne dass hiermit verbesserte Leistungen oder eine bessere Bedarfsdeckung verbunden ist.

Wie sich dies im Ausgangsfall verhielt, ist nicht bekannt. Klar ist aber, dass eine funktionale Leistungsbeschreibung im engeren Sinne am ehesten die Gewähr für einen offenen Wettbewerb bietet. Zutreffend wurde darauf hingewiesen, dass in § 121 Abs. 1 S. 2 GWB die Beschreibung nach Maßgabe von Funktionsanforderungen vor derjenigen nach Leistungsanforderungen genannt ist und dass in Art. 42 Abs. 3 lit. a–d Richtlinie 2014/24/EU gegenüber Art. 23 Abs. 3 lit. a–d Richtlinie 2004/18/EG das Rangverhältnis umgekehrt wurde (Lampert in Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2017 , Rm. 99 zu § 121 GWB). Dennoch ist dem EuGH darin zu folgen, dass zwischen beiden Varianten kein Vorrangverhältnis besteht (Randziffer 28 der Entscheidung).

Instruktiv sind die folgenden weiteren Maßgaben des EuGH für eine richtlinienkonforme Leistungsbeschreibung:

Mit Blick auf den konkreten Gegenstand der zugrundeliegenden Ausschreibung trifft der EuGH sodann noch eine Aussage, welche Bedeutung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zukommt. Auf der einen Seite sieht das Gericht bei der Abwägung einen höheren Rechtfertigungsbedarf für detailliertere und damit tendenziell markteinengende Leistungsbeschreibungen. Auf der anderen Seite möchte der EuGH berücksichtigt sehen, dass unter den vom AEU-Vertrag geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen. Es sei Sache der Mitgliedstaaten, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Hierbei billigt der EuGH den Mitgliedstaaten einen entsprechender Beurteilungsspielraum zu (Randziffer 42).

Während das Gericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im allgemeinen als Grenze einengender Leistungsbeschreibungen sieht, können einengende Leistungsbeschreibungen also in dem als sensibel bewerteten Bereich der Gesundheit der Bevölkerung eher gerechtfertigt sein. Freilich darf auch insoweit das hohe Gut der Gesundheit nicht als Vorwand dafür missbraucht werden, aus anderen Beweggründen bestehende Präferenzen für einen bestimmten Hersteller mit höheren Weihen versehen zu wollen. Der Hinweis des Gerichts auf den Beurteilungsspielraum über die Höhe des Schutzniveaus und die Mittel dessen Erreichung ist überdies an die Mitgliedstaaten gerichtet. Er dürfte gleichfalls nicht als Ermunterung dafür zu verstehen sein, dass jeder einzelne öffentliche Auftraggeber auf dem Gebiet des Gesundheitswesens für sich in Anspruch nimmt, den höchsten Gesundheitsschutz anzustreben und aus diesem Grund sehr restriktive Leistungsbeschreibungen aufstellt.

 

Avatar-Foto

Über Dr. Frank Roth [1]

Dr. Frank Roth ist Partner und Rechtsanwalt bei DLA Piper UK LLP [2] in Köln. Er ist auf den Gebieten des Vergaberechts, des öffentlichen Preisrechts und der Streitbeilegung tätig. Er hat sich seit Einführung des Kartellvergaberechts im Jahr 1998 auf die Beratung bei der Vorbereitung von und der Teilnahme an Vergabeverfahren öffentlicher Auftraggeber spezialisiert und verfügt über branchenspezifische Erfahrungen insbesondere auf den Gebieten Energie, Informationstechnologie und Infrastruktur, Food & Healthcare. Einen wichtigen Bestandteil der vergaberechtlichen Beratung bildet die Vertretung in vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren. Auch über diesen Bereich hinaus weist Dr. Frank Roth eine langjährige Erfahrung bei der Vertretung in streitigen Angelegenheiten vor staatlichen Gerichten und Schiedsgerichten auf. Dr. Frank Roth veröffentlicht regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen.

Teilen
[4] [5] [6] [7] [8]