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Bereichsausnahme für Rettungsdienstleistungen – einige klare Antworten und viele offene Fragen (EuGH, Urt. v. 21.03.2019 – C-465/17)

Entscheidung-EUIn einem mit Spannung erwarteten Urteil hat der EuGH die Bereichsausnahme in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB konkretisiert. Dabei hat der Gerichtshof einige stark umstrittene Auslegungsfragen beantwortet, während andere Fragen weiterhin offengeblieben sind. Was bedeutet das Urteil für die zukünftige Vergabe von Rettungsdienstleistungen?

 

Sachverhalt

Eine Stadt vergab einen Auftrag über die Durchführung von Rettungsdienstleistungen. Dieser betraf zum einen die Notfallrettung, bei der Patienten versorgt werden, die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind. Zum anderen sollte auch der qualifizierte Krankentransport neu vergeben werden. Darunter sind Transporte zu verstehen, bei denen die Patienten zwar auch von qualifiziertem Rettungspersonal betreut werden, aber kein akuter Notfall vorliegt.

Unter Berufung auf die Ausnahmevorschrift in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, die Art. 10 lit. h der Richtlinie 2014/14/EU in deutsches Recht umsetzt, wurden im Rahmen eines nicht-förmlichen Auswahlverfahrens ausschließlich deutsche Hilfsorganisationen zur Abgabe eines Angebots aufgefordert und der Auftrag an eine dieser Organisationen vergeben. Eine europaweite Bekanntmachung oder eine Beteiligung anderer interessierter Anbieter gab es nicht. Die Antragstellerin, ein privater Rettungsdienst- und Krankentransportanbieter, wandte sich daraufhin an die VK Rheinland, weil sie an dem Auswahlverfahren nicht beteiligt worden war. Nach Zurückweisung des Antrags durch die VK legte das OLG Düsseldorf als Beschwerdeinstanz dem EuGH vier Frage zur Auslegung des Art. 10 lit. h der RL 2014/14/EU vor.

Die Vorlage betraf zum einem die Frage, ob Art. 10 lit. h der Richtlinie dahingehend ausgelegt werden muss, dass es sich bei den zu vergebenden Rettungsdienstleistungen um „Dienstleistungen der Gefahrenabwehr“ im Sinne der Vorschrift handelt (Fragen 1 und 4). Zum anderen wollte das Gericht wissen, ob der zweite Halbsatz von § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB mit der Richtlinie vereinbar ist, nach dem gemeinnützige Organisationen solche sind, die nach nationalem Recht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind (Fragen 2). Zudem fragte das Gericht, ob „gemeinnützige Organisationen“ im Sinne der Unionsvorschrift solche sind, deren Ziel die Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben ist, die nicht erwerbswirtschaftlich tätig sind und etwaige Gewinne reinvestieren, um das Ziel der Organisation zu erreichen (Frage 3)

Die Entscheidung

Bei der ersten und vierten Frage kommt der EuGH zu dem Schluss, dass es sich bei der Notfallrettung und wohl auch dem qualifizierten Krankentragsport um „Dienstleistungen der Gefahrenabwehr“ im Sinne der Vorschrift handelt. Zur Begründung beruft er sich vor allem auf systematische Erwägungen. Der Begriff der „Gefahrenabwehr“ umfasse nicht nur Gefahren einer kollektiven Dimension, wie das bei den beiden anderen Tatbestandsalternativen „Zivil- und Katastrophenschutz“ der Fall sei, sondern auch Gefahren für Individualrechtsgüter. Denn andernfalls verfüge die „Gefahrenabwehr“ über keinen von „Zivil- und Katastrophenschutz“ abgrenzbaren Regelungsgehalt.

Anschließend grenzt der Gerichtshof die von der Vorschrift erfassten Dienstleistungen von dem „Einsatz eines Krankenwagens zur Patientenbeförderung“ ohne qualifiziertes Personal ab, der bereits nach dem Wortlaut nicht von der Bereichsausnahme erfasst ist. Dazu verweist der EuGH auf den 28. Erwägungsgrund der Richtlinie, nach dem „bestimmte von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbrachte Notfalldienste“ vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sein sollen. Der EuGH schließt daraus, dass es auf den Notfallcharakter des Transportes ankäme, um eine „Dienstleistung der Gefahrenabwehr“ vom „Einsatz eines Krankenwagens zur Patientenbeförderung“ abzugrenzen. Damit ein solcher Notfalldienst vorliege, müsse kein tatsächlicher Notfall gegeben sein, sondern lediglich das objektiv zu beurteilende Risiko bestehen, dass sich der Gesundheitszustand eines Patienten während des Transportes verschlechtert. Die Prüfung, ob das beim qualifizierten Krankentransport tatsächlich der Fall ist, überlässt der Gerichtshof wohl dem vorlegenden Gericht.

Hinsichtlich der zweiten Frage führte der EuGH aus, dass § 107 Abs. 1 Nr. 4, 2. HS GWB, nach dem gemeinnützige Organisationen solche sind, die nach deutschem Recht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind, mit der Richtlinie nicht vereinbar ist. Denn diese Anerkennung im deutschen Recht beinhaltet keine Prüfung, ob die betreffenden Organisationen nicht die Absicht haben, mit der in Frage stehenden Tätigkeit Gewinn zu erzielen. Allerdings hat der Gerichtshof auch angemerkt, § 107 Abs. 1 Nr. 4 2. HS GWB könne gegebenenfalls in Verbindung mit § 52 der Abgabenordnung im Einklang mit den Erfordernissen von Art. 10 lit. h der Richtlinie 2014/24/EU ausgelegt werden. Das zu beurteilen sei Sache des vorlegenden Gerichts.

Diese Aussage des EuGH ist wohl so zu verstehen, dass der zweite Halbsatz der Bereichsausnahme richtlinienkonform dahingehend ausgelegt werden kann, dass sämtliche Organisationen und Einrichtungen, die nach § 52 Abgabenordnung steuerrechtlich als gemeinnützig anerkannt sind, unabhängig von ihrer Anerkennung als Zivil- und Katastrophenschutzorganisation gemeinnützige Organisationen im Sinne der Bereichsausnahme sind. Der Gerichtshof sieht diese Auslegung offenbar dann als möglich an, wenn die deutsche steuerrechtliche Gemeinnützigkeit an dieselben Voraussetzungen geknüpft ist wie der unionsvergaberechtliche Gemeinnützigkeitsbegriff. Als Folge dieser Auslegung wären dann nicht nur die im Zivil- und Katastrophenschutz tätigen Hilfsorganisationen als gemeinnützige Organisationen im Sinne der Bereichsausnahme anzusehen, sondern sämtliche Organisationen, die gemäß § 52 Abgabenordnung als gemeinnützig anerkannt sind.

In Beantwortung der dritten Frage legt der EuGH fest, welche Anforderungen an „gemeinnützige Organisationen“ im Sinne der Vorschrift zu stellen sind. Das sei neben der fehlenden Gewinnerzielungsabsicht die Erfüllung sozialer Aufgaben und die Reinvestition etwaiger Gewinne zur Erreichung des sozialen Zwecks. Der Gerichtshof bestätigt damit ohne nähere Herleitung aus dem Unionsrecht die Anforderungen, die das OLG Düsseldorf in seiner Vorlagefrage formuliert hatte.

Rechtliche Würdigung

Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass sowohl die Notfallrettung als wohl auch der qualifizierte Krankentransport in den Anwendungsbereich der Bereichsausnahme fallen. Diese weite Auslegung verwundert in Anbetracht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, der Ausnahmevorschriften in der Vergangenheit grundsätzlich eng ausgelegt hatte (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 7.6.2012, C-615/10 – InsTimi Oy).

Das wäre für Art. 10 lit. h der Richtlinie auch und umso mehr zu erwarten gewesen, da diese Ausnahme nach dem 28. Erwägungsgrund „nicht über das notwendigste Maß hinaus ausgeweitet werden“ soll. Selbst wenn man mit dem EuGH in die Gefahrenabwehr auch den Schutz von Individualrechtsgütern einbezieht, muss deren Gefährdung jedenfalls einen echten Notfall darstellen. Das stellt der 28. Erwägungsgrund der Richtlinie mit seinem Verweis auf „Notfalldienste“ klar. Zumindest beim qualifizierten Krankentransport, der ja gerade keine Notfallrettung darstellt, wäre daher zu erwarten gewesen, dass der Gerichtshof die Vorschrift eng auslegt und diesen als von der Bereichsausnahme nicht als erfasst ansieht.

Der Generalanwalt Sánchez-Bordona hatte dementsprechend in seinen Schlussanträgen noch feststellt, dass bei qualifizierten Krankentransporten „kein Notfall im eigentlichen Sinne vor[läge]: Die Patienten mögen zwar Begleiter bei der Beförderung im Fahrzeug benötigen, aber sie bedürfen keiner medizinischen Notfallversorgung“ (Schlussanträge vom 14.11.2018, C-456/17, Rn.62). Das sah der EuGH in seinem Urteil anders und ließ bereits das Risiko des Eintritts eines Notfalls genügen.

Klar formuliert sind die Anforderungen, die der EuGH an gemeinnützige Organisationen im Sinne der Bereichsausnahme stellt. Diese decken sich mit den Voraussetzungen, die das OLG Düsseldorf in seinem Vorlagebeschluss vorgeschlagen hatte. Der Gerichtshof macht ebenso klar, dass diese Anforderungen nicht bereits automatisch von Organisationen erfüllt werden, die im deutschen Recht als Zivil- oder Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind. Der entsprechende zweite Halbsatz in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ist damit in Zukunft ohne Relevanz. Interessant ist indes, dass der Gerichtshof es entgegen dem klaren Wortlaut der Vorschrift für möglich hält, deren zweiten Halbsatz richtlinienkonform auszulegen. Praktisch ändert sich dadurch aber nichts. Im Ergebnis fallen nicht die als Zivil- oder Katastrophenschutzorganisationen anerkannten Rettungsdienstanbieter unter die Bereichsausnahme, sondern alle nach § 52 AO als gemeinnützig anerkannten Organisationen oder Einrichtungen, also auch jeder eingetragene Verein und jede gemeinnützige GmbH, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer großen Hilfsorganisation. Entscheidet sich ein Träger also für die Anwendung der Bereichsausnahme, kann der Auftrag im Ergebnis auch an andere im Rettungsdienst tätige, gemeinnützige Anbieter vergeben werden als die Hilfsorganisationen.

Bedauerlicherweise äußert sich der EuGH in seinem Urteil nicht zu der Frage, ob bei Anwendung der Bereichsausnahme weiterhin eine primärrechtliche Pflicht der Auftraggeber zur Durchführung eines transparenten und diskriminierungsfreien Auswahlverfahrens besteht. Der Gerichtshof hatte in der Vergangenheit bei Nichtanwendbarkeit der Vergaberichtlinien (Unterschwellenvergaben, Dienstleistungskonzessionen und I-B-Dienstleistungen) im Falle eines grenzüberschreitenden Interesses stets die Durchführung eines primärrechtlichen Verfahrens verlangt (z.B. EuGH, Urt. v. 11.12.2014, C‑113/13 – Spezzino; Urt. v. 13.11.2007, C‑507/03 – Kommission/Irland). Eine Direktvergabe von Rettungsdienstleistungen an Hilfsorganisationen ohne Durchführung eines solchen Verfahrens hat er bisher nur unter sehr engen Voraussetzungen zugelassen, die aber im deutschen Rettungsdienstwesen nicht erfüllt werden (vgl. EuGH, Urt. v. 11.12.2014, C‑113/13 – Spezzino; Urt. v. 28.01.2016, C-50/14 – CASTA).

Das vollständige Schweigen des Gerichtshofes zu dieser Frage, die auch Gegenstand umfangreicher Erörterungen in den schriftlichen Stellungnahmen und der mündlichen Verhandlung war, ist wohl darauf zurückzuführen, dass das OLG Düsseldorf diese Frage nicht vorgelegt hat. Der Gerichtshof hätte aber in dem Urteil dennoch an geeigneter Stelle die Gelegenheit gehabt, zumindest Hinweise zur Anwendbarkeit des Primärvergaberechts zu geben. Dass er das nicht getan hat, ist bedauerlich, da damit weiterhin unklar bleibt, ob auch bei Anwendbarkeit der Bereichsausnahme zukünftig primärrechtliche Auswahlverfahren unter Beteiligung aller interessierten Bieter durchzuführen sind. Für eine Pflicht zur Durchführung solcher Verfahren bei Vorliegen eines grenzüberschreitenden Interesses hat sich jedenfalls die Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH ausgesprochen. Eine primärrechtliche Ausnahme von der Pflicht zur Durchführung eines transparenten und wettbewerblichen Verfahrens, wie der EuGH sie in den italienischen Fällen Spezzino und CASTA angenommen hat, hat der EuGH in seiner Entscheidung Privater Rettungsdienst und Krankentransport Stadler aus dem Jahr 2011 nicht geprüft, da er in Deutschland offenbar keinen Anknüpfungspunkt für eine solche Ausnahme gesehen hat (vgl. EuGH, Urt. v. 10.03.2011, C-274/09, Rn. 49).

Praxistipp

Die klarstellende Wirkung des Urteils beschränkt sich auf den Anwendungsbereich des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB. Daneben bleiben zahlreiche Fragen dazu, ob weiterhin eine Pflicht zur Durchführung wettbewerblicher Auswahlverfahren besteht, ungeklärt:

Müssen bei einem grenzüberschreitenden Interesse primärrechtliche Verfahren unter Beteiligung privater Dritter durchgeführt werden? Folgt eine Pflicht zu einem Auswahlverfahren aus den Landesrettungsdienstgesetzen oder den Grundrechten und welche Anforderungen sind an solche Verfahren zu stellen? Erfordert das Beihilferecht die Durchführung wettbewerblicher Verfahren? Ist bei Anwendung der Bereichsausnahme zumindest zwischen den gemeinnützigen Organisationen im Sinne des § 52 Abgabenordnung ein Auswahlverfahren durchzuführen? Warum sind die nun von den Hilfsorganisationen  zur Diskussion gestellten sogenannten „Planungsverfahren“ (dazu Kieselmann, Vergabeblog.de vom 18/02/2019, Nr. 39856 [1]) weder rechtssicher noch praktikabel?

Diese und weitere Fragen, die für die Praxis der Rettungsdienstvergabe nach dem Urteil des EuGH weiterhin von erheblicher Relevanz sind, wird sich ein weiterer, demnächst im Vergabeblog erscheinender Beitrag widmen.

Hinweis des Autors

Der Autor hat die Falck-Gruppe in dem Verfahren vor dem EuGH vertreten.

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Über Dr. Pascal Friton, LL.M. [2]

Pascal Friton ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht. Er ist Partner der Kanzlei BLOMSTEIN [3] in Berlin. Er berät seit über 10 Jahren sowohl öffentliche Auftraggeber als auch Bieter in verschiedenen Wirtschaftssektoren. Who’s Who Legal führt ihn seit 2016 als einen der führenden Vergaberechtler weltweit. Er veröffentlicht regelmäßig in nationalen und internationalen Fachzeitschriften und hält Vorträge zu vergaberechtlichen Themen auf Konferenzen und Seminaren in Deutschland, Europa und den USA. Er wirkt darüber hinaus als Autor und Referent am Fernlehrgang “Public Procurement Regulation in the EU and in its Global Context” am King’s College London mit.

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