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Bereichsausnahme Rettungsdienst: OVG Niedersachsen äußert Zweifel (OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.06.2019 – 13 ME 164/19)

EntscheidungDie Bereichsausnahme Rettungsdienst ist trotz eines anderslautenden obiter dictum in Niedersachsen anwendbar. Ob die Bereichsausnahme aus § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB 2016 anwendbar ist, hängt von der Rechtslage im konkreten Bundesland ab. Das OVG Niedersachsen hat dies in einer Eilrechtssache bezweifelt. Bei näherem Hinsehen ist das obiter dictum wenig überzeugend. Der Vergabesenat beim OLG Celle hat sich dieser Ansicht nicht angeschlossen. De lege lata ist die Bereichsausnahme Rettungsdienst auch in Niedersachsen weiter anwendbar.

§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, §§ 132, 135 GWB, §§ 2, 5 ff. NRettDG; Art. 49 AEUV, Art. 56 AEUV, Art. 10 lit. h Richtlinie 2014/24/EU, Art. 74 bis 77 Richtlinie 2014/24/EU), Art. 20 Abs. 3 GG, DRKG, ZSKG, Genfer Abkommen

Leitsatz

  1. Die Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB findet in Niedersachsen grundsätzlich keine Anwendung, da diese Regelung auf ausschließlich gemeinnützige Anbieter abstellt, § 5 Abs. 1 NRettDG demgegenüber aber von der Gleichrangigkeit gemeinnütziger und gewerblicher Anbieter ausgeht.
  2. Eine Rechtswegverweisung nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG durch die Verwaltungsgerichte an die jeweils zuständige Vergabekammer ist nicht möglich, da es sich bei den Vergabekammern nicht um Gerichte im Sinne dieser Vorschrift handelt.

Sachverhalt

Der Landkreis Celle schreibt Leistungen des Rettungsdienstes (Notfallrettung und qualifizierter Krankentransport) unter Ägide des Vergaberechts aus. Nach umfangreicher Diskussion im Vorfeld entschieden sich Verwaltung und Politik, dabei ein Verfahren nach GWB-Vergaberecht durchzuführen, weil die Nutzung der Bereichsausnahme Rettungsdienst (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB) mit zu großen Risiken verbunden sei. Private Leistungserbringer sind nicht vom Verfahren ausgeschlossen.

Die VK Lüneburg hatte sich in einem Nachprüfungsverfahren zu dieser Ausschreibung in ihrem Beschluss vom 22.01.2019 (AZ.: VgK-01/2019) wegen der Bereichsausnahme Rettungsdienst für unzuständig erklärt (s. dazu die Besprechung in [1]). Im Nachgang zu diesem Nachprüfungsverfahren kam die Frage auf, ob der abgeschlossene Vertrag mit dem Zuschlagsdestinatär den Vorgaben der Ausschreibung entsprach oder ob eine wesentliche Änderung (§§ 132, 135 GWB) vorliegt.

Eine Bietergemeinschaft zweier Hilfsorganisationen thematisiert diese Frage. Wegen der Entscheidung der VK Lüneburg vom 22.01.2019 wurde zweigleisig vorgegangen: Zunächst wurde Nachprüfung vor der Vergabekammer beantragt, einige Tage später wurde parallel der Verwaltungsrechtsweg im Eilrechtsschutz beschritten. Sowohl VG als auch VK hatten in ersten Beschlüssen sich jeweils für unzuständig erklärt. Auch eine Verweisung nach § 17 GVG (analog) wurde abgelehnt. Das OVG hat nun in zweiter Instanz des Eilrechtsschutzverfahrens ebenfalls seine Unzuständigkeit statuiert. Parallel hat der Vergabesenat des OLG auf die Beschwerde der Bietergemeinschaft die Sache an die VK verwiesen. Das OVG machte in seinem Beschluss vom 12.06.2019 [2] (AZ.: 13 ME 164/19) im einstweiligen Rechtsschutz diverse Aussagen zur Umsetzung der Bereichsausnahme nach Maßgabe des NRettDG, die beleuchtet werden sollen.

Entscheidungsdarstellung:

Das OVG Niedersachsen weist den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz als unzulässig zurück, da die abdrängende Sonderzuweisung zu den Nachprüfungsinstanzen greife und somit der Vergaberechtsweg einschlägig sei. Obiter stellt es lapidar fest:

„Geht mithin das NRettDG von der Gleichrangigkeit gemeinnütziger und gewerblicher Anbieter aus, so kann die ausschließlich auf gemeinnützige Beauftragte zugeschnittene Ausnahmeregelung des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB keine Anwendung finden. (…) Damit ist die Anwendung der Bereichsausnahme (…) nach niedersächsischer Rechtslage grundsätzlich ausgeschlossen.“

Ebenfalls verweist das OVG nicht nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an die VK, da es sich bei Vergabekammern nicht um Gerichte im Sinne dieser Vorschrift handele.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung des OVG ist hinsichtlich der Rechtswegfrage im Ergebnis korrekt. Die konkrete Frage (wesentliche Änderung) ist im Vergaberechtsweg zu beurteilen.

Die (unnötigerweise getroffene) generelle Aussage zur Anwendbarkeit der Bereichsausnahme Rettungsdienst in Niedersachsen ist allerdings nach näherer Betrachtung unzutreffend und berücksichtigt europäisches Recht nur unzureichend. Dies zeigt sich auch im Verweis auf veraltete Literatur. Entgegen den Ausführungen des OVG sieht das NRettDG keine Sperrwirkung gegenüber der Bereichsausnahme Rettungsdienst in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB vor. Insbesondere enthalten die Landesvorschriften keine Vorgaben zu Art und Weise der Vergabe von Rettungsdienstleistungen.

Rechtslage EuGH

Das obiter dictum des OVG erfasst die tatsächliche Reichweite der Entscheidung des EuGH für die Auslegung des niedersächsischen Rettungsdienstgesetzes nur unzureichend. Bekanntermaßen legte der Vergabesenat des OLG Düsseldorf dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens im Juni 2017 mehrere Fragen zur Bereichsausnahme und deren Auslegung vor. Bereits die Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.11.2018 (s. [3]) und schließlich das darauffolgende Urteil des EuGH vom 21.03.2019 (Rs. C-465/17, s. [4]; klargestellt durch Tenorberichtigung vom 26.06.2019, s. ) kamen zu einem deutlichen Ergebnis: Der EuGH bestätigte klar die Bereichsausnahme Rettungsdienst und die dahinterstehenden Ziele des Richtliniengebers. Mit der Bereichsausnahme wollte der Unionsgesetzgeber gerade gemeinnützige anerkannte Hilfsorganisationen stärken, deren Mitwirkung vor allem in den Bereichen des Gesundheitswesens bzw. der Gefahrenabwehr und der Systeme der sozialen Sicherheit unstrittig benötigt wird. Entsprechende Aufträge sollten nicht mehr einem wettbewerblichen Verfahren unterworfen sein. Der Wettbewerbsgedanke des europäischen Binnenmarktes tritt somit hinter den Schutz der Bevölkerung zurück, weil Ausschreibungen oft den wichtigen Teil der für Großschadenslagen relevanten Aufwachskapazitäten (Schnelleinsatzgruppen, Ressourcen für den Bevölkerungsschutz etc.) nicht berücksichtigten.

Der EuGH bestätigte ferner auch (indirekt) die Möglichkeit zur Direktvergabe unter der Bereichsausnahme. Er schreibt kein wettbewerbliches Verfahren nach EU-Primärrecht vor. Zutreffenderweise entfaltet das EU-Sekundärrecht gegenüber dem Primärrecht eine Sperrwirkung. Dies entspricht dem Grundsatz, dass die Richtlinien den Binnenmarkt angleichen und damit die Grundfreiheiten konkretisieren. Folge ist, dass die Grundfreiheiten nicht mehr greifen, wo sie ein fein austariertes Verhältnis zwischen dem Freiverkehr und einem anderen Belang umgehen würden (vgl. EuGH, U. v. 24.03.2009 Rs. C-445/06 (Danske Slagterier), Rn. 25; U. v. 17.04.2007 Rs. C-470/03 (A.G.M.), Rn. 50; U. v. 14.12.2004 Rs. C-309/02 (Radlberger Getränkegesellschaft), Rn. 53). Wenn ein Bereich auf Gemeinschaftsebene abschließend harmonisiert wurde, wird eine nationale Maßnahme in diesem Bereich nicht mehr allein auf Grundlage des Primärrechts beurteilt. Das bedeutet, dass die Harmonisierungsmaßnahme dann der grundlegende Maßstab ist. Das ist auch bei der Bereichsausnahme Rettungsdienst der Fall: Die Bereichsausnahme nimmt den Rettungsdienst aus dem Wettbewerb heraus. Dies gilt dann auch für das Primärrecht. Nichts anderes ergibt sich aus den Erwägungen des Richtliniengebers, einer Exegese des Richtlinientextes sowie einschlägiger Rechtsprechung.

Rechtslage in Niedersachsen

Für die Umsetzung der Bereichsausnahme nach dem jeweiligen Landesrecht ist entscheidend, ob die Landesvorschriften eine kohärente Umsetzung zulassen. Dies hängt von den Voraussetzungen des Landesrechts ab. Dort, wo Landesvorschrift die Beteiligung Privater zwingend vorschreibt und das Vergabeverfahren in Art und Umfang geregelt wird (u.a. Bayern), kann die Bereichsausnahme nicht ohne Änderung des Landesrechts umgesetzt werden. Schreibt das Landesrecht die Beteiligung Privater hingegen nicht zwingend vor und stellt die Übertragung der Rettungsdienstleistungen an Dritte in das Ermessen des Trägers, wird zugleich die Bereichsausnahme ermöglicht.

Maßgebliche Vorschrift für Rettungsdienstausschreibungen in Niedersachsen ist § 5 Abs. 1 NRettDG:

Der Träger des Rettungsdienstes kann Dritte mit der Durchführung der Leistungen des Rettungsdienstes (…) und der Einrichtung und der Unterhaltung der Einrichtungen (…) ganz oder teilweise beauftragen. Dabei ist sicherzustellen, dass der Beauftragte die ihm übertragene Aufgabe so erfüllt, wie dies der Träger des Rettungsdienstes selbst nach diesem Gesetz oder nach den aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Verordnungen tun müsste.Bei der Auswahl der Beauftragten können die Eignung und Bereitschaft zur Mitwirkung am Katastrophenschutz sowie zur Bewältigung von Großschadensereignissen berücksichtigt werden.

Keine Sperrwirkung des NRettDG

Das NRettDG eröffnet dem Aufgabenträger wie in allen Bundesländern die Möglichkeit, vom Grundsatz der Selbstorganschaft abzuweichen und Dritte zu beauftragen. Dem Träger steht insoweit ein Ermessen zu. Bereits die Vorgängervorschriften enthielten eine vergleichbare Regelung: In § 4 Abs. 5 NRettDG a. F. (Vorgängerregelung zu § 5 Abs. 1 Satz 1 NRettDG), konkretisierte der Landesgesetzgeber den Dritten als Hilfsorganisationen, Deutsche Lebensrettungsgesellschaft DLRG und andere private Dritte (LT-Drs. 12/2281, Seite 26).

Vor diesem Hintergrund schlussfolgert das OVG obiter (nebenbei), dass es an einer Privilegierung der gemeinnützigen Hilfsorganisationen gegenüber gewerblichen Anbietern fehle. Zugleich postuliert das OVG eine Gleichrangigkeit gemeinnütziger und gewerblicher Anbieter im NRettDG, was der Regelung in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB entgegenstehe. Die damit einhergehende apodiktische Festlegung des OVG („Damit ist die Anwendung der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB auf Ausschreibungen nach niedersächsischer Rechtslage grundsätzlich ausgeschlossen.“) überzeugt jedoch nicht.

Festzuhalten ist zunächst, dass der Bundesgesetzgeber die Bereichsausnahme Rettungsdienst in § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB wirksam umgesetzt hat und die Bereichsausnahme als solche durch den EuGH bestätigt worden ist. Entscheidend ist daher, ob das jeweilige Landesrecht eine kohärente Umsetzung der Bereichsausnahme ermöglicht oder von einer Sperrwirkung des Landesrechts auszugehen ist. Eine besondere Bedeutung nimmt hierbei die europarechtskonforme Auslegung der Rettungsdienstvorschriften im Landesrecht ein. Berücksichtigt werden muss auch die völkerrechtlich begründete Sonderstellung der Hilfsorganisationen (vgl. nur DRKG, ZSKG, Genfer Abkommen).

Die nähere Betrachtung zeigt, dass § 5 Abs. 1 NRettDG als Ermessensvorschrift offen formuliert ist. Das NRettDG schreibt gerade kein wettbewerbliches Vergabeverfahren unter Beteiligung gewerblicher Anbieter vor und legt auch den Fokus auf Großschadensereignisse bis zur Katastrophe (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 NRettDG). An dieser Stelle wird der Unterschied zur bayerischen Rechtslage in Art. 13 BayRDG deutlich. Dort besteht die Besonderheit, dass der bayerische Landesgesetzgeber seinerzeit Verfahrensvorschriften für die Vergabe von Rettungsdienstkonzessionen geschaffen hat. Träger sind nach dem Wortlaut ausdrücklich gehalten, ein wettbewerbliches Vergabeverfahren unter Einbeziehung privater Anbieter durchzuführen. Hintergrund ist eine Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes (Entscheidung vom 24.05.2012 AZ.: 1-VII-10). Das Gericht hatte seinerzeit und damit weit vor der Implementierung der Bereichsausnahme Rettungsdienst auf europäischer Ebene festgestellt, dass der frühere Vorrang der Hilfsorganisationen in Art. 13 Abs. 1 BayRDG gegen die Bayerische Verfassung verstoße und damit verfassungswidrig sei. Aufgrund des Wortlauts der Landesregelung kann die Bereichsausnahme nach aktueller Rechtslage in Bayern noch nicht umgesetzt werden. Aktuell wird aber an einer Novellierung des BayRDG gearbeitet, welche die Bereichsausnahme auch im Süden ermöglichen soll (s. hierzu die Pressemeldungen des StMI vom 15.11.2018 [5] und 21.03.2019 [6]).

Das OVG subsumiert nicht ausführlich (was bei einem obiter dictum auch nicht zu erwarten ist), sondern stützt sich auf eine Kommentarpassage, die sich ihrerseits auf die alte (!) Rechtslage vor der EuGH-Entscheidung bezieht:

„Im Gegensatz zu den Rettungsdienstgesetzen anderer Bundeslänger enthält das NRettDG auch keine Rangfolge, nach der die Beauftragung zu erfolgen hat. Es fehlt insbesondere an einer Privilegierung der gemeinnützigen Hilfsorganisationen gegenüber gewerblichen Anbietern. Eine solche dürfte mit Blick auf das europäische Recht insbesondere dem Grundsatz der Diskriminierungsfreiheit nur dann zu vertreten sein, wenn hierfür sachliche Gründe vorliegen.“
[Freese, in: Ufer/Schwind (Hrsg.), NRettDG, Loseblattsammlung, 10. Nachlieferung, Stand August 2017, § 5 Anmerk. 2, Seite 4]

Wie ersichtlich, dürfe – so die Ansicht der Autoren – eine Privilegierung der gemeinnützigen Hilfsorganisationen gegenüber den gewerblichen Anbietern mit Blick auf das europäische Recht nur dann zu vertreten sein, wenn hierfür sachliche Gründe vorlägen. Auffällig ist dabei, dass die zitierte Textpassage wortidentisch bereits in einer Vorauflage des Kommentars enthalten war, vgl. Ufer/Schwind (Hrsg.), NRettDG, Loseblattsammlung, 8. Nachlieferung, Stand Mai 2014, § 5 Anmerk. 2, Seite 4.

In dem Zusammenhang sei nochmals darauf hingewiesen, dass die zitierten Fundstellen auf dem Stand vor der EuGH-Entscheidung sind (das Vorlageverfahren wird angedeutet). Das OVG stützt sich somit maßgeblich auf Literaturstellen aus der Zeit vor der EuGH-Entscheidung, ohne die Rechtsentwicklung entsprechend zu berücksichtigen.

Unabhängig davon halten selbst die Autoren des Kommentars eine Privilegierung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 NRettDG für möglich. So benennen sie im Rahmen der genannten Vorschrift ausdrücklich das sog. Hilfsorganisationsprivileg [vgl. Freese, in: Ufer/Schwind (Hrsg.), NRettDG, Loseblattsammlung, 10. Nachlieferung, Stand August 2017, § 5 Anmerk. 3.2, Seite 8].

Das NRettDG unterscheidet sich von der aktuellen engen bayerischen Rechtslage. Infolge des offenen Wortlauts ermöglicht die Regelung in § 5 Abs. 1 NRettDG zugleich die Umsetzung der bundesgesetzlichen Bereichsausnahme und der dahinterstehenden Ziele. Die Schaffung der Bereichsausnahme Rettungsdienst zielt nach dem Willen des Richtlinien-/Gesetzgebers darauf ab, die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems national und europaweit (Gefahrenabwehr mit Schwerpunkt Medizin und Betreuung) auch für größere Schadenslagen künftig gewährleisten zu können. Da es in erster Linie gemeinnützige Organisationen sind, deren Mitwirkung erst die Bewältigung dieser Aufgaben ermöglicht, sollten die Auftraggeber ermächtigt werden, an diese Organisationen Aufträge und Konzessionen im Rettungsdienst ohne wettbewerbliches Verfahren zu vergeben. Das Gesamtsystem soll leistungsfähig bleiben, weil der bisherige Wettbewerb in vielen Fällen schädlich war: Um den von der Bereichsausnahme bezweckten Schutz der gemeinnützigen Organisationen zu gewährleisten, ist der Träger im konkreten Fall gehalten, die Vorrangstellung im Sinne einer privilegierten Einbindung von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen zu prüfen. Dies kann dadurch geschehen, dass der Auftragsgegenstand der Vergabe ausschließlich den gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen vorbehalten wird. Einen wichtigen normativen Anknüpfungspunkt bildet hierbei § 5 Abs. 1 Satz 3 NRettDG (dies erwähnt auch das OVG, führt dazu aber nicht weiter aus). Das NRettDG öffnet an dieser Stelle das Gesetz für die Umsetzung der Bereichsausnahme. Träger haben demnach die Möglichkeit, die hinter der Bereichsausnahme stehenden Ziele umzusetzen und die Eignung und Bereitschaft zur Mitwirkung am Katastrophenschutz sowie zur Bewältigung von Großschadensereignissen bei der Vergabe zu berücksichtigen. Dies zeigt die Auslegung nach dem Wortlaut und auch nach dem Ziel des Gesetzgebers.

Öffnet dagegen der Auftraggeber den Wettbewerb auch für rein private Anbieter, so macht der jeweilige Auftraggeber wie im vorliegenden Fall von der Ausnahmevorschrift des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB gerade keinen Gebrauch. Anders als in Bayern ist diese Entscheidung aber nicht auf eine landesgesetzliche Vorgabe (Art. 13 BayRDG) zurückzuführen, sondern auf eine autonome Entscheidung des Aufgabenträgers, einen möglichst breiten Wettbewerb zu schaffen (die negativen Auswirkungen des Wettbewerbs wurden in [1] geschildert).

Obiter dicta haben in manchen Fällen einen Mehrwert. Im konkreten Fall könnte allerdings die Klassifizierung des RiBAG a.D. Hans-Jürgen Dörner zutreffen. Seiner Ansicht nach haben obiter dicta „die Schwäche, zur konkreten Rechtsfindung des Einzelfalls nichts beizutragen, die Leser regelmäßig zu verwirren und häufig späteren Erkenntnissen im Wege zu stehen“ (NZA 2007, S. 57 (58)).

Der Vergabesenat beim OLG Celle hat übrigens den Rechtsstreit mit Beschluss vom 25.06.2019 (13 Verg 4/19) wieder an die VK verwiesen. Er vermeidet obiter dicta und schreibt zutreffend: „Ebenfalls nicht zu entscheiden ist hier, ob eine solche Privilegierung gemeinnütziger Organisationen und Vereinigungen landesrechtlich nach § 5 Abs. 1 NRettDG überhaupt zulässig wäre.“

Praxistipp

Die Entscheidung des EuGH vom 21.03.2019 ( [4]) hat die Bereichsausnahme Rettungsdienst eindrücklich bestätigt (s. hierzu das Interview aus Januar 2019 mit zwei Vertretern, Vergabeblog.de vom 29/01/2019, Nr. 39637 [7]).

Der EuGH hat übrigens Ende Juni 2019 den Urteilstenor noch dahingehend auf Antrag der Autoren berichtigt, dass sowohl Rettungswagen (RTW) für die Notfallrettung als auch Krankentransportwagen (KTW) für den qualifizierten Krankentransport genannt werden – Näheres im Beitrag [8].

Naturgemäß stellt sich nun die Frage, wie in den Bundesländern konkret mit der Bereichsausnahme umzugehen ist. In manchen Ländern (z.B. Bayern) wird diskutiert, das Landesrecht an die Bereichsausnahme anzupassen. Dies ist v.a. dort nötig, wo (wie in Bayern) landesrechtlich ein wettbewerbliches Auswahlverfahren mit explizitem Gleichrang von Hilfsorganisationen und Privaten mit Gewinnerzielungsabsicht vorgegeben ist. Wo das Landesrecht diese zwingende Beteiligung von Privaten nicht vorsieht, kann normalerweise ohne weiteres die bundesrechtlich verankerte Bereichsausnahme angewendet werden. Dies wird beispielsweise in Nordrhein-Westfalen durch einen Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) vom 26.04.2019 aktuell bestätigt. So führt Ziff. 5 aus:

„Sofern die Bereichsausnahme vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen zu bejahen ist, sind die Verfahren aus der Vergaberichtlinie, die in den §§ 107 f. GWB umgesetzt wurden, nicht anzuwenden. Das EuGH-Urteil enthält keine Formulierung, welche bei der Anwendung der Bereichsausnahme der öffentlichen Stelle die Durchführung eines sonstigen wettbewerblichen Verfahrens unter Beachtung des EU-Primärrechtsrechts aufgibt.“

Wie eine Auswahl zwischen Hilfsorganisationen künftig aussehen wird, wird die Zukunft weisen. Wenn nach bisherigem Muster weiter ausgeschrieben wird, werden auch die Nachteile von Ausschreibungen weiter bestehen. Problemdarstellung und Lösungsansätze finden sich im Beitrag in Vergabeblog.de vom 18/02/2019, Nr. 39856 [1].

Träger des Rettungsdienstes haben die Möglichkeit, bestehende Verträge auch unter Geltung des Vergaberechts interimistisch zu verlängern. In den meisten Bundesländern ist die Bereichsausnahme anwendbar. Manche Bundesländern sind schon an der Novellierung des Landesrechts. Bis auf Landesebene Klarheit herrscht und alternative Beauftragungsmodelle (z.B. das Planungsmodell) implementiert sind, sollten bestehende Strukturen nicht ohne Not beschädigt werden. Einstweilige Lösungen zeigt der Praxistipp in Vergabeblog.de vom 18/02/2019, Nr. 39856 [1] auf.

Dies gilt gerade vor dem Hintergrund, dass in manchen Bereichen Marktteilnehmer erwarten, dass die Bereichsausnahme bestehende Verhältnisse verfestigen wird. Das führt bei Ausschreibungen mit Preiswertung teilweise zu Dumpingangeboten in der Hoffnung, den eigenen Marktanteil zu vergrößern und diesen später behalten und z.B. im Rahmen von Entgeltverhandlungen im Rettungsdienst auskömmlicher gestalten zu können. Diese Problematik sollten Träger (er)kennen und offensiv gegensteuern. Schlussendlich soll die Bereichsausnahme gerade das Gesamtsystem aus Bevölkerungsschutz und Rettungsdienst stärken. Dies gelingt nur, wenn Anreize vorhanden sind, bestehende ehrenamtliche Aufwachskapazitäten zu fördern und dadurch die Gefahrenabwehr zu stärken. Die Vernetzung in der Gefahrenabwehr muss aber auch durch Verwaltung und Politik erkannt und gewürdigt werden.

Anmerkung des Autors

Der Autor hat die Entscheidung des EuGH zusammen mit Dr. Mathias Pajunk erstritten (Dank an ihn und an Wiss. Mit. Sven Müller für die Unterstützung) und vertritt zusammen mit diesem die Bietergemeinschaft zweier Hilfsorganisationen in diesem Fall.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Rechtsanwalt Dr. Mathias Pajunk verfasst.

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Über Dr. Mathias Pajunk [9]

Dr. Mathias Pajunk ist ist Rechtsanwalt in der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte [10]. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in der Beratung von öffentlichen Auftraggebern bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen und Dienstleistungskonzessionen. Zu seinen weiteren Tätigkeitsfeldern zählt die Bearbeitung komplexer Fragestellungen auf den Gebieten des Beihilfen- und Kartellrechts.

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Über René Kieselmann [12]

René M. Kieselmann [13] ist Rechtsanwalt und verantwortet als Partner der Sozietät SKW Schwarz Rechtsanwälte [10] das Dezernat Vergaberecht. Er berät zusammen mit seinem Team bundesweit vor allem die öffentliche Hand, aber auch Bieter. Schwerpunkte sind u.a. IT-Vergaben und Rettungsdienst/Bevölkerungsschutz. Er ist Mitglied der Regionalgruppe Berlin/Brandenburg des Deutschen Vergabenetzwerks (DVNW) [14]

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