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Keine Pflicht zur Angabe einer Höchstgrenze in Rahmenvereinbarungen! (VK Bund, Beschl. v. 19.07.2019 – VK 1-39/19)

EntscheidungÖffentliche Auftraggeber brauchen bei der Vergabe von Rahmenvereinbarungen weder einen Gesamtwert, noch einen Wert der zu vergebenden Aufträge anzugeben, wenn die genaue Ermittlung der Mengenangabe nicht (hinreichend) möglich ist.

§ 21 Abs. 1 S. 2 VgV; Art. 33 RL 2014/24/EU, Art. 49 i.V.m. Anhang V Teil C Nr. 10a RL 2014/24/EU

Sachverhalt

Die VK Bund hatte über ein im Rahmen der seit April 2016 geltenden Vergabeverordnung eingeleitetes Vergabeverfahren zu entscheiden, dessen Gegenstand in der Vergabe einer Rahmenvereinbarung zur Erbringung von Unterstützungsdienstleistungen im Rahmen der Fallbearbeitung bestand. Auftraggeberin war eine gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Vom Dienstleister sollten insbesondere saisonale Spitzen bei der Prüfung von Anträgen von Versicherten der Auftraggeberin auf Erstattung von Rechnungen für ärztliche und pflegerische Leistungen erbracht werden. In der EU-Bekanntmachung hatte die Auftraggeberin unter Ziffer II.1.5 (Geschätzter Gesamtwert) keine Angaben gemacht, dafür aber in Ziffer II.2.4 Beschreibung der Beschaffung auf konkret benannte Vertragsunterlagen verwiesen, in denen die Menge der vom Auftragnehmer zu erbringenden Bearbeitungsprozesse und die entsprechenden Abrufzeiträume genannt wurden. Zudem waren für jeden der ausgeschriebenen Bearbeitungsprozesse Fallzahlen je Monat aufgeführt. Die angegebenen Mengen schwankten zwischen den Monaten stark. Bei einigen Bearbeitungsprozessen fielen für mehrere Monate überhaupt keine Fälle an. Schließlich enthielten die Unterlagen den Hinweis, dass es sich bei den Angaben um eigene Erfahrungswerte aus den letzten Jahren handelte, die lediglich als Kalkulationsgrundlage dienen sollten, absolute Fallmengen könnten nicht zugesichert werden.

Die Antragstellerin macht mit ihrem Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer des Bundes u.a. geltend, dass die Antragsgegnerin entgegen der Entscheidung des EuGH vom 19. Dezember 2018 (Rs. C-216/17 „Antitrust und Coopservice“, Schröder, [1]) nicht das maximale Abrufvolumen, den maximalen Auftragswert und die Höchstmengen angegeben habe. Sie habe lediglich Erfahrungswerte, die zudem zeigten, dass die Antragsgegnerin zumindest über gewisse Erkenntnisse über den zu erwartenden Auftragswert verfüge, in den Vergabeunterlagen aufgeführt. Diese hätten zudem in der EU-Bekanntmachung angegeben werden müssen.

Die Antragsgegnerin trägt vor, hinsichtlich der Festlegung von Mindest- und Maximalabnahmemengen sei sie bei der Vorbereitung des Vergabeverfahrens zu dem Schluss gekommen, dass eine dezidierte Festlegung nicht abschließend möglich sei. Der Bedarf an Unterstützungsleistungen bei der Fallbearbeitung sei von externen Faktoren abhängig, die die Antragsgegnerin nicht beeinflussen könne (Anzahl der eingehenden Fälle der Versicherten, die sowohl jährlichen als auch saisonalen Schwankungen unterlägen). Zudem könne die Antragsgegnerin bei einer exakten Festlegung von Mindest- und Maximalabnahmemengen nicht wie beabsichtigt flexibel auf saisonale Spitzen bei der Fallbearbeitung reagieren. Die von der Antragstellerin zitierte Entscheidung des EuGH sei auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.

Die Entscheidung

Die VK Bund schließt sich der Sichtweise der Antragsgegnerin an. Diese war nicht verpflichtet, bei dieser Rahmenvereinbarung das maximale Abrufvolumen, den maximalen Auftragswert und die abzurufenden Höchstmengen anzugeben.

Ausgangspunkt ist § 21 Abs. 1 S. 2 VgV. Danach muss ein öffentlicher Auftraggeber bei Rahmenvereinbarungen das in Aussicht genommene Auftragsvolumen nur so genau wie möglich ermitteln und bekannt geben, braucht dies aber nicht abschließend vorab festzulegen.

Die VK Bund stellt fest, dass den Voraussetzungen des § 21 Abs. 1 S. 2 VgV genügt wird, wenn der Auftraggeber so valide wie möglich Erfahrungswerte zugänglich macht, die ihm bekannt sind und die er mit zumutbarem Aufwand ermitteln kann. Dies ist in dem vorliegenden Fall geschehen. Bei der vorliegend ausgeschriebenen Rahmenvereinbarung hing der vom Auftraggeber zu ermittelnde Auftragsumfang von Ereignissen ab, die der Auftraggeber nicht sicher vorhersehen und nicht beeinflussen konnte, weil sie nicht vollständig in seiner Sphäre lagen. Denn die Inanspruchnahme der ausgeschriebenen Leistungen hing hier von der Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen durch die Versicherten ab. Die Erfahrungswerte hatte die Antragsgegnerin nach Ansicht der VK Bund ausreichend zugänglich gemacht, da sie den Bietern alle ihr zur Verfügung stehenden validen Daten zugänglich gemacht hatte, nämlich eine Liste, aus der die Bieter basierend auf den Erfahrungswerten der Antragsgegnerin der letzten Jahre die monatlichen Fallzahlen der einzelnen Bearbeitungsprozesse und die hierbei auftretenden Schwankungen ersehen konnten. Auch wenn hinsichtlich des Auftragsumfangs weiterhin erhebliche Kalkulationsrisiken bei den Bietern verblieben sind, war diese Vorgehensweise des Antragsgegners nach Auffassung der VK Bund mithin vergaberechtskonform.

Anschließend stellt die VK Bund ausdrücklich fest, dass die Entscheidung des EuGH vom 19. Dezember 2018 (Rs. C-216/17) auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar ist. Denn diese ist ausschließlich zur alten Rechtslage nach der RL 2004/18/EG ergangen und findet auf die aktuelle Rechtslage nach der RL 2014/24/EU keine Anwendung.

Wie Art. 1 Abs. 5 der alten Richtlinie 2004/18/EG verlangt die aktuelle Richtlinie in Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 RL 2014/24/EU, der durch § 21 VgV in deutsches Recht umgesetzt wurde, ebenfalls nur, dass die in Aussicht genommene Menge vom Auftraggeber gegebenenfalls im Vorhinein festgelegt werden muss. Darüber hinaus unterscheide sich die aktuelle Richtlinie von der vorangehenden gerade in einem für die VK Bund ausschlaggebenden Punkt: Bekanntmachungen mussten bei Rahmenvereinbarungen über Dienstleistungen nach dem früheren Recht u.a. die Angabe des für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung veranschlagten Gesamtwerts der Dienstleistungen enthalten (Art. 36 Abs. 1 i.V.m. Anhang VII Teil A der RL 2004/18/EG). Demgegenüber verlangt das aktuelle Recht nur noch, dass der Wert oder die Größenordnung der zu vergebenden Rahmenvereinbarung soweit möglich angegeben wird (Art. 49 i.V.m. Anhang V Teil C Nr. 10a) der RL 2014/24/EU).

Offen gelassen hat die VK Bund, ob die aktuellen EU-Bekanntmachungsregeln verlangen, dass ein Auftraggeber die Erfahrungswerte, die die Antragsgegnerin vorliegend nur in den Vergabeunterlagen mitgeteilt hat, bereits in der EU-Bekanntmachung angeben muss. Die Rechtsfrage war nicht zu entscheiden, da selbst wenn eine solche Bekanntgabe erforderlich sei, die Antragstellerin vorliegend jedenfalls nicht in ihren Rechten verletzt war. Sie hatte sich auch ohne die Bekanntmachung der Erfahrungswerte an dem Vergabeverfahren beteiligt und auch selbst nicht vorgetragen, inwieweit die vorherige Bekanntmachung des Mengengerüsts ihre Zuschlagsaussichten verbessert hätte.

Rechtliche Würdigung

Die Auffassung der VK Bund ist zutreffend.

Zunächst fügen sich ihre Ausführungen zum § 21 Abs. 1 S. 2 VgV bereits ein in eine vorangehende Entscheidung des OLG Celle vom 19. März 2019 (13 Verg 7/13, Probst, [2]). In der bereits nach der Entscheidung des EuGH ergangene Entscheidung führt das OLG aus:

Auch hier ist der öffentliche Auftraggeber aber verpflichtet, seinen voraussichtlichen Bedarf so sorgfältig zu ermitteln, wie dies möglich und zumutbar ist. Ist dies nicht möglich, reicht es auch aus, bisherige Erfahrungswerte zugänglich zu machen, die dem Bieter möglichst präzise mitzuteilen sind, damit sie selbst die in der Zukunft erfolgenden Einzelaufträge hinreichend sicher prognostizieren können. (Hervorhebung hinzugefügt)

Die VK Bund verweist sodann zu Recht auf den Unterschied, der sich aus dem aktuellen Anhang V Teil C Nr. 10a der RL 2014/24/EU gegenüber dem vorangehenden Anhang VII Teil A, Nr. 6 Buchst. c der RL 2004/18/EG ergibt. Der in der aktuellen Richtlinie weggefallene Passus stellte nach der alten Rechtslage die einzige ausdrückliche Pflicht dar, nach der der veranschlagte Gesamtwert für die gesamte Laufzeit der Rahmenvereinbarung anzugeben war. Diese Pflicht stand zwar in klarem Widerspruch zu dem damaligen Art. 1 Abs. 5 RL 2004/18/EG, welcher (lediglich) bestimmt, dass die in Aussicht genommene Menge gegebenenfalls festzulegen ist. Die Richtlinie selbst gab damit aber zumindest einen ausdrücklichen Anhaltspunkt dafür her, dass der europäische Gesetzgeber damals die Angabe einer Höchstgrenze gewollt haben könnte. Damit war die Möglichkeit einer entsprechenden Auslegung des Art.1 Abs. 5 RL 2004/18/EG für den EuGH eröffnet.

Nunmehr ist die Rechtslage ausdrücklich anders.

Der klare Anknüpfungspunkt ist weggefallen. Verblieben ist im aktuellen Anhang V Teil C Nr. 10a der RL 2014/24/EU nur noch, dass ein öffentlicher Auftraggeber eine Angabe des Werts oder der Großen­ordnung und der Haufigkeit der zu vergebenden Auftrage soweit möglich vornehmen muss. Der Widerspruch zu der Regelung in der Richtlinie, die nunmehr nahezu identisch in Art. 33 Abs. 1 RL 2014/24/EU zu finden ist, hat sich damit aufgelöst. Die Auslegung des EuGH müsste im Rahmen der aktuellen Richtlinie mithin nicht nur entgegen den ausdrücklichen Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 RL 2014/24/EU erfolgen, sondern auch entgegen den Wortlaut des Anhangs V Teil C Nr. 10a der RL 2014/24/EU. Erschwerend kommt hinzu, dass durch die Änderung des Wortlauts in dem Anhang der Richtlinie dieser als entscheidendes Argument für die Angabe einer Höchstmenge entfallen ist. Ein Aufrechterhalten des Auslegungsergebnisses allein auf der Grundlage der übrigen vom EuGH herangezogenen Argumente dürfte auf dieser Grundlage rechtlich schwer vorstellbar sein (so aber bspw. Schröder in einem Beitrag vom 28. Januar 2019 in diesem Blog). Dies gilt umso mehr, als der EuGH in seiner Entscheidung selbst zutreffend in Bezug auf die Angabe des Wertes und der Häufigkeit jedes einzelnen der abzuschließenden Folgeaufträge festgestellt hat, dass dem öffentlichen Auftraggeber insoweit nur die Pflicht obliegt, sich zu bemühen.

Im Hinblick auf die vom EuGH festgestellte Beeinträchtigung der Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung, die durch eine andere Auslegung als die vom EuGH getroffene möglich sein soll, ist festzuhalten, dass eine Beeinträchtigung von Grundsätzen im Europarecht nicht per se unzulässig ist, sofern sie gerechtfertigt werden kann. Dies ist vorliegend anzunehmen. Erstens handelt es sich nicht um einen schwerwiegenden Eingriff. Zweitens würde ein Beibehalten der Pflicht zur Angabe von Höchstgrenzen in solchen Fällen, in denen deren Ermittlung nicht möglich ist, dazu führen, dass öffentliche Auftraggeber faktisch auf das Instrument der Rahmenvereinbarung nicht zurückgreifen könnten. Dies ist vom europäischen Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt. Nicht umsonst hat er im Erwägungsgrund 60 der RL 2014/24/EU festgehalten: Das Instrument der Rahmenvereinbarungen findet breite Anwendung und wird europaweit als eine effiziente Be­schaffungsmethode angesehen. Daher sollte daran weit­gehend festgehalten werden.

Praxistipp

Noch bleibt abzuwarten, ob andere Vergabekammern und Vergabesenate der Auffassung der VK Bund folgen. Bis dahin sollten öffentliche Auftraggeber weiter Vorsicht walten lassen. In jedem Einzelfall ist zu prüfen, ob die Angabe von Werten der zu vergebenden Einzelaufträge und eines zu ermittelnden Gesamtwertes möglich ist oder nicht. Ist es jedoch nicht möglich, einen maximalen Wert zu ermitteln, kann auf diesen verzichtet werden. Zumindest sollten aber vorhandene Erfahrungswerte bekannt gemacht werden. Die Gründe, aus denen eine Angabe nicht möglich ist, sollten in der Vergabeakte dokumentiert werden. Ist die Ermittlung eines Wertes möglich, sollte dieser sicherheitshalber bereits in der Bekanntmachung aufgeführt werden. Bieter müssen etwaige Kalkulationsrisiken bei einer fehlenden Obergrenze/Höchstmenge bei der Angebotserstellung mit einpreisen.

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Über Constanze Hildebrandt [3]

Die Autorin Constanze Hildebrandt ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Vergaberecht in Berlin und verfügt über langjährige Praxiserfahrung durch ihre vorangehende Tätigkeit als Unternehmensjuristin und zuletzt Leiterin eines Rechtsbereichs nebst Vergabestelle. Sie ist spezialisiert auf vergabe- und zuwendungsrechtliche Fragestellungen. Frau Hildebrandt berät schwerpunktmäßig öffentliche Auftraggeber und Zuwendungsempfänger bei der Vorbereitung und Durchführung von komplexen Vergabeverfahren einschließlich der Vertragsgestaltung.

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