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Du kannst es nicht? Pech gehabt! – Grenzen des Rechtsschutzes bei einer (rechtswidrigen) de-facto-Vergabe (VK Rheinland, Beschl. v. 02.08.2019 – VK 17 / 19 – L)

EntscheidungDas Vergabenachprüfungsverfahren ist kein objektives Beanstandungsverfahren, sondern dient allein dem Schutz solcher Bieter, die geltend machen können, durch einen Vergaberechtsverstoß in ihren Auftragschancen beeinträchtigt zu sein. Die VK Rheinland bestätigt nun in einer sehr instruktiven Entscheidung, dass dies auch dann gilt, wenn ein Auftraggeber einen Auftrag ohne Vergabeverfahren de-facto vergeben hat, selbst wenn dies offenbar rechtswidrig erfolgt ist.

§§ 97 Abs. 6, 135 Abs. 1 Nr. 2, 168 GWB, § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b) VgV

Leitsatz

Ein Bieter kann mangels Rechtsverletzung nicht mit Erfolg eine unterbliebene europaweite Ausschreibung geltend machen, wenn erkennbar ist, dass er sich im Falle der Durchführung einer europaweiten Ausschreibung nicht erfolgversprechend an der Ausschreibung beteiligen kann. Dies ist der Fall, wenn er gar nicht dazu in der Lage ist, die abgefragte Leistung zu erbringen.

Sachverhalt

Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens war die Beauftragung von Sprach- und Integrationsmittler/innen (Fachkräfte SprInt) im Bereich des JobCenters im Ort X.

Der Auftragnehmer solle einen Pool an Fachkräften SprInt vorhalten, die von den Beschäftigten des JobCenters dann jeweils aus einem Rahmenvertrag abgerufen werden können. Die Fachkräfte SprInt sollen die Beschäftigten des JobCenters bei der Kommunikation mit Menschen mit Migrationshintergrund durch fachkundiges Dolmetschen und Vermittlung von soziokulturellen Fragen vor Ort bei Kundengesprächen unterstützen. Hierfür sollen die Fachkräfte SprInt über entsprechende berufliche Qualifikation und/oder Berufserfahrung sowie über rechtliches Hintergrundwissen bzgl. der Erbringung von SGB II-Leistungen sowie über Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten in X verfügen. Sie müssen sich in den Quartieren und Stadtteilen auskennen und die dortigen relevanten Anlaufstellen wie Sprachkursträger oder Quartierhausmeister aufzeigen können. Der Auftragnehmer wird verpflichtet, Fachkräfte SprInt für insgesamt mehr als 40 verschiedene Sprachen und Dialekte vorzuhalten.

Im März 2019 schloss der Auftraggeber einen Vertrag mit einem Anbieter derartiger Leistungen für ein Jahr – Ohne Durchführung eines Vergabeverfahrens.

Der Auftraggeber berief sich hierfür auf § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b) VgV und führte an, dass aus technischen Gründen ist kein Wettbewerb vorhanden sei. Im Bereich der Stadt X würde niemand anderes als der Auftragnehmer derartige Leistungen anbieten. Zwar gäbe es ggf. auch in der Umgebung von X weitere SprInt-Institutionen, die diese Leistung wohl erbringen könnten. Es gäbe zwischen diesen Anbietern aber keinen Wettbewerb, da jedes SprInt-Netzwerk sich nur regional (also in seiner Stadt etc.) betätige.

Im April 2019 veröffentlichte der Auftraggeber im EU-Amtsblatt eine Veröffentlichung über den vergebenen Auftrag und gab den geschätzten Gesamtwert mit etwa 2 Millionen Euro an.

Die Antragstellerin ist vereidigte Dolmetscherin der bulgarischen Sprache. Sie richtete sich mit einem Nachprüfungsantrag gegen die ihrer Auffassung nach rechtswidrige Direktvergabe und trug vor, dass sie mit vier weiteren Subunternehmern aus diesem Bereich zusammenarbeite und selbst ein Interesse an der Erbringung dieser Leistung habe.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag als unbegründet zurückgewiesen.

Dies begründetet sie damit, dass die Antragstellerin auch gemeinsam mit ihren Subunternehmern nicht in der Lage wäre, den Auftrag zu erbringen, wenn er denn ausgeschrieben worden wäre oder nun erstmalig ausgeschrieben werden müsste. Eine erfolgreiche Teilnahme an einer Ausschreibung sei ausgeschlossen, deshalb hätten sich die Zuschlagschancen der Antragstellerin durch das Verhalten des JobCenters X selbst bei unterstellter Vergaberechtswidrigkeit der Direktvergabe nicht verschlechtert. Deswegen sei es der Vergabekammer verwehrt, in das Verfahren einzugreifen.

Die Vergabekammer stellt hierfür auf den Beschaffungsbedarf des JobCenters X ab, den sie aus dem vergebenen Auftrag ableitet. Die Fachkräfte SprInt müssten mehr als 40 Sprachen und Dialekte abdecken, die Antragstellerin könne (auch gemeinsam mit Subunternehmern) nur eine Sprache (Bulgarisch) anbieten. Bulgarisch mache allerdings nur einen Anteil von 7 % am gesamten Auftragsvolumen aus. Auch eine Losbildung für einzelne Sprachen oder Dialekte komme nicht in Betracht. Denn zum einen zeige die Tatsache, dass der Auftraggeber einen Gesamtauftrag vergeben hat, dass das JobCenter X keine Losbildung wolle und dies also offenbar nicht seinem Beschaffungsbedarf entspreche. Zum anderen bestehe bei einer Losbildung die Gefahr der Bildung von Splitterlosen.

Ob die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b) VgV tatsächlich vorliegen, lässt die Kammer ausnahmsweise offen, da es hierauf nicht ankomme. Am Ende der Entscheidung äußert sie sich hierzu allerdings doch in eine Art obiter dictum und stellt – auch im Hinblick auf zukünftige Verfahren – fest, dass die rein stadtinterne Sichtweise des JobCenters X wohl zu kurz greife. Eine entsprechende Markterkundung oder Marktabfrage sei jedenfalls nicht erfolgt und nicht dokumentiert. Außerdem, so heißt es am Ende, habe eine sehr einfache Recherche der Kammer im Internet ergeben, dass es neben den von der Antragstellerin bislang benannten SprInt-Netzwerke in A, B und C auch weitere Anbieter gibt, die SprInt-Leistungen NRW-weit anbieten.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung lässt den unbefangenen Leser mit einem unguten Bauchgefühl zurück: ein Auftraggeber ist mit einer wohl rechtswidrigen Direktvergabe durchgekommen, und das nur, weil der falsche Antragsteller den Nachprüfungsantrag anhängig gemacht hat.

Die Entscheidung berührt in vergaberechtlicher Hinsicht zwei Problemfelder. Zum einen geht es um die Auslegung des § 135 Abs. 1 GWB sowie um das Erfordernis der Beeinträchtigung der Auftragschancen durch eine rechtswidrige de-facto-Vergabe. Zum anderen stellt sich die Frage, ob die Kammer tatsächlich so einfach annehmen durfte, dass es ausgeschlossen sei, dass die Antragstellerin die Leistung erbringen und in einem Vergabeverfahren ein Angebot abgeben könne. Im Ergebnis kann die Entscheidung der Vergabekammer nur in dem ersten Aspekt überzeugen.

Zur Feststellung der rechtswidrigen de-facto-Vergabe und das Erfordernis der Beeinträchtigung der Zuschlagschancen

Nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB ist ein öffentlicher Auftrag von Anfang an unwirksam, wenn der Auftraggeber den Auftrag ohne vorherige Bekanntmachung vergeben hat, ohne dass dies gestattet war, und dieser Verstoß in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden ist.

Aber was bedeutet festgestellt?

Nach dem Duden heißt feststellen in Erfahrung bringen oder erkennen und erfordert darüber hinaus eine gewisse Verbindlichkeit in der Aussage (mit Entschiedenheit sagen). Auch wenn es nach den obiter-dictum-Hinweisen der Vergabekammer der Fall zu sein scheint, dass die Voraussetzungen für den Verzicht auf eine Bekanntmachung nicht vorgelegen haben, hat die Vergabekammer den Verstoß trotzdem nicht im Wortsinn festgestellt. Denn sie lässt es ausdrücklich dahinstehen, ob eine Pflicht zur europaweiten Ausschreibung bestand und trifft dadurch keine abschließende Aussage.

Hätte die Vergabekammer also eine abschließende Prüfung der de-facto-Vergabe vornehmen, den Verstoß feststellen und den Vertrag anschließend doch für unwirksam erklären müssen?

Im Ergebnis wird man dies verneinen müssen. Die Vergabekammer fordert auch im Fall einer de-facto-Vergabe zu Recht, dass die Antragstellerin hierdurch in ihren Auftragschancen beeinträchtigt sein muss.

Das Erfordernis der Beeinträchtigung der Auftragschancen des Antragstellers durch einen Vergabeverstoß wird zumeist aus der Rechtsmittelrichtlinie hergeleitet (Richtlinie 89/665/EWG in der durch Richtlinie 2007/66/EG geänderten Fassung). Art. 2d Abs. 1 lit. b) sowie Erwägungsgrund 18 der Richtlinie 2007/66/EG sehen vor, dass Rechtsschutz gegen einen Vertrag, der unter die Vergabevorschriften abgeschlossen worden ist, voraussetzt, dass der Rechtsverstoß die Aussichten des Bieters [] auf die Erteilung des Zuschlags beeinträchtigt hat. Die Rechtsmittelrichtlinie gilt auch nach Inkrafttreten der Richtlinie 2014/24/EU (siehe Art. 91 UAbs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU). Trotzdem ist der Verweis auf die Rechtsmittelrichtlinie jedenfalls für den Fall des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB (um den es hier ging) nicht ganz zutreffend. Denn sowohl der Erwägungsgrund 18 als auch Art. 2 d lit. b) der Richtlinie 2007/66/EG beziehen sich nur auf solche Vertragsabschlüsse, die unter Verstoß gegen die Stillhaltefrist geschlossen worden sind. Dies betrifft den Tatbestand des § 135 Abs. 1 Nr. 1 GWB, nicht aber den hier einschlägigen § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Für diesen Verstoß ordnet die Rechtsmittelrichtlinie 2007/66/EG in Art. 2 a Abs. 1 lit. a) (und nicht in lit. b) an, dass die

Mitgliedstaaten [] dafür Sorge [tragen], dass ein Vertrag durch eine []Nachprüfungsstelle für unwirksam erklärt wird [], falls der öffentliche Auftraggeber einen Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies nach der Richtlinie 2004/18/EG [bzw. jetzt der Richtlinie 2014/24/EU) zulässig ist, (Hervorhebung nur hier)

und zwar ohne dass explizit darauf hingewiesen wird, dass der Verstoß die Aussichten des Bieters [] auf die Erteilung des Zuschlags beeinträchtigt haben muss.

Das OLG Düsseldorf (Beschl. v. 03. August 2011, VII-Verg 6/11) nimmt daher eine Art allgemeinen Rechtsgrundsatz an und führt in einem Nachprüfungsverfahren, in dem die Zuschlagschancen der Antragstellerin durch einen (nachgewiesenen) Vergaberechtsverstoß nach Auffassung des Senats nicht beeinträchtigt worden sind, aus:

Doch ist die Anforderung, dass durch den festgestellten Rechtsverstoß tatsächlich und kausal die Auftragschancen des Antragstellers beeinträchtigt worden sein müssen, bei wertender Betrachtung auf vergaberechtliche Streitfälle der vorliegenden Art zu übertragen. Fehlt es an einer solchen Beeinträchtigung, besteht für die Vergabenachprüfungsinstanzen auch kein rechtfertigender Grund, das Vergabeverfahren anzuhalten und auf diese Weise den vom Gesetz angestrebten möglichst raschen Abschluss des Beschaffungsvorhabens zu verzögern.

Im Ergebnis ist das richtig.

Das Vergabenachprüfungsverfahren ist kein objektives Beanstandungsverfahren, sondern dient allein dem Schutz solcher Bieter, die geltend machen können, durch einen Vergaberechtsverstoß einen Schaden erlitten zu haben oder dass ein solcher Schaden droht. Ziel der Beteiligung an einem Vergabeverfahren ist immer die Zuschlagserteilung. Dann muss der erlittene oder drohende Schaden regelmäßig in der Beeinträchtigung der Zuschlagschancen durch den Vergaberechtsverstoß liegen. Die Begründetheitsprüfung umfasst also letztlich drei Schritte, nämlich

– erstens die Feststellung des Vergaberechtsverstoßes,

– zweitens die Verletzung in bietereigenen subjektiven Rechten und

– drittens die Feststellung, dass jedenfalls nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass sich die Zuschlagschancen des Bieters hierdurch auch verschlechtert haben.

Hierbei dürfen Restzweifel, ob und wie sich ein Vergaberechtsverstoß ausgewirkt hat, nicht zu Lasten des Antragstellers gehen (OLG München, Beschl. v. 23. Oktober 2010, Verg 21/10). Erst dann, wenn eine Vergabenachprüfungsinstanz es nach umfassender Prüfung ganz sicher (!) ausschließen kann, dass ein Vergaberechtsverstoß keine Auswirkungen auf die Zuschlagschancen eines Antragstellers hat, ist der Nachprüfungsantrag unbegründet und die Kammer ist nicht befugt, in eine Auftragsvergabe einzugreifen.

Im Ergebnis ist ein Vergaberechtsverstoß also erst dann i.S.d. § 135 Abs. 1, 2. HS GWB festgestellt, wenn der Nachprüfungsantrag zulässig und begründet ist (so auch Braun, in: Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Auflage 2018, § 135 Rn. 119).

Zu den Auftragschancen der Antragstellerin

Der Erfolg oder Misserfolg des Nachprüfungsantrags hing damit im Ergebnis auch davon ab, ob die Vergabekammer tatsächlich annehmen durfte, es sei unter allen in Betracht kommenden Varianten ausgeschlossen, dass die Antragstellerin sich an einer Ausschreibung mit Erfolg hätte beteiligen können.

Man kann durchaus in Zweifel ziehen, ob es im Fall des § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB überhaupt möglich ist, anzunehmen, dass der Verzicht auf eine Bekanntmachung und auf ein Vergabeverfahren mit Sicherheit keinerlei negative Auswirkungen auf die Zuschlagschancen des Antragstellers gehabt hat. Denn wenn kein Vergabeverfahren durchgeführt worden ist, lässt sich auch nicht vorhersagen, wie ein rechtskonformes Vergabeverfahren ausgesehen hätte und ob ein Unternehmen ein zuschlagsfähiges Angebot abgegeben hätte (so auch Dreher/Hoffmann, in: Beck’scher Vergaberechtskommentar, 3. Auflage 2017, § 135 Rn. 45).

An dieser Stelle offenbart sich auch die Schwäche des Beschlusses, bei dem es sich die Vergabekammer nach Auffassung des Verfassers zu leicht macht. Denn es erstaunt, mit welch eindeutigen und – angesichts der Tragweite der Entscheidung: relativ kurzen – Worten die Vergabekammer feststellt, dass es ausgeschlossen sei, dass die Antragstellerin in der Lage wäre, die Leistung zu erbringen, wenn sie denn ausgeschrieben worden wäre, und dass auch eine Losbildung nicht in Betracht komme.

Zwar sind die Aussagen zur mangelnden Leistungsfähigkeit der Antragstellerin zunächst einleuchtend und offenbaren einen – auf den ersten Blick – eindeutigen Sachverhalt: der Auftraggeber benötigt Dolmetscher- und sonstige Hilfe- und Unterstützungsleistungen für mehr als 40 verschiedene Sprachen und Dialekte, die Antragstellerin kann nur eine Sprache anbieten.

Wenn mehr als 40 verschiedene Sprachen und Dialekte benötigt werden, muss der Auftraggeber dies im Vergabeverfahren natürlich fordern dürfen. Aber dass hierfür eine Losbildung von vornherein ausscheiden soll, kann man mit guten Argumenten auch anders sehen. Denn immerhin verpflichten § 97 Abs. 4 Satz 1 und 2 GWB einen Auftraggeber dazu, Fach- / Teillose zu bilden und hierdurch mittelständische Interessen vornehmlich zu berücksichtigen. Zwar gibt es keine rechtliche Verpflichtung zur Förderung von Kleinstunternehmen oder sehr spezialisierten Unternehmen wie der Antragstellerin. Allerdings sind bei der Prüfung der Notwendigkeit einer Losbildung und der Frage, welche Marktteilnehmer von § 97 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB geschützt werden, immer die konkreten Marktverhältnisse in einer bestimmten Branche zu berücksichtigen – und in der Branche Dolmetscher-, Beratungs- und Hilfestellungsdienstleistungen für Jobcenter im Bereich SGB II dürfte das SprInt Netzwerk in X wohl zu den großen Anbietern zählen, denen eine Gesamtlosvergabe durchaus gelegen kommt, weil es die kleinen und mittelständischen Unternehmen aus der Branche von Aufträgen fernhält.

Der Nachprüfungsantrag zeigt sehr anschaulich, dass sich für einzelne Sprachen oder Dialekte mit einem hohen Verbreitungsgrad (wie z.B. Bulgarisch) durchaus ein eigener Markt herausgebildet hat. Unter Heranziehung etwa der Rechtsprechung zur Notwendigkeit der Bildung von Fachlosen bei der Gebäudereinigung (Glas- im Unterschied zur Flächenreinigung, OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.03.2011, VII-Verg 63/10) lässt sich daher argumentieren, dass jedenfalls für Sprachen oder Dialekte mit einem höheren Verbreitungsgrad eigene Fachlose durchaus in Betracht gekommen wären. Hierfür spricht auch die gesetzgeberische Wertung in § 3 Abs. 9 VgV, wonach bei einem Gesamtauftrag Einzellose nur bis zu einem Auftragswert bis zu 80.000,00 Euro netto unter bestimmten Umständen ohne Vergabeverfahren vergeben werden können. Angesichts des Anteils z.B. der bulgarischen Sprache an dem Gesamtauftragsvolumen (7 %) hätte ein Fachlos bulgarische Sprache hier aber einen Anteil von etwa 140.000,00 Euro gehabt.

Auf dieses Los hätte die Antragstellerin sich (nach den Ausführungen der Vergabekammer) offenbar auch bewerben können, denn die geforderten beruflichen und fachlichen Qualifikationen neben der Dolmetscher-Tätigkeit hätte sie durch Nachunternehmer abdecken können.

Wenn die Vergabekammer die Notwendigkeit einer Losbildung richtigerweise nicht von Anfang an ausgeschlossen, sondern jedenfalls für Sprachen oder Dialekte mit einem höheren Verbreitungsgrad genauer geprüft hätte, hätte ihr dies die Möglichkeit gegeben, den Verzicht auf die Losbildung als besonders schwerwiegenden Verstoß aufzugreifen und den Auftraggeber zu verpflichten, unter Beachtung ihrer Rechtsauffassung bei einer Neuausschreibung auch über die Losbildung neu zu entscheiden. Dann wäre eine Beeinträchtigung der Zuschlagschancen der Antragstellerin in einem Vergabeverfahren jedenfalls nicht von vornherein sicher ausgeschlossen und der Nachprüfungsantrag begründet gewesen.

Es hätte auch Anlass dafür bestanden, die unterbliebene Losbildung kritisch zu hinterfragen. Denn offenbar (jedenfalls geht dies aus dem Beschluss nicht hervor) hatte der Auftraggeber sich mit der Frage, ob wenigstens für Sprachen oder Dialekte mit einem hohen Verbreitungsgrad eigene Fachlose gebildet werden können, nicht beschäftigt und dies auch nicht dokumentiert. Es lag insoweit also auch ein Dokumentationsmangel nach § 8 VgV vor, der die Antragstellerin ebenfalls in ihren Rechten verletzt hat.

Praxistipp

Auftraggeber tun gut daran, die Gründe für den Verzicht auf eine Bekanntmachung und eine Direktvergabe sorgfältig zu prüfen. Dies gilt übrigens auch im Bereich der Vergabe von Aufträgen über soziale und andere besondere Dienstleistungen nach § 130 GWB i.V.m. Anhang XIV der Richtlinie 2014/24/EU. Hier kann die Verfahrensart zwar grundsätzlich frei gewählt werden (§ 65 Abs. 1 VgV), aber dies gilt nicht für das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb unter Verzicht auf eine Bekanntmachung. Vor allem der Ausnahmetatbestand des § 14 Abs. 4 Nr. 2 lit. b) GWB ist nur in sehr engen Ausnahmefällen gegeben.

Die Gründe, die der Auftraggeber, das JobCenter X, angeführt hat, um zu begründen, wieso es keinen überörtlichen Wettbewerb gibt und nur das ortsansässige SprInt-Netzwerk X die Leistung erbringen kann, klingen nicht besonders überzeugend. Die Prüfung, wer als Auftragnehmer für die Erbringung der Leistung in Frage kommt, kann nicht an der eigenen Stadtgrenze enden. So bleibt der Eindruck, dass der Auftraggeber schlichtweg das ortsansässige Netzwerk beauftragen wollte und hierfür nach einer Begründung gesucht hat. Wenn der Vertrag, der laut den Beschlussgründen nur für ein Jahr abgeschlossen worden ist, endet, sollte der Auftraggeber sich daher gut überlegen, ob er erneut den sehr riskanten – und wohl rechtswidrigen – Weg einer Direktvergabe wählt.

Die Vergabekammer betont, dass das Nachprüfungsverfahren nur dem Schutz individueller Bieterrechte dient. Das ist richtig und insoweit ist die Entscheidung konsequent. (Nur) aus diesem Grund ist der Auftraggeber mit seiner offenbar rechtswidrigen de-facto-Vergabe auch noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Er kann froh sein, dass der Nachprüfungsantrag nicht von einem anderen größeren SprInt-Netzwerk, z.B. aus dem Nachbarort, oder von einem anderen bundesweit tätigen größeren Anbieter anhängig gemacht worden ist. Denn in dem Fall – dies darf man wohl annehmen – wäre ihm die Direktvergabe wohl um die Ohren geflogen. Er kann sich auch glücklich schätzen, auf eine sehr nachsichtige Vergabekammer gestoßen zu sein, die ihm die Gesamtauftragsvergabe ohne ein kritisches Wort hat durchgehen lassen. Auch hier wäre im Interesse des Wettbewerbs eine kritischere Sichtweise der Vergabekammer wünschenswert gewesen.

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Über Henning Feldmann [1]

Henning Feldmann ist Fachanwalt für Vergaberecht und Rechtsanwalt bei ESCH BAHNER LISCH Rechtsanwälte [2], Köln. Er berät öffentliche Auftraggeber und Bieter bundesweit bei allen Fragestellungen rund um das Vergaberecht und der angrenzenden Rechtsgebiete. Sein Schwerpunkt liegt im öffentlichen Gesundheitssektor, dem Bereich der Gesundheitsdienstleistungen und der Beschaffung von Medizinprodukten und Arzneimitteln. Henning Feldmann ist Mitautor des BeckOK Vergaberecht und Autor diverser Fachveröffentlichungen.

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