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Das BGH-Urteil X ZR 86/17 vom 18.06.2019 (Straßenbauarbeit) in der Bewertung – Ein Interview mit Prof. Dr. Matthias Einmahl

Prof. Dr. Matthias Einmahl lehrt Zivilrecht, öffentliche Beschaffung/Vergaberecht und juristische Methodik an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Köln. Zudem nimmt er einen Lehrauftrag im Masterstudiengang New Public Management der FH Dortmund für das Modul öffentliche Beschaffung/Vergaberecht wahr. Außerhalb der Hochschulen lehrt er zu diesen Themen als Dozent. Für den Vergabeblog stand Herr Prof. Dr. Einmahl zu dem viel diskutierten BGH-Urteil vom 18. Juni 2019, X ZR 86/17, Straßenbauarbeiten (siehe auch [1]) zur Verfügung.

Vergabeblog: Das BGH-Urteil X ZR 86/17 vom 18.06.2019 (Straßenbauarbeit) ist vergaberechtlich nicht unumstritten. Herr Richter am Bundesgerichtshof a.D. Jochem Gröning trug hierzu auch beim letzten Deutschen Vergabetag vor. Worum ging es in dem Urteil im Wesentlichen?

Prof. Dr. Einmahl: Änderungen oder Ergänzungen der Vergabeunterlagen durch den Bieter sind unzulässig und führen zum Ausschluss seines Angebots. Bis zum BGH-Urteil betrachtete man den Verweis eines Bieters auf die Geltung eigener Allgemeiner Geschäftsbedingungen (AGB) als eine solche unzulässige Änderung. Die Folge war der Ausschluss des Angebots. Diese Linie hat der BGH nun korrigiert. Er geht davon aus, dass in solchen Fällen ein bloßes Versehen naheliegt. Denn es ist in aller Regel nicht anzunehmen, dass sich der Bieter durch eine solche unzulässige Änderung selbst aus dem Spiel nehmen will. Das Angebot des Bieters wird sich also -ggf. nach Aufklärung durch den Auftraggeber- in der Regel dahingehend interpretieren lassen, dass eine Abänderung der Vergabeunterlagen nicht gewollt war.

Vergabeblog: Wann dürfte ein Angebot im Regelfall dann nur noch auszuschließen sein?

Prof. Dr. Einmahl: Entscheidend ist, wie das Angebot des Bieters im konkreten Einzelfall zu interpretieren ist. Es muss naheliegend sein, dass das Angebot keine Änderung enthalten sollte. Ein guter Anhaltspunkt hierfür ist, wenn die Änderung in einem Muster oder einem Vordruck zu finden ist. Dann spricht viel dafür, dass sich der Bieter seine übliche Vorlage benutzt hat und ihm nicht bewusst war, dass er sich damit in Widerspruch zu den Vergabeunterlagen setzt. Wenn allerdings erkennbar ist, dass sich der Bieter konkret mit bestimmten Vorgaben inhaltlich auseinandergesetzt hat und diese ablehnt, dann muss das Angebot weiterhin ausgeschlossen werden. Ein Beispiel hierfür ist der vom OLG Düsseldorf mit Beschluss vom 12.02.2020, Verg 24/19, entschiedene Fall: Hier hatte ein Bieter seinen Änderungswunsch im Verhandlungsverfahren wiederholt geäußert und auch im finalen Angebot zum Teil aufrechterhalten. In einem solchen Fall darf auch nicht aufgeklärt werden. Die Aufklärung soll es dem Bieter nicht ermöglichen, noch sein Angebot zu ändern. Es gilt das Nachverhandlungsverbot. Nur bei echten Zweifeln darf um Aufklärung gebeten werden.

Vergabeblog: Mit welchen Konsequenzen müssen sich Auftraggeber auseinandersetzen, sollten Bieter sich erfolgreich auf das BGH-Urteil berufen können?

Prof. Dr. Einmahl: Künftig dürfen Auftraggeber das betroffene Angebot in solchen Fällen nicht mehr ausschließen. Sie riskieren sonst, vom ausgeschlossenen Bieter auf Schadensersatz verklagt zu werden – wie im vom BGH entschiedenen Fall. Allerdings müssen Auftraggeber genau prüfen, ob wirklich ein Versehen des betroffenen Bieters anzunehmen ist. Lässt ein Auftraggeber eine echte nachträgliche Änderung eines Angebots unter Verstoß gegen das Nachverhandlungsverbot zu und erteilt er dann den Zuschlag auf dieses geänderte Angebot, droht ihm eine Schadenersatzklage des Bieters, der sonst das Rennen gemacht hätte. Für Auftraggeber ist die Situation also nicht einfach. Wenn die fehlerhafte Entscheidung (rechtswidriger Ausschluss oder rechtswidrige Hinnahme einer echten nachträglichen Änderung) als schwerwiegend einzustufen ist, wenn der Fall also eindeutig ist, dann droht bei geförderten Projekten zusätzlich eine Rückforderung durch den Fördermittelgeber.

Vergabeblog: Mit § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV sowie § 42 Abs. 1 S. 2 Nr.4 UVgO wird der Sachverhalt der Änderung von Vergabeunterlagen durch Bieter eigentlich klar geregelt – es hat der Ausschluss des Angebots zu folgen. Hat der BGH aus Ihrer Sicht einen sinnvollen Beitrag zur Rechtsentwicklung geleistet oder unnötige Unklarheit geschaffen?

Prof. Dr. Einmahl: Die genannten Vorschriften sind in der Tat klar. Aber klar ist auch, dass Angebote bei missverständlichem oder unklarem Inhalt interpretiert werden müssen. Maßstab ist hier, wie der Auftraggeber ein Angebot vernünftigerweise verstehen konnte (Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont, s. §§ 133, 157 BGB). Eine solche Auslegung ist sogar gegen den Wortlaut einer Erklärung möglich, wenn auf der Hand liegt, dass ein Versehen vorliegt. Insofern hat der BGH einen Grundsatz, der im gesamten Zivilrecht gilt, konsequent angewendet.

Vergabeblog: Aber noch einmal nachgefragt: Warum sollte es einen Auftraggeber eigentlich in jedem Fall interessieren, was sich der Bieter dabei gedacht hat, einfache formale Regeln im Verfahren nicht einzuhalten? Bei bestimmten Vergaben, z.B. mit wenigen Marktteilnehmern, wird es regelmäßig im eigenen Interesse des Auftraggebers liegen, Angebote aufzuklären und solange wie möglich im Verfahren zu halten. Wie sieht es aber auch, wenn beispielsweise 30 Angebote für die Unterhaltsreinigung eines Gebäudes auf dem Tisch liegen? Vergabeverfahren müssen letztlich für die Auftraggeber auch aufwandsseitig noch beherrschbar bleiben. Wie bewerten Sie dies?

Prof. Dr. Einmahl: Es liegt doch im Interesse des Auftraggebers, wenn er den Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot erteilen kann. Die strengen Formvorschriften im Vergaberecht sind kein Selbstzweck. Sie dienen dazu, Manipulationen zu vermeiden und das Vertrauen der Beteiligten und der Öffentlichkeit in die Integrität des Prozesses zu gewährleisten. Wenn wie hier keine nennenswerte Manipulationsgefahr existiert, ist eine gewisse Großzügigkeit der richtige Ansatz. Man muss sich auch in die Lage der Bieter versetzen. Wenn jeder noch so kleine Fehler zum Angebotsausschluss führt, wirkt das abschreckend. Natürlich führt eine großzügige Nachforderungspraxis auch zu einem höheren Verwaltungsaufwand. Wer diesen Aufwand vermeiden will und sich das angesichts einer zu erwartenden Angebotsflut auch leisten kann, hat immer die Möglichkeit, die Nachforderung von Unterlagen auszuschließen (siehe z.B. § 56 Abs. 2 S. 2 VgV). Er muss sich dann nur im Klaren darüber sein, das er in diesem Fall von keinem irgendetwas nachfordern darf. Er darf also keine Rosinenpickerei betreiben.

Vergabeblog: Ist nicht auch zu befürchten, dass in der Gewissheit, sich unter Bezugnahme auf das BGH-Urteil einem Ausschluss aufgrund formaler Mängel besser erwehren zu können, sich bei Bietern eine gewisse Nachlässigkeit einstellen könnte. Formale Verfahrensstrenge ist schließlich kein Selbstzweck. 

Prof. Dr. Einmahl: Dies ist in der Tat nicht auszuschließen. Man vermutet bei manchen Bietern ja auch immer wieder, dass sie bewusst bestimmte Angaben vergessen, um sich die Option offenzuhalten, das eigene Angebot wieder zurückziehen zu können. Der Auftraggeber muss hier abwägen, was ihm im Zweifel wichtiger ist: ein stringentes Verfahren oder die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines guten Angebots. Wenn er der Verfahrensstringenz Vorrang einräumen will, kann er die Nachforderung von Unterlagen ja ausschließen.

Vergabeblog: Der BGH hat in seinem Urteil einen Schadensersatzanspruch bejaht, obwohl der Bieter im Vergabeverfahren nicht gerügt hat. Der Präklusion eines solchen Anspruchs und damit dem Rechtsfrieden nach Beendigung des Vergabeverfahrens eine Absage erteilt. Ketzerisch formuliert: Bieter begeht formalen Fehler, der vermeidbar gewesen wäre, macht dann im Verfahren erstmal nichts, wartet auf den Zuschlag an einen anderen Bieter und macht dann Kasse. Ein realistisches Szenario?

Prof. Dr. Einmahl: Auch dieses Risiko ist nicht gänzlich auszuschließen, aber man sollte die Situation auch realistisch betrachten: Welcher Bieter wird zunächst bewusst passiv bleiben, um sich später einen Schadensersatzanspruch zu sichern? Wer ein Angebot abgibt, möchte in aller Regel auch den Zuschlag erhalten. Dann wird es auch sein Anliegen sein, ein Nachprüfungsverfahren anzustrengen, wenn er realistische Erfolgsaussichten sieht. Die spätere Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs kostet Zeit, bindet Ressourcen und ist mit zusätzlichen Risiken verbunden. Der Bieter muss den Nachweis führen, dass er den Zuschlag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erhalten hätte. Im Nachprüfungsverfahren sind die Erfolgshürden viel niedriger.

Meist wird es so sein, dass sich der Bieter über die Erfolgsaussichten eines Nachprüfungsverfahrens nicht im Klaren war und seine starke Rechtsposition erst später erkannt hat. Dann gewährt das Gesetz ihm eben die Möglichkeit, sein Glück durch Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs zu versuchen.

Vergabeblog: Sehr geehrter Herr Prof. Einmahl, vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Jan Buchholz vom Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW).

Anmerkung der Redaktion

Als Dozent wird Prof. Dr. Matthias Einmahl auch in der DVNW Akademie vortragen. In diesem Zusammenhang möchten wir Sie auf das Webinar der DVNW Akademie mit Prof. Einmahl aufmerksam machen: „Kompaktkurs zur aktuellen Rechtsprechung zum Vergaberecht – Ausgewählte Entscheidungen konzentriert erläutert und diskutiert“. Alle weiteren Informationen, sowie eine Anmeldemöglichkeit finden Sie hier [2].

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