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Kein Rechtsschutz vor dem Verfassungsgericht nach Zuschlagserteilung (VerfGH Berlin, Beschl. v. 26.02.2020 – VerfGH 20 A / 20)

EntscheidungEs hat erheblichen Seltenheitswert, wenn sich ein Verfassungsgericht mit vergaberechtlichen Fragestellungen auseinandersetzt. Im Anschluss an eine aktuelle Entscheidung des Kammergerichts (Urt. v. 07.01.2020, 9 U 79/19, [1]) erhielt der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Das Verfahren betraf insbesondere die Frage des hinreichendes Primärrechtsschutzes im Unterschwellenbereich im Hinblick auf das verfassungsrechtlich verbürgte Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rahmen eines Eilrechtsschutzverfahrens.

§§ 134, 135 GWB; § 134 BGB; Art. 15 Abs. 4 VvB; § 31 Abs. 1 VerfGHG; Art. 19 Abs. 4 GG

Leitsätze

  1. Der Verfassungsgerichtshof kann im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist.
  2. An den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist wegen der meist weitreichenden Folgen, die ein verfassungsgerichtliches Verfahren auslösen kann, bei der Prüfung der Voraussetzungen ein strenger Maßstab anzulegen.
  3. Allein der Umstand, dass einem Bieter der Primärrechtsschutz in einem Vergabeverfahren gänzlich versagt und er ausschließlich auf den Sekundärrechtsschutz verwiesen wird, stellt für sich genommen und ohne das Hinzutreten weiterer Umstände noch keinen schwerwiegenden Nachteil dar, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung gebietet.

Sachverhalt

Den Ausgangspunkt bildete die Entscheidung des Kammergerichts (Urteil vom 07.01.2020, 9 U 79/19, siehe auch [1]).

Die Entscheidung des Kammergerichts in aller Kürze: Der Bieter eines nach dem 1. Abschnitt der VOB/A durchgeführten Vergabeverfahrens mit dem wirtschaftlichsten Angebot erfuhr nach Zuschlagserteilung von ihrem Verfahrensausschluss. Mit der Rüge eines Vergaberechtsverstoßes ersuchte er Eilrechtsschutz vor den Zivilgerichten. Da der Zuschlag bereits erteilt war, versuchte der Bieter hierbei, dem Auftraggeber die weitere Ausführung des Auftrages untersagen zu lassen, da dieser – infolge der unterlassenen Vorabinformation – nichtig und damit unwirksam sei. Das Kammergericht bestätigte – entgegen der Ansicht des OLG Düsseldorf (Beschl. v. 13.12.2017 – 27 U 25/17, s. auch Vergabeblog.de vom 01/02/2018, Nr. 35321 [2]) – in zweiter Instanz, dass für Auftraggeber mit Gerichtsstand in Berlin vor Zuschlagserteilung im Unterschwellenbereich grundsätzlich keine Informations- und Wartepflicht besteht. Selbst wenn eine solche Pflicht bestünde, würde ein Verstoß des Auftraggebers gegen diese Pflicht nicht zur Nichtigkeit des abgeschlossenen Vertrages führen können. Der abgeschlossene Vertrag da somit mit erteilten Zuschlag rechtswirksam. Dem ausgeschlossenen Bieter stand somit kein Anspruch und auch keine Möglichkeit mehr zu, den bereits vergebenden Auftrag noch zu erhalten, so dass das Kammergericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abwies. Auf die Frage, ob die Zuschlagserteilung vergaberechtswidrig erfolgt war oder nicht, kam es hiernach nicht mehr an.

Gegen diese Entscheidung des Kammergerichts wandte sich der Bieter an den Verfassungsgerichtshof Berlin. Er begehrte, dem Auftraggeber die weitere Auftragsausführung bis zur Entscheidung in der Hauptsache über eine noch einzulegende Verfassungsbeschwerde einstweilen zu untersagen. Zur Begründung führte der Bieter primär an, dass das Urteil sein Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletze. Das Kammergericht habe die grundrechtliche Dimension des verfassungsrechtlich gebotenen Primärrechtsschutzes im Unterschwellenbereich verkannt, indem es die Annahme einer Informations- und Wartepflicht vor Zuschlagserteilung und einer bei Verstoß bestehenden Sanktion abgelehnt habe. Daher sei der Antrag bereits offensichtlich begründet. Jedenfalls würden aber die drohenden schwerwiegenden Nachteile den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigen. Ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung würde dem Bieter der Primärrechtsschutz in rechtsstaatlich unerträglicher Weise gänzlich versagt werden. Es verbliebe ihm zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vergabeentscheidung nur der zumeist aussichtslose und mit hohen Prozesskosten verbundene Sekundärrechtsweg, gerichtet auf Schadensersatz infolge der nicht erfolgten Zuschlagserteilung. Ferner habe der Bieter berechtigte Erwartungen in eine erneute Beauftragung gesetzt, insbesondere weil er im Vergabeverfahren das wirtschaftlichste Angebot abgegeben habe. Bei Erlass der einstweiligen Anordnung entstünden auch bei späterer Unbegründetheit einer Verfassungsbeschwerde keine Nachteile von vergleichbarem Gewicht, denn hierdurch würde es lediglich zu einer zeitlichen Verzögerung der Auftragsausführung kommen.

Die Entscheidung des VerfGH

Der Verfassungsgerichtshof lehnte den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung mangels hinreichender Darlegungen des Bieters zu den ihr drohenden schweren Nachteilen ab.

Der alleinige Umstand, dass im Hinblick auf die Vergabeentscheidung kein Primärrechtsschutz mehr gegeben sei, stelle für sich genommen und ohne das Hinzutreten weiterer Umstände noch keinen schwerwiegenden Nachteil dar, der den Erlass einer einstweiligen Anordnung gebieten würde. Dass der verbleibende auf Schadensersatz gerichtete Sekundärrechtsschutz nicht hinreichend effektiv wäre, habe der Bieter nicht dargelegt. Die von dem Bieter geltend gemachten erheblich nachteiligen wirtschaftlichen Konsequenzen erachtete der Verfassungsgerichtshof als unsubstantiiert. Allein die enttäuschte Erwartung einer erneuten Beauftragung als bisheriger „Bestandauftragnehmer“ würde nicht ausreichen. Es hätte der Darlegung eines nicht kompensierbaren Verlustes infolge der anderweitigen Vergabe beduft. Zudem wäre eine weitreichende Auseinandersetzung mit den Nachteilen für die am Vergabeverfahren Beteiligten – den Auftraggeber und durch den Zuschlag begünstigten Bieter – notwendig gewesen.

Rechtliche Würdigung

Um die Entscheidung nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst einer näheren Betrachtung des Prüfungsmaßstabs, anhand dessen der Verfassungsgerichtshof entschieden hat.

1. Folgenabwägung als Entscheidungsmaßstab (sog. Abwägungsmodell)

Maßstab für den Erlass einer verfassungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung bildet in Berlin § 31 Abs. 1 VerfGHG, der in seinem Inhalt § 32 Abs. 1 BVerfGG auf Bundesebene entspricht. Der Verfassungsgerichtshof kann hiernach im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist, wobei – im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts –  wegen etwaiger weitreichender Folgen einer verfassungsgerichtlichen einstweilige Anordnung, ein strenger Maßstab anzulegen ist.

In diesem Eilrechtsschutzverfahren ist die Besonderheit zu beachten, dass die Entscheidung nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung primär anhand einer reinen Folgenabwägung getroffen wird. Das heißt, die Erfolgsaussichten in der Hauptsache – also die mögliche Verfassungswidrigkeit eines hoheitlichen Aktes – bleiben damit grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, der Antrag erweist sich bereits als offensichtlich unzulässig oder unbegründet. Im Rahmen der Abwägung werden die Folgen, die entstehen würden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, eine (noch zu erhebende) Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber denjenigen Folgen abgewogen, die bei Erlass einer einstweiligen Anordnung drohen, wenn eine Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache erfolglos bliebe. Zu berücksichtigen sind hierbei insbesondere die zu erwartenden tatsächlichen Folgen und zwar für sämtliche Betroffene sowie die mögliche Irreparabilität einer Grundrechtsverletzung. Letztlich müssen als Ergebnis dieser Abwägung für den Erfolg des Antrags die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung in einem deutlichen Maß überwiegen.

2. Substantiierungslast zur Ermöglichung der Folgenabwägung

Der Verfassungsgerichtshof hat im vorliegenden Fall noch einmal hervorgehoben, dass bereits für die Zulässigkeit des Antrags strenge Anforderungen bezüglich der Darlegung und Substantiierung der zu erwartenden nachteiligen Folgen zu stellen sind. Ein Antragsteller muss insbesondere die Umstände vortragen und – soweit möglich – auch glaubhaft machen, aus denen sich ergibt, dass die soeben beschriebene Folgenabwägung zu seinen Gunsten ausgehen könnte.

Der Bieter hat im konkreten Fall nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs schon für die erste Stufe der Abwägung keine hinreichend schwerwiegenden Nachteile darlegt, die ihm bei Nichterlass der begehrten einstweiligen Anordnung drohen würden.

Die von dem Bieter als zentrale Gründe angeführte gänzliche Versagung des Primärrechtsschutzes sowie die Verweisung auf den Sekundärrechtsweg ließ der Verfassungsgerichtshof für sich genommen nicht ausreichen. Obgleich der Bieter auf die faktischen Nachteile einer bloß nachträglichen Kompensationsmöglichkeit für Vergabeverstöße im Rahmen einer Schadensersatzklage in ihrem Antrag hingewiesen („zumeist aussichtlos“ und „hohe Prozesskosten“) und die bloße Gewährung des Sekundärrechtsschutzes im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes grundlegend angezweifelt hatte.

Hinsichtlich der zusätzlich von dem Bieter geltend gemachten wirtschaftlichen Nachteile bemängelte der Verfassungsgerichtshof, dass es einer näheren Darstellung seines finanziellen Verlustes durch die Auftragsvergabe an einen anderen Bieter bedurft hätte, der auch nicht durch die Ausführung anderer Aufträge hätte kompensiert werden können.

Allerdings hätte wohl auch eine nähere Darlegung in dieser Form letztlich nicht als schwerwiegender Nachteil ausgereicht. Denn rein wirtschaftliche Nachteile, insbesondere bloße Umsatzchancen, fallen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung regelmäßig nicht hinreichend ins Gewicht. Etwas anderes kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allenfalls dann gelten, wenn sich die zu erwartenden Nachteile im Einzelfall als existenzgefährdend erweisen.

 

Da bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags ein dreipoliges Verhältnis zwischen dem Auftraggeber, dem obsiegenden und dem unterliegenden Bieter besteht, weist der Verfassungsgerichtshof zurecht darauf hin, dass die Darlegung sämtlicher Folgen für alle Beteiligten notwendig ist. Der Bieter hätte also auch die drohenden Nachteile für das den Auftrag ausführende Unternehmen darlegen müssen, damit diese in die Abwägung hätten einfließen können. Der bloße Verweis auf die zeitliche Verzögerung der Auftragsausführung bei Erlass einer einstweiligen Anordnung genügte dem nicht.

Fazit und Praxishinweis

Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin verdeutlicht, dass der verfassungsgerichtliche Eilrechtsschutz einen außerordentlichen Rechtsbehelf darstellt, der überhaupt nur in Fällen der möglichen Verletzung von Grundrechten in Betracht kommt. Zwar ist die Beantragung einer (isolierten) einstweiligen Anordnung grundsätzlich auch im Zusammenhang mit einem Vergabeverfahren möglich. Es sind jedoch – die oben dargestellten – hohen Hürden an die Substantiierung des Antrags zu beachten. Diese dürften regelmäßig für die am Vergabeverfahren teilnehmenden Unternehmen nur schwerlich zu überwinden sein, sofern nicht bei Nichterlass der begehrten Anordnung die wirtschaftliche Existenzgefährdung droht. Im Ergebnis bleibt es damit auch im Bereich des Vergaberechts bei dem allgemeinen Grundsatz, dass das Verfassungsgericht keine „Superrevisionsinstanz“ darstellt, die zur Überprüfung von einfachen Vergabeverstößen herangezogen werden könnte.

Abschließend ist anzumerken, dass der Verfassungsgerichtshof wegen der Besonderheiten des Entscheidungsmaßstabs im Eilverfahren sich nicht mit der von dem Bieter aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage auseinanderzusetzen hatte, ob die Gewährung des Primärrechtsschutzes im Unterwellenbereich im Wege des einstweiligen Verfügungsverfahrens vor den Zivilgerichten gem. §§ 935, 940 ZPO ohne die Anerkennung einer (ungeschriebenen) Informations- und Wartepflicht vor Zuschlagserteilung mit dem Grundrecht des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 15 Abs. 4 VvB – der seinem Inhalt nach Art. 19 Abs. 4 GG entspricht – vereinbar ist.

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 13.06.2006 – 1 BvR 1160/03) die unterschiedliche Ausgestaltung des Rechtsschutzes im Ober- und Unterschwellenbereich durch den Gesetzgeber in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2006 grundlegend gebilligt. Seinerzeit bildete allerdings der „schwächere“ allgemeine Justizgewährungsanspruch und nicht das Grundrecht des effektiven Rechtsschutzes den Prüfungsmaßstab, sodass eine abweichende Bewertung durch den Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin – zumindest im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens – durchaus denkbar wäre.

Kontribution
Der Beitrag wurde gemeinsam mit Herrn Dr. Vogt verfasst.

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Über Dr. Victor Vogt [3]

Dr. Victor Vogt ist derzeit als Rechtsreferendar bei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB [4] in Berlin im Rahmen seiner Anwaltsstation tätig. Zuvor absolvierte er seine Verwaltungsstation im Bundesministerium des Innern, Heimat und Bau im Referat DGI6 (Öffentliches Auftragswesen; Digitalisierung öffentlicher Einkauf). Ferner hat er im Vergaberecht zum Thema „E-Vergabe: Systematische Darstellung der Vorschriften des Vergaberechts im Lichte der Europäischen Richtlinien“ promoviert.

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Über Dr. Oskar Maria Geitel [6]

Dr. Oskar Maria Geitel ist Fachanwalt für Vergaberecht und Rechtanwalt bei Kapellmann und Partner Rechtsanwälte mbB [4] in Berlin. Er berät öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Konzeption und Gestaltung sowie der anschließenden Durchführung von Vergabeverfahren. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Tätigkeit stellt die rechtliche Begleitung von Bauvorhaben bezüglich aller Fragen des Baurechts dar, welche sich unmittelbar an die Begleitung des Vergabeverfahrens anschließt. Herr Geitel ist Kommentarautor, Lehrbeauftragter für Vergaberecht und Dozent bei diversen Bildungseinrichtungen.

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