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Deutliche Absage an einen Instanzenklau durch verkürzte Nachprüfungsverfahren! (KG Berlin, Beschl. v. 10.02.2020 – Verg 6/19)

EntscheidungWenn es nicht mit hoher Sicherheit feststeht, dass ein bei der Vergabekammer eingereichter Nachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig oder (offensichtlich) unbegründet ist, gebieten es die rechtsstaatlichen Grundsätze in Gestalt der Verfahrensbestimmungen über das Nachprüfungsverfahren im 4. Teils des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), dass die Vergabekammer (a) den Nachprüfungsantrag dem öffentlichen Auftraggeber in Textform übermittelt, (b) die Vergabeakte von dem Auftraggeber anfordert und zur Kenntnis nimmt, (c) dem antragstellenden Unternehmen Akteneinsicht gewährt, (d) den zuschlagsfavorisierten Bieter beilädt sowie schließlich (e) eine mündliche Verhandlung durchführt.

Art. 103 Abs. 1 GG, §§ 162, 163 Abs. 1 u. 2, 165 Abs. 1 u. 2, 166 Abs. 1 u. 2., 168 Abs. 2 GWB

Leitsatz

Zur Zurückverweisung eines Vergabenachprüfungsverfahrens an die Vergabekammer durch den Vergabesenat sowie zu grundlegenden prozessualen Erfordernissen in Vergabeprüfungsverfahren.

Sachverhalt

Nach erfolgloser Rüge der beabsichtigten Zuschlagserteilung durch den Auftraggeber reichte der Antragsteller (ASt) einen Nachprüfungsantrag bei der zuständigen Vergabekammer (VK) ein. Diese hielt den Nachprüfungsantrag für offensichtlich unzulässig und unbegründet und leitete ihn daher nicht an den Auftraggeber weiter, so dass dieser unmittelbar nach Ablauf der Wartefrist den Zuschlag erteilte, obgleich der antragstellende Bieter den Antrag dem Auftraggeber zuvor auch direkt übermittelt hatte. Der ASt legte gegen den nach der Zuschlagserteilung ihm bekannt gewordenen Beschluss der Vergabekammer sofortige Beschwerde ein.

Die Entscheidung

Mit Erfolg! Der Vergabesenat des Kammergerichts entschied, dass das von der Vergabekammer durchgeführte Verfahren an vielzähligen schwerwiegenden Mängeln leidet, die es unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten allenfalls als Rumpfverfahren erscheinen lassen. Insbesondere habe es die Vergabekammer rechtswidrig unterlassen, der Antragstellerin Akteneinsicht zu gewähren, die akteneinsichtsversagende Entscheidung zu begründen, den zuschlagsfavorisierten Bieter beizuladen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, den Nachprüfungsantrag dem Antragsgegner in Schriftform zu übermitteln und die Vergabeakte beizuziehen sowie zur Kenntnis zu nehmen.

Im Einzelnen stellt der Vergabesenat u.a. Folgendes fest:

– zur Verweigerung der Akteneinsicht:

Die Vergabekammer hat der Antragstellerin die Wahrnehmung ihres Rechtes aus § 165 Abs. 1 GWB auf Einsichtnahme in die Akten der Vergabestelle rechtsgrundlos verweigert und ihr damit zudem den verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG abgeschnitten. Denn gemäß § 165 Abs. 1 GWB steht den Verfahrensbeteiligten ein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht zu, das nur dann eine Einschränkung erfährt, wenn wichtige Gründe, insbesondere des Geheimschutzes oder zur Wahrung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen“ die Einsichtsversagung gebieten. Sinn der Akteneinsicht ist es gerade, dem Akteneinsichtsberechtigten die Möglichkeit zu geben, Vergaberechtsverstöße aufzudecken, die ihm ansonsten, mangels Aktenkenntnis häufig unbekannt sind. Gerade durch die Verweigerung der Akteneinsicht ist die Antragstellerin geradezu gezwungen, sich teilweise auf Mutmaßungen zu beschränken. Je weniger Informationen über Inhalt und Ablauf des Vergabeverfahrens einem Antragsteller von der Vergabestelle oder der Vergabenachprüfungsinstanz zugänglich gemacht werden, desto geringer müssen naturgemäß die Anforderungen an die Substantiierung des Vortrages dieses Antragstellers im Nachprüfungsverfahren sein.

– zur unterlassenen Beiladung des für den Zuschlag vorgesehenen Bieters:

§ 162 Satz 1 GWB gebietet eine Beiladung immer schon dann, wenn die Entscheidung über den Nachprüfungsantrag nachteilige Auswirkungen auf die Zuschlagschancen des Beizuladenden haben kann. Vor rechtskräftigem Abschluss des Nachprüfungsverfahrens kann naturgemäß nicht abschließend ermessen werden, wie die Entscheidung letztlich ausfallen wird und ob und welche Auswirkungen sie auf Dritte haben wird. Folglich sind aus elementar rechtsstaatlichen Grundsätzen Dritte immer dann am Verfahren – durch Beiladung – zu beteiligen, wenn die nicht entfernte Möglichkeit besteht, dass eine Entscheidung zu Lasten des Dritten ergeht. Dabei ist von der Vergabekammer wiederum im Blick zu behalten, dass sie – anders als der Vergabesenat – nicht am Ende des Instanzenzuges steht und daher zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung über die Beiladung mit noch viel geringerer Gewissheit darüber zu befinden vermag, wie die Entscheidung über den Nachprüfungsantrag letztlich ausfallen wird. Daher ist es der Vergabekammer nur dann in zulässiger Weise ausnahmsweise möglich, die Beiladung zu unterlassen, wenn sie bereits zu Beginn des Verfahrens mit gesteigerter Sicherheit davon ausgehen darf, dass der Nachprüfungsantrag keinen ErfoIg haben wird.

– zur Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung durch die Vergabekammer:

Die Nichtdurchführung der mündlichen Verhandlung ist gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 und 3 GWB nur bei Unzulässigkeit oder offensichtlicher Unbegründetheit des Nachprüfungsantrages rechtmäßig. Vor dem Hintergrund, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung bei Unzulässigkeit des Vergabenachprüfungsantrages gemäß § 166 Abs. 1 Satz 3 GWB nur unterblieben kann, nicht aber muss, steht es auch bei anzunehmender Unzulässigkeit des Nachprüfungsantrages im Ermessen der Vergabekammer, gleichwohl eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Dieses Ermessen ist seitens der Vergabekammer auszuüben. Es ist jedenfalls kein allzu leichtfertiger Gebrauch von der Möglichkeit zu machen, keine mündliche Verhandlung durchzuführen.

– zur Wirksamkeit des Zuschlags:

Die Frage, ob der Zuschlag rechtswirksam ist, erscheint dem Senat trotz der Regelung in § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB derzeit offen zu sein. Für die Annahme der Unwirksamkeit dürften eine Vielzahl von Gründen sprechen. Der Senat neigt nach dem derzeitigen Stand der Diskussion dazu, insbesondere dem Argument aus Treu und Glauben Bedeutung beizumessen.

Rechtliche Würdigung

Der Vergabesenat des Kammergerichts bleibt seiner Linie treu. Er hält nichts von rechtsstaatlich abgekürzten Verfahren der Vergabekammer, welche darauf beruhen, dass ein bei der Vergabekammer eingegangener Nachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig oder (offensichtlich) unbegründet ist. Denn nur wenn dies eindeutig! der Fall ist, kann

– auf die Gewährung von Akteneinsicht ausnahmsweise verzichtet werden,

– die Beiladung des für den Zuschlag in Betracht kommenden Bieters unterbleiben,

– auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwecks Erörterung der Sach- und Rechtslage verzichtet werden,

– die Übermittelung des Nachprüfungsantrags an den öffentlichen Auftraggeber (zur Verhinderung des Zuschlags) sowie

– die Beiziehung der Vergabeakte unterbleiben.

Der Vergabesenat stellt in dem hier zugrundeliegenden Beschluss deutlich heraus, dass – seiner Auffassung nach – ein rechtstaatlichen Gesichtspunkten genügendes Nachprüfungsverfahren in aller Regel zwingend voraussetzt, dass dem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art 103 Abs. 1 GG mittels Akteneinsicht genüge getan wird und deswegen die Vergabeakte vom Auftraggeber beizuziehen ist. Unterlässt dies die Vergabekammer wird – sprichwörtlich – die Luft für die Vergabekammer für eine rechtskonforme Entscheidung dünn. Dies liegt in erster Linie daran, dass der Vergabesenat es im Grundsatz für jedenfalls sehr unwahrscheinlich erachtet, dass ohne eine eingehende Prüfung des Vergabeverfahrens anhand der Vergabeakte von der Vergabekammer überhaupt hinreichend sicher beurteilt werden kann, ob der Nachprüfungsantrag offensichtlich unzulässig oder (offensichtlich) unbegründet ist. Deshalb kann nur ausnahmsweise von einer Übermittlung des Nachprüfungsantrags an den Auftraggeber abgesehen werden. Anderenfalls hätte es die Vergabekammer in der Hand, den Primärrechtsschutz eines Antragstellers von den gesetzlich vorgesehenen zwei Rechtszügen auf einen Rechtszug zu verkürzen und sich gleichsam selbst“ Rechtskraft zu verschaffen (wie es der Vergabesenat in seinem Beschluss ausdrückt).

Ist dieses Verständnis des Vergabesenats zutreffend?

Darüber lässt sich im Detail trefflich streiten. Insbesondere der sehr umfassend interpretierte Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und der damit einhergehende Anspruch auf Akteneinsicht ist durchaus diskussionswürdig, wenngleich verfassungsrechtlich nachvollziehbar.

Unabhängig davon ist dem Vergabesenat in einem Punkt zu widersprechen:

Gemäß § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB kann ein wirksam erteilter Zuschlag nicht aufgehoben werden. Ein wirksamer Zuschlag liegt dann nicht vor, wenn einer der in § 135 Abs. 1 GWB genannten Fälle vorliegt und dies in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt worden ist. Nach § 135 Abs. 1 GWB ist ein öffentlicher Auftrag von Anfang an unwirksam, wenn der öffentliche Auftraggeber gegen § 134 verstoßen hat oder den Auftrag ohne vorherige Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union vergeben hat, ohne dass dies aufgrund Gesetzes gestattet ist. Im Ergebnis trifft § 168 Abs. 2 Satz 1 GWB eine Aussage damit nur für den endgültig wirksam erteilten Zuschlag (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.12.2019 – Verg 53/18). Der Vergabesenat gibt zu bedenken, ob über die Unwirksamkeitsgründe des § 135 GWB hinaus eine Unwirksamkeit des Zuschlags aus dem Argument aus Treu und Glauben resultieren kann. Auf den ersten Blick erscheint diese Sichtweise nicht fernliegend, wird durch das Vergabeverfahren doch zwischen Auftraggeber und Bieter ein vorvertragliches Vertrauensverhältnis mit entsprechenden Pflichten begründet (OLG Stuttgart, Urt. v. 09.02.2010 – 10 U 76/09). Die Auffassung des Senats verträgt sich mit der vorgenannten Regelung des Gesetzes aber wohl nicht. Dem Auftraggeber kann vorliegend zudem nicht vorgeworfen werden, eine schnelle Zuschlagserteilung getroffen zu haben. Es genügt gerade nicht, wenn der Bieter einen Nachprüfungsantrag dem Auftraggeber übermittelt. Solange dieser nicht seitens der Vergabekammer in Textform gemäß § 169 Abs. 1 GWB übermittelt worden ist, besteht gerade kein Zuschlagsverbot (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 11.12.2019 – Verg 53/18 m.w.N. und OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 06.03.2013 – 11 Verg 7/12 m.w.N.). Es kann dem Auftraggeber daher nicht vorgeworfen werden, unverrückbare Fakten (so der Vergabesenat) zu schaffen. Es bleibt trotzdem spannend wie die Vergabekammer unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats entscheiden wird, da der Vergabesenat in seinem Beschluss mehrere (gut nachvollziehbare) Argumente für die Unwirksamkeit angeführt hat.

Praxistipp

Für öffentliche Auftraggeber lässt sich der Entscheidung durchaus entnehmen, dass es mit dem Zuschlag nicht zwangsläufig geschafft ist, sondern die Vergabeakte und deren Dokumentation ordentlich zu Ende gebracht werden muss. Insbesondere Schadensersatzansprüche können bis zum Eintritt der Verjährung auch noch viel später geltend gemacht werden. Für Bieter gilt gleichermaßen: Aufgeben gilt nicht. Ein Nachfassen in Gestalt der Fortsetzung des Nachprüfungsverfahrens bei als unbefriedigend empfundener erstinstanzlicher Entscheidung kann sich lohnen.

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Über Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG [1]

Der Autor Peter Michael Probst, M.B.L.-HSG, ist Fachanwalt für Vergaberecht, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner der Wirtschaftskanzlei LEXTON Rechtsanwälte [2] in Berlin. Er berät seit über 20 Jahren öffentliche Auftraggeber und Bieterunternehmen umfassend bei allen vergabe-, zuwendungs-, haushalts- und preisrechtlichen Fragestellungen. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit veröffentlicht er regelmäßig Fachaufsätze und führt laufend Seminare und Workshops im Vergaberecht durch.

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