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Bloße Geldzahlung reicht nicht für vergabefreie Kooperation (EuGH, Urt. v. 04.06.2020 – C-429/19 – Remondis)

Entscheidung-EUDie vergaberechtsfreie Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern führt seit der Leitentscheidung Stadtreinigung Hamburg (EuGH, Urt. v. 9.6.2009, C-480/06) immer wieder zu Rechtsunsicherheiten. Diese Unwägbarkeiten sollten durch Art. 12 Abs. 4 RL 2014/24/EU (bzw. § 108 Abs. 6 GWB) legislativ beseitigt werden. Die Vorschriften regeln erstmals die ausschreibungsfreie horizontale Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Stellen. Dennoch sind nicht alle Streitpunkte abschließend geklärt (vgl. auch jüngst EuGH, Urt. v. 28.5.2020, C-796/18 – Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung; Urt. v. 18.6.2020 – C-328/19 – Porin kaupunki). Die europäischen Richter haben nun den wichtigen Begriff der Zusammenarbeit näher kommentiert.

§ 108 Abs. 6 Nr. 1 GWB; Art. 12 Abs. 4 Buchst. a) RL 2014/24/EU

Leitsatz

Keine vergaberechtsfreie Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern liegt vor, wenn ein öffentlicher Auftraggeber, der in seinem Gebiet für eine im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe verantwortlich ist, diese nicht vollständig selbst erledigt, sondern einen anderen, in dessen Gebiet ebenfalls aufgabenverantwortlichen öffentlichen Auftraggeber damit beauftragt, einen Teil seiner Aufgabe gegen Entgelt zu erledigen.

Sachverhalt

Nach dem rheinland-pfälzischen Landeskreislaufwirtschaftsgesetz sollen die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zur Erfüllung ihrer Aufgaben miteinander kooperieren. Der Abfallzweckverband Rhein-Mosel-Eifel ist in seinem Verbandsgebiet für die Entsorgung der Restabfälle zuständig. Diese Restabfälle werden in einer Mechanisch-Biologischen Abfallbehandlungsanlage (MBA) des Landkreises Neuwied aus gemischten Siedlungsabfällen aufbereitet. Hierfür haben der Abfallzweckverband und der Landkreis eine entsprechende Zweckvereinbarung nach dem Landesgesetz über die kommunale Zusammenarbeit geschlossen. Für die Mitbenutzung der MBA zahlt der Abfallzweckverband an den Landkreis ein Entgelt nach Abfallaufkommen im Wege der Kostenerstattung ohne Berücksichtigung von Gewinnzuschlägen für die laufenden Betriebskosten. Wird die vereinbarte Mindestabfallmenge unterschritten, muss der Zweckverband eine tonnagebezogene Ausgleichsleistung an den Landkreis zahlen. Zugleich erklärte sich der Zweckverband bereit, die aus der Behandlung in der MBA entstehenden Deponierungsreste und – soweit möglich – mineralische Abfälle des Landkreises zu übernehmen. Ferner verpflichtete sich der Zweckverband, seine anzuliefernden Abfälle bei einer durch den Landkreis verschuldeten Leistungsstörung in der MBA auf einem – vorbehaltlich einer entsprechenden Genehmigung – verbandseigenen Gelände zwischenzulagern.

Das private Abfallentsorgungsunternehmen Remondis GmbH hielt den Abschluss der Zweckvereinbarung für eine vergaberechtswidrige Direktvergabe eines öffentlichen Auftrages und beantragte die Nachprüfung. Die VK Rheinland-Pfalz wies den Nachprüfungsantrag zurück, weil eine vergabefreie Kooperation nach § 108 Abs. 6 GWB vorläge. Die Remondis GmbH legte dagegen sofortige Beschwerde beim OLG Koblenz ein, da eine Zusammenarbeit auf der Grundlage eines kooperativen Konzeptes zwischen Zweckverband und Landkreis fehle.

Das OLG Koblenz ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung. Eine Zusammenarbeit nach Art. 12 Abs. 4 Buchst. a) RL 2014/24/EU (bzw. § 108 Abs. 6 Nr. 1 GWB) sei fragwürdig, weil die Übernahme mineralischer Abfälle durch den Zweckverband rein theoretischer Natur sei und sich der Zweckverband auch nicht um die für die Zwischenlagerung nötige Genehmigung bemüht habe. Die Zweckvereinbarung erschöpfe sich daher in der MBA-Behandlung der vom Zweckverband angelieferten Abfälle gegen Entgelt, um damit die Voraussetzungen für die ihm obliegende Deponierung zu schaffen. Überdies setze eine Zusammenarbeit voraus, dass jeder Beteiligte einen Beitrag leiste, der ohne die Kooperationsabrede nicht von ihm, sondern von einem anderen Beteiligten geleistet werden müsste.

Die Entscheidung

Der Europäische Gerichtshof stellt klar, dass der Begriff Zusammenarbeit im Mittelpunkt einer vergabefreien horizontalen Kooperation steht (Rdnr. 26). Aus dem 33. Erwägungsgrund der RL 2014/24/EU ist zu folgern, dass es sich um eine echte Zusammenarbeit handeln muss, die auf einem kooperativen Konzept beruht (Rdnr. 28). Das Zusammenwirken aller Kooperationspartner ist daher unerlässlich, um die von ihnen zu erbringenden öffentlichen Dienstleistungen zu gewährleisten. Diese Voraussetzung ist deshalb nicht erfüllt, wenn sich der Beitrag eines Kooperationspartners allein auf eine Kostenerstattung beschränkt (Rdnr. 29), wie im Fall des vom Zweckverband an den Landkreis zu zahlenden Entgelts. Würde nämlich eine solche Kostenerstattung genügen, könnte nicht mehr zwischen einem (entgeltlichen) öffentlichen Auftrag einerseits und einer vergabefreien Zusammenarbeit andererseits genau unterschieden werden (Rdnr. 30). Für dieses Verständnis streitet auch, dass nach dem 31. Erwägungsgrund der RL 2014/24/EU allein der Umstand kooperierender öffentlicher Stellen nicht ausreicht, das Vergaberecht auszuschließen (Rdnr. 31).

Die von öffentlichen Einrichtungen initiierte Zusammenarbeit hat außerdem eine ihrem Wesen nach kollaborative Dimension, die bei vergabepflichtigen öffentlichen Aufträgen gerade fehlt (Rdnr. 32). Eine echte, kooperative Zusammenarbeit setzt somit voraus, dass die öffentlichen Stellen, gemeinsam ihren Bedarf und die Lösungen dafür definieren (Rdnr. 33). Eine Zusammenarbeit beruht mithin auf einer gemeinsamen Strategie der Kooperationspartner und bedingt, dass die öffentlichen Auftraggeber ihre Anstrengungen zur Erbringung von öffentlichen Dienstleistungen bündeln (Rdnr. 34).

Im vorliegenden Fall begründet die Übernahme von mineralischen Abfällen des Landkreises durch den Zweckverband keine Zusammenarbeit, weil der Zweckverband die Zweckvereinbarung insoweit vor der VK Rheinland-Pfalz ausdrücklich für gegenstandslos erklärt hat (Rdnr. 35). Ebenso wie die Rücknahme der in der MBA entstehenden Deponierungsreste kann auch die Kostenerstattung ohne Gewinnzuschläge durch den Zweckverband keine echte Zusammenarbeit begründen (Rdnr. 37). Das vorlegende OLG Koblenz hat deshalb nochmals zu prüfen, ob die abgeschlossene Zweckvereinbarung das Ergebnis einer Initiative des Zweckverbandes und des Landkreises zur Zusammenarbeit ist (Rdnr. 36).

Rechtliche Würdigung

Die Luxemburger Richter versuchen, den zentralen Begriff der Zusammenarbeit in Art. 12 Abs. 4 Buchst. a) RL 2014/24/EU (bzw. § 108 Abs. 6 Nr. 1 GWB) näher auszufüllen. Den Urteilsgründen ist dabei zwar das Bemühen um Begriffsschärfung anzumerken. Allerdings helfen in diesem Zusammenhang alte oder neue Begriffsdeutungen, wie etwa „echte Zusammenarbeit“, „kollaborative Dimension“, „kooperatives Konzept“, „gemeinsame Strategie“ oder „Initiative zur Zusammenarbeit“ in der Beschaffungspraxis häufig kaum konkret weiter, um möglichst rechtssichere Vergabeentscheidungen treffen zu können. Deshalb wird mit weiteren juristischen Auseinandersetzungen zu rechnen sein, welche genauen Anforderungen eine vergabefreie Kooperation erfüllen muss. Dennoch scheinen drei Gesichtspunkte weitgehend geklärt zu sein. Erstens: Eine ausschreibungsfreie Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern verlangt mehr als nur den finanziellen Transfer eines Kooperationspartners. Damit hat der EuGH der in der Fachliteratur teilweise vertretenen Ansicht eine klare Absage erteilt, wonach allein die Leistung eines finanziellen, auf die Kostenerstattung beschränkten Beitrags ausreiche. Zweitens: Eine Zusammenarbeit verlangt eine leistungsbasierte Kooperation quasi auf Augenhöhe. Dafür wird es zwar nicht nötig sein, dass alle Kooperationspartner wesentliche Vertragspflichten übernehmen, denn die zu erbringenden Dienstleistungen dürfen sich auch ergänzen. In der Kooperation muss sich aber der Wille und die Initiative manifestieren, dass die Vertragspartner ihren Leistungsbedarf gemeinsam bündeln und auch gemeinsam auf Leistungsebene erfüllen. Die Zusammenarbeit kann alle Arten von Tätigkeiten umfassen, sofern die Tätigkeit zur wirksamen Erfüllung der öffentlichen Aufgabe beiträgt (vgl. EuGH, Urt. v. 28.5.2020 C-796/18 Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, Rdnrn. 59 f.). Drittens: Landesrechtliche Regelungen zur kommunalen Zusammenarbeit und Abfallkooperation begründen allein keine vergabefreie Zusammenarbeit.

Praxistipp

Die Anwendung regelmäßig eng auszulegender Vergabeausnahmen erfordert fast immer eine Einzelfallprüfung. Schablonenhafte Entscheidungen sind insoweit meistens fehleranfällig. Dies gilt erst recht für die Beurteilung der einzelnen Voraussetzungen nach § 108 Abs. 6 GWB. Insbesondere die Feststellung einer echten Zusammenarbeit nach Nr. 1 im Sinne eines kooperativen Konzeptes auf Grundlage einer gemeinsamen Strategie der von den öffentlichen Partnern initiierten Vertragskooperation macht eine Würdigung aller Einzelfallumstände in der Beschaffungspraxis weiterhin unumgänglich. Dies gilt vor allem für kollaborative Sachverhalte, bei denen einzelne Kooperationspartner hauptsächlich leisten und andere öffentliche Auftraggeber wenig leisten und mehr zahlen.

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Über Holger Schröder [1]

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner [2] in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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