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Corona-Pandemie: Konjunkturpolitik und öffentliche Beschaffung – Dr. Philipp Steinberg im Interview zu den Erleichterungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge des Bundes

Ministerialdirektor Dr. Philipp Steinberg ist Leiter der Abteilung Wirtschaftspolitik im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Als Abteilungsleiter verantwortet Dr. Steinberg auch die Unterabteilung „Wettbewerbs- und Strukturpolitik – I B“. Für den Vergabeblog stand Herr Dr. Steinberg für ein Interview zu den jüngsten Maßnahmen der Bunderegierung zur Erleichterung der Vergabe öffentlicher Aufträge durch die Bundesverwaltung zur Verfügung. Diese sind Teil des Konjunkturpakets zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie.

Vergabeblog: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie sind enorm. Im Rahmen des von der Bundesregierung beschlossenen Konjunkturpakets kommt den öffentlichen Investitionen eine große Bedeutung zu. Am 08.07.2020 wurden nun verbindliche Handlungsleitlinien für die Bundesverwaltung für die Vergabe öffentlicher Aufträge erlassen. Was sind die zentralen Botschaften der Handlungsleitlinien? Worauf kommt es jetzt besonders an?

Dr. Philipp Steinberg: Das Bundeskabinett hat am 8. Juli 2020 auf Vorschlag von Bundesminister Altmaier „Verbindliche Handlungsleitlinien für die Bundesverwaltung für die Vergabe öffentlicher Aufträge zur Beschleunigung investiver Maßnahmen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie“ beschlossen. Diese Leitlinien müssen sich jetzt schnell in der Praxis der Bundesverwaltung niederschlagen. Besonders wichtig ist die Erhöhung der Wertgrenzen, um öffentliche Investitionsfördermaßnahmen rasch in konkrete Investitionsprojekte umzusetzen. So werden befristet bis einschließlich Dezember 2021 folgende Wertgrenzen für öffentliche Aufträge unterhalb der EU-Schwellenwerte angehoben:

Für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen im Wege einer Beschränkten Ausschreibung oder einer Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb wird eine Wertgrenze von 100.000 Euro ohne Umsatzsteuer eingeführt. Für die Vergabe von Bauleistungen im Wege der Beschränkten Ausschreibung setzen wir eine Wertgrenze von 1.000.000 Euro ohne Umsatzsteuer und für Freihändige Vergabe von 100.000 Euro ohne Umsatzsteuer fest. Bis zu diesen Wertgrenzen können die öffentlichen Auftraggeber des Bundes ohne weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen wahlweise Beschränkte Ausschreibungen, Verhandlungsvergaben oder Freihändige Vergaben durchführen. Zur Gewährleistung von Wettbewerb und Transparenz gelten zusätzliche Veröffentlichungspflichten. Direktaufträge von Liefer- und Dienstleistungen können für bis zu 3.000 Euro ohne Umsatzsteuer (statt bisher 1.000 Euro) getätigt werden, Direktaufträge von Bauleistungen für bis zu 5.000 Euro ohne Umsatzsteuer (statt bisher 3.000 Euro).

Damit hat das Bundeskabinett sehr konkrete Erleichterungen geschaffen.

Vergabeblog: In der Pressemitteilung des BMWi zu den Handlungsleitlinien wird angekündigt, dass die deutsche Ratspräsidentschaft dafür genutzt werden soll, für eine „Optimierung“ des EU-Vergaberechts zu werben. Wörtlich ist die Rede von „Optimierung“, was man so verstehen könnte, dass nicht einfach nur Erleichterungen gemeint sind, sondern strukturelle Änderungen. Ist die eine zutreffende Interpretation und wie könnten Optimierungen aussehen?

Dr. Philipp Steinberg: Unser erstes Ziel muss es sein, die Möglichkeiten des bestehenden EU-Vergaberechts jetzt schon optimal zu nutzen. Daher hat die Bundesregierung in den Handlungsleitlinien auch festgestellt, dass angesichts der aktuellen konjunkturellen Lage in der Regel von der Dringlichkeit investiver Maßnahmen der öffentlichen Hand auszugehen ist. Daher kann die Vergabestelle bei der Berechnung von Teilnahme- und Angebotsfristen in vielen Fällen von den jeweils vorgesehenen Verkürzungsmöglichen für hinreichend begründete Dringlichkeit Gebrauch machen. Diese Fristen müssen im Einzelfall ausreichend bemessen werden.

Die rechtlichen Spielräume für die Verkürzung von Fristen in Vergabeverfahren, die dem EU-Vergaberecht unterliegen, wurden bereits 2016 entsprechend den europarechtlichen Möglichkeiten umfassend ausgeschöpft. Eine weitere Verkürzung der Fristen würde eine Änderung des zugrundeliegenden EU-Vergaberechts erfordern.

Das BMWi wird sich im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands für eine weitere Optimierung des Vergaberechts ab Erreichen der EU-Schwellenwerte einsetzen. Allerdings muss ich betonen, dass das Initiativrecht für eine Änderung der EU-Richtlinien bei der EU-Kommission liegt. Wir können daher als Präsidentschaft nicht einfach, wie es teils gefordert wird, eine Erhöhung der EU-Schwellenwerte durchsetzen. Möglich ist es aber, eine Diskussion im Rat und mit der Kommission anzustoßen, die dann ggf. zu Änderungen der EU-Vergaberichtlinien führt. Unser Ziel ist es, im Rat Schlussfolgerungen zu akuten Fragen der öffentlichen Beschaffung zu beschließen, die dann in konkreten Umsetzungsmaßnahmen münden sollten. Gegenstand der Diskussion werden dabei nicht nur streng vergaberechtliche Aspekte sein, es geht natürlich auch um strukturelle Fragen der öffentlichen Beschaffung. Ich nenne da insbesondere den New Green Deal, der selbstverständlich auch die öffentliche Beschaffung betrifft.

Vergabeblog: In den Handlungsleitlinien wird dazu aufgerufen, die öffentlichen Investitionsfördermaßnahmen insbesondere zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen und Startups zu nutzen. In diesem Zusammenhang sollen zudem Innovationen gestärkt werden, und ein Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele sowie der Ziele der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie geleistet werden. Sind Sie optimistisch, dass dieser Apell entsprechend konsequent in reales Verwaltungshandeln mündet? Nicht wenige KMU sowie Startups beklagen nicht erst seit gestern die mangelnde Bereitschaft öffentlicher Auftraggeber, ihre Eignungsanforderungen abzusenken, um ihnen den Zugang zu öffentlichen Aufträgen zu erleichtern.

Dr. Philipp Steinberg: Das deutsche Vergaberecht ist vermutlich das Vergaberecht in Europa, das in seiner konkreten Ausgestaltung die deutlichsten Anforderungen zugunsten einer Beteiligung von KMU stellt. Ich erinnere nur an das sehr weitgehende Gebot der Losaufteilung. Nach § 97 GWB sind Leistungen in Lose aufgeteilt zu vergeben. Mehrere Lose dürfen nur dann zusammen vergeben werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Das Gebot der Losaufteilung ist damit sehr streng und zudem von den Vergabekammern und Gerichten nachprüfbar. Hinzu kommen Regeln, die etwa dafür Sorge tragen, dass keine überzogenen Anforderungen an die Eignung von Unternehmen gestellt werden, die außer Verhältnis zum Auftragsgegenstand stehen: Ich denke da auch an exzessive Referenzen, die teils gefordert werden. Gerade diese Regelung schützt KMU, aber auch Startups.

Allerdings muss dieses Recht in der Praxis auch gelebt werden, und die Praxis ist sicher noch nicht optimal. Das gilt insbesondere in Hinblick auf angemessene Eignungsanforderungen. Hinzu kommt, dass Vergaben auf der Grundlage des niedrigsten Preises als alleiniges Zuschlagskriterium auch in Bereichen üblich sind, in denen die Berücksichtigung von qualitativen Aspekte und Nachhaltigkeitskriterien auf Zuschlagsebene sinnvoll wäre. Allerdings werden Vergabestellen in der Praxis häufig allein gelassen und erhalten wenig Unterstützung „von oben“. Ganz im Gegenteil werden Vergabestellen von der Behördenleitung häufig unter Druck gesetzt, schnell zu vergeben und das an den Billigsten. Hier müssen Bund und Länder gemeinsam gegensteuern. Das ist aber eine Daueraufgabe!

Vergabeblog: Im Hinblick auf die Erreichung von Klimaschutz- und Nachhaltigkeitszielen ist in Beschaffungsvorhaben eine Menge technisch-fachliches Knowhow bei den Bedarfsträgern nötig sowie anderseits die entsprechende Klarheit oder auch der Willen in der Festlegung der Beschaffungsziele und deren wirtschaftlicher Bewertung. In diesem Zusammenhang sehen sich öffentliche Auftraggeber mitunter in schwierigen Zielkonflikten zu den Haushaltsgrundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, wenn es um investive Maßnahmen mit Nachhaltigkeitswirkung geht. Wie ist Ihre Sicht darauf, zumal Punkt III. der Handlungsleitlinien die Bundesverwaltung sehr deutlich verpflichtet, ausreichend personelle und materielle Ressourcen für Planung und Vergabe vorzusehen? Gewisse Kapazitäts- und Knowhow-Lücken, wenn man so möchte, sind damit doch festgestellt, oder?

Dr. Philipp Steinberg: Ich würde die Haushaltsgrundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit und die Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsziele nicht als unversöhnliche Gegensätze gegenüberstellen. In vielen Fällen dürfte sich etwa die energieeffizienteste und damit klimafreundlichste Lösung in der Gesamtschau zugleich auch als wirtschaftlichste Lösung darstellen.

Anderseits ist die Verwaltung aber mittlerweile infolge klarer Vorgaben teils auch gebunden, bestimmte Kriterien zu beachten. Ich nenne da etwa die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur energieeffizienten Beschaffung auf Bundesebene und das Klimaschutzgesetz. Solche Regelungen können nicht unter Verweis auf Haushaltsgrundsätze ausgehebelt werden. Aber auch hier gilt, dass wir die Vergabestellen nicht allein lassen können. Die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien – sei es auf der Basis zwingender Vorgaben, sei es als Option im Vergabeverfahren – erfordert Expertise und eine entsprechende Schulung. Auch aus diesem Grund verpflichtet Punkt III der Handlungsleitlinien die Bundesverwaltung, ausreichend personelle und materielle Ressourcen für Planung und Vergabe zur Verfügung zu stellen.

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Vergabeblog: Die Erleichterungen gelten derzeit nur für die Bundesverwaltung. Gehen Sie davon aus, dass die Länder nun rasch folgen werden?

Dr. Philipp Steinberg: Wir können den Ländern insoweit keine Vorgaben machen. Soweit es um Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte geht, unterliegen öffentliche Aufträge nicht dem EU-Vergaberecht, sondern werden traditionell dem Haushaltsrecht zugerechnet, das, soweit Landes- oder Kommunalvergaben betroffen sind, in der Zuständigkeit der Länder liegt. Allerdings haben die Länder in ihrem Zuständigkeitsbereich ebenfalls die Wertgrenzen für vereinfachte Verfahren (Beschränkte Ausschreibung, Verhandlungsvergabe mit oder ohne Teilnahmewettbewerb, freihändige Vergabe) und Direktaufträge teils deutlich erhöht.

Vergabeblog: Sehr geehrter Herr Dr. Steinberg, herzlichen Dank für das Interview. Wir freuen uns darauf, dass Gespräch mit Ihnen am 29.10.2020 im Rahmen der Podiumsdiskussion „Die Corona-Krise und ihre Folgen für die öffentliche Beschaffung – Konjunkturpolitik trifft auf Vergaberecht“ beim 7. Deutschen Vergabetag [2] fortzusetzen.

Das Interview führte Jan Buchholz vom Deutschen Vergabenetzwerk (DVNW). Über die temporären Erleichterungen im Vergaberecht im Rahmen des Corona-Konjunkturpakets wird zudem im Mitgliederbereich DVNW hier [3] diskutiert. Diskutieren Sie mit. Noch kein Mitglied? Zur kostenlosen Mitgliedschaft geht es hier [4].

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