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Corona-Pandemie als Aufhebungsgrund? (VK Bund, Beschl. v. 06.05.2020 – VK 1-32/20)

EntscheidungDie VK Bund hat aktuell entschieden, dass die Auswirkungen der Corona-Pandemie im Einzelfall dazu führen können, dass sich die Grundlage des Verfahrens derart wesentlich ändert, dass eine Aufhebung gerechtfertigt sein kann. Erforderlich hierfür ist, dass sich in zeitlicher und sachlicher Hinsicht die aktuelle Beschaffungssituation wesentlich verändert hat, sodass am Beschaffungsbedarf nicht mehr festgehalten werden kann.

§ 63 Abs. 1, Abs. 2 VgV

Sachverhalt

Die Vergabestelle hat mit Bekanntmachung vom 17.01.2020 ein europaweites Verfahren zur Vergabe von Arbeitsmarktmaßnahmen zur individuellen Förderung von Nachwuchskräften eingeleitet. Die Maßnahme sollte am 04.05.2020 beginnen.

Am 13.03.2020 teilte die Vergabestelle dem Erstplatzierten mit, dass nach derzeitigem Stand beabsichtigt sei, ihm den Zuschlag zu erteilen.

Nach interner Prüfung und Rücksprache mit dem Bedarfsträger informierte die Vergabestelle am 23.03.2020 alle Bieter mit einem Verweis auf die coronabedingten Veränderungen am Arbeitsmarkt, dass das Verfahren aufgehoben wird.

Der Erstplatzierte rügte daraufhin die Aufhebung als rechtswidrig und leitete ein Nachprüfungsverfahren mit dem Ziel der Fortsetzung des Vergabeverfahrens und der Erteilung des Zuschlags an ihn ein.

Die Entscheidung

Ohne Erfolg! Die VK Bund entschied, dass kein Anspruch auf eine Aufhebung der Aufhebung bestand und die Aufhebung rechtmäßig erfolgte.

Die Vergabekammer stellte zunächst klar, dass ein öffentlicher Auftraggeber im Rahmen seiner Beschaffungshoheit stets, auch wenn kein Aufhebungsgrund vorliegt, ein Vergabeverfahren aufheben und nicht gegen seinen Willen verpflichtet werden kann, dieses fortzusetzen. Da die Vergabestelle zahlreiche Verfahren im gleichen Zeitraum aufgehoben hat, bestünden keine Anhaltspunkte für eine Scheinaufhebung bzw. gezielte Diskriminierung.

Die Aufhebung erfolgte auch rechtmäßig, da

– ein Aufhebungsgrund vorlag,

– das Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde,

– die Gründe unverzüglich mitgeteilt und

– ausreichend dokumentiert wurden.

Die VK Bund bejahte das Vorliegen eines Aufhebungsgrundes, da sich durch die Corona-Pandemie nach Überzeugung der Kammer die Grundlage für die Vergabe von Arbeitsplatzmaßnahmen derart wesentlich geändert habe, dass eine Aufhebung gerechtfertigt sei. Denn infolge des bundesweiten Lockdowns ab dem 23.03.2020 sei es zu zahlreichen, zum Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens nicht vorhersehbaren Betriebsschließungen gekommen, in deren Folge der Start der Maßnahme derzeit nicht absehbar sei. Auch müsse die Verwendung der Haushaltsmittel aufgrund der akut anfallenden Bedarfe neu konzipiert werden.

Der Lockdown erfolgte noch vor der abschließenden Zuschlagsentscheidung, sodass eine Aufhebung hierauf gestützt werden könne. Auf die am 13.03.2020 versendete Mitteilung nach § 134 GWB über den beabsichtigten Zuschlag komme es hierbei nicht an.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der VK Bund, wonach die Aufhebung einer Anfang Januar erfolgten Ausschreibung einer Arbeitsmarktmaßnahme rechtmäßig erfolgte, überzeugt für den vorliegenden Fall.

Die VK Bund stellt zunächst zutreffend klar, dass stets zwischen der Wirksamkeit und der Rechtmäßigkeit der Aufhebung zu differenzieren ist.

Ein öffentlicher Auftraggeber kann jederzeit wirksam von einem Vergabeverfahren Abstand nehmen, solange die Aufhebungsentscheidung

– sachlich begründet ist und

– nicht lediglich zum Schein erfolgt.

Eine Scheinaufhebung liegt nur dann vor, wenn ein öffentlicher Auftraggeber seinen Vergabewillen nicht ernsthaft aufgegeben hat, sondern nur zum Schein aufhebt, um etwa einem anderen Bieter den Zuschlag in einem neuen Verfahren erteilen zu können. Nur in diesem Fall ist der vor der Vergabekammer geltend zu machende Antrag auf Aufhebung der Aufhebung erfolgreich.

Unter welchen Voraussetzungen eine Aufhebung (bzw. Einstellung) demgegenüber rechtmäßig ist, regelt § 63 Abs. 1 VgV bzw. § 48 Abs. 1 UVgO. Ähnliche Regelungen finden sich in § 17 Abs. 1 (EU) VOB/A, § 57 SektVO, § 37 Abs. 1 VSVgV und § 32 Abs. 1 KonzVgV.

Nach § 63 Abs. 1 VgV stellen folgende Fälle einen zulässigen Aufhebungsgrund dar:

– Kein Angebot den Bedingungen entsprechend (Nr. 1)

– Wesentliche Änderung der Verfahrensgrundlage (Nr. 2)

– Kein wirtschaftliches Ergebnis erzielt (Nr. 3)

– Andere schwerwiegende Gründe (Nr. 4)

Die Aufzählung ist abschließend. Coronabedingte Aufhebungen können dabei insbesondere aufgrund einer wesentlichen Änderung der Grundlagen des Vergabeverfahrens (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 VgV) oder des Vorliegens anderer schwerwiegender Gründe (§ 63 Abs. 1 Nr. 4 VgV) gerechtfertigt sein. Bei dem letzteren handelt es sich allerdings um einen Auffangtatbestand, der nur in engen Ausnahmefällen zur Anwendung kommt.

Die VK Bund setzt sich in ihrem aktuellen Beschluss eingehend mit dem Aufhebungsgrund des § 63 Abs.1 Nr. 2 VgV im Kontext der Corona-Pandemie auseinander. Dieser ist einschlägig, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ vorliegen:

– Änderung in zeitlicher Hinsicht

– Änderung in sachlicher Hinsicht

– Wesentlichkeit der Änderung.

In zeitlicher Hinsicht ist erforderlich, dass die Änderung nach Einleitung des Vergabeverfahrens durch die Veröffentlichung der Bekanntmachung und vor der abschließenden Zuschlagsentscheidung eingetreten ist. Für die Frage, ob eine Änderung vor der Zuschlagsentscheidung vorliegt, ist zum einen der Zeitpunkt der Änderung und zum anderen der Zeitpunkt der finalen Zuschlagsentscheidung entscheidend. Beides ist in den Vergabeordnungen nicht definiert und somit einzelfallabhängig zu bestimmen. Als maßgeblichen Zeitpunkt hat die VK Bund vorliegend auf den Beginn des Lockdowns im März abgestellt und zugleich klargestellt, dass eine abschließende Zuschlagsentscheidung hier noch nicht vorlag, da eine solche nicht bereits in der Mitteilung nach § 134 GWB zu sehen ist. Richtigerweise stellt die VK Bund in diesem Zusammenhang auf das Wesen der Vorabinformation ab, die allein dem Rechtsschutz der unterlegenen Bieter dient und somit weder einen Anspruch auf Zuschlagserteilung bzw. Fortführung des Verfahrens begründet noch eine abschließende Zuschlagsentscheidung darstellt.

In sachlicher Hinsicht darf die Änderung nicht vorhersehbar und nicht durch den öffentlichen Auftraggeber selbst verursacht worden sein. Beides ist in Bezug auf die wirtschaftlichen Folgen des durch die Corona-Pandemie verursachten Lockdowns im März gegeben.

Als wesentlich ist eine Änderung anzusehen, wenn die Durchführung des Vergabeverfahrens nicht mehr möglich oder für den Auftraggeber oder die Unternehmen mit unzumutbaren und nicht mehr auffangbaren Bedingungen verbunden wäre. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die ausgeschriebene Leistung analog zur Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) nicht mehr in absehbarer Zeit erbracht werden bzw. das Ziel der Beschaffung nicht mehr erreicht werden kann. Hier ist eine umfassende Interessenabwägung anhand des jeweiligen Einzelfalls unter Berücksichtigung sämtlicher für die Aufhebungsentscheidung relevanter Umstände vorzunehmen, die vorliegend aufgrund der gravierenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und der notwendigen Neuverteilung der Haushaltsmittel richtigerweise zur Bejahung der Wesentlichkeit führte.

Praxistipp

Die Entscheidung der VK Bund, wonach die Aufhebung einer Anfang Januar erfolgten Ausschreibung einer Arbeitsmarktmaßnahme rechtmäßig erfolgte, überzeugt für den vorliegenden Fall. Sie ist aber nicht so zu verstehen, dass die Corona-Pandemie generell zur Aufhebung von Vergabeverfahren berechtigt.

Vergabestellen ist daher zu raten, nicht vorschnell ein Verfahren wegen Corona aufzuheben, sondern stets sorgsam anhand des konkreten Ausschreibungsgegenstandes zu prüfen und zu dokumentieren, ob der ursprünglich vorgesehene Bedarf tatsächlich aufgrund der Folgen der Corona-Pandemie nicht mehr oder nicht mehr so besteht und auch eine Aussetzung nicht infrage kommt, da anderenfalls im Falle einer wirksamen, aber rechtswidrigen Aufhebung Schadensersatzansprüche drohen können.

Für die Frage, ob die Folgen der Corona-Pandemie einen Aufhebungsgrund begründen, ist insbesondere ausschlagend, wann ein Vergabeverfahren gestartet ist und ob sich die konkrete Beschaffungssituation vor der Zuschlagsentscheidung gravierend verändert hat. Vergabestellen sind hierbei nicht bereits mit dem Versand der Vorabinformation an die unterliegenden Bieter an ihre dort geäußerte Zuschlagsentscheidung gebunden. Vielmehr können sie auch dann zur Aufhebung berechtigt sein, wenn sich nach der Mitteilung eine wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens einstellt.

Völlig offen ist derzeit, ob eine Aufhebung aufgrund eines nochmaligen Lockdowns ebenfalls als unvorhersehbar eingestuft werden kann. Vergabestellen sollten daher prüfen, ob sie im Rahmen aktueller Ausschreibungen ggf. in die Vergabeunterlagen den Hinweis aufnehmen, dass sie sich im Falle eines nochmaligen Lockdowns die Aufhebung vorbehalten.

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Über Dr. Jana Dahlendorf

Dr. Jana Dahlendorf ist Rechtsanwältin bei der Kanzlei SammlerUsinger Rechtsanwälte Partnerschaft mbB in Berlin. Sie berät öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Konzeption und Gestaltung sowie der anschließenden Durchführung von Vergabeverfahren ebenso wie Bieterunternehmen umfassend bei allen vergaberechtlichen Fragestellungen. Darüber hinaus vertritt sie ihre Mandanten vor den Vergabenachprüfungsinstanzen.

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