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Kein Anspruch eines Inklusionsbetriebes auf Gleichbehandlung mit Werkstätten für behinderte Menschen (OLG Dresden, Beschl. v. 03.9.2020 – Verg 1/20)

EntscheidungAnmerkung zu den Entscheidungen der Vergabekammer Sachsen, Beschluss v. 24.7.2020 (1/SVK/017-20) und der Beschwerdeinstanz (OLG Dresden, Beschluss v. 03.9.2020 – Verg 1/20)[i] sowie der Frage, wie „frei“ öffentliche Auftraggeber bei der öffentliche Auftragsvergabe über die Bevorzugung von Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetriebe entscheiden können.

Der Vergabesenat des OLG Dresden bestätigte in seinem Beschluss v. 03.9.2020 (Verg 1/20) die Entscheidung der Vorinstanz, der Vergabekammer Sachsen, Beschluss v. 24.7.2020 (1/SVK/017-20), in welcher diese den Antrag eines Inklusionsbetriebs iSv. § 215 SGB IX abgelehnt hatte, ebenso wie Werkstätten für behinderte Menschen einen Bonus von 15 % auf den Angebotspreis bei der Berechnung der Wertungssumme gewährt zu bekommen. Der öffentliche Auftraggeber hatte in der Ausschreibung ausdrücklich nur „Werkstätten für Behinderte“ einen Bonus von 15 % eingeräumt. Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin begehrte eine Gleichstellung mit Werkstätten für behinderte Menschen. Sie berief sich hierzu u.a. auf § 224 Abs. 2 SGB IX, demzufolge Aufträge der öffentlichen Hand bevorzugt auch Inklusionsbetrieben anzubieten sind. Sowohl die Vergabekammer als auch das OLG verneinten einen Anspruch der Antragstellerin/Beschwerdeführerin gemäß § 241 SGB IX darauf, im Rahmen der Wertung der Angebote ebenfalls einen Bonus in Höhe von 15 % der Wertungssumme zu bekommen. Dem ist zuzustimmen.

Es fragt sich, wie „frei“ öffentliche Auftraggeber über die bevorzugte Berücksichtigung von Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetriebe entscheiden können. Darüber mussten die Vergabekammer und das OLG nicht entscheiden, da die Antragstellerin/Beschwerdeführerin nicht gerügt hat, dass der Auftraggeber in den Zuschlagskriterien eine Bevorzugung (auch) von Inklusionsbetrieben nicht vorgesehen hatte; gerügt hatte die Antragstellerin/Beschwerdeführerin das Wertungsergebnis und den Umstand, dass im Rahmen der Wertung ihres Angebots kein Bonus in Höhe von 15 % berücksichtigt worden ist.

Die Entscheidungen

Beschluss der Vergabekammer Sachsen

Die Vergabekammer Sachsen hatte argumentiert, dass bei der Berechnung der Wertungssumme des Angebots der Antragstellerin deshalb kein Bonus in Höhe von 15 % der Wertungssumme zu berücksichtigen war, da auf Grundlage der bekannt gemachten Zuschlagskriterien nur Werkstätten für Behinderte[ii] ein Bonus in Höhe von 15 % der Wertungssumme gewährt werden sollte:

„Werkstätten für Behinderte wird bei der Berechnung der Wertungssumme ein Bonus von 15 Prozent eingeräumt […]“

Aus den Vergabeunterlagen bzw. den bekanntgemachten Zuschlagskriterien ergibt sich somit keine Verpflichtung, im Rahmen der Angebotswertung einen Bonus in Höhe von 15 % für Inklusionsbetriebe zu berücksichtigen. Eine solche Verpflichtung (zur Gleichstellung mit Werkstätten für behinderte Menschen) folge auch nicht aus § 224 Abs. 2, 1 SGB IX.

In § 224 SGB IX heißt es:

„(1) Aufträge der öffentlichen Hand, die von anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen ausgeführt werden können, werden bevorzugt diesen Werkstätten angeboten; zudem können Werkstätten für behinderte Menschen nach Maßgabe der allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Satz 2 beim Zuschlag und den Zuschlagskriterien bevorzugt werden. Die Bundesregierung erlässt mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine Verwaltungsvorschriften zur Vergabe von Aufträgen durch die öffentliche Hand.

(2) Absatz 1 gilt auch für Inklusionsbetriebe.“

Sinn und Zweck des § 224 SGB IX sei es zwar, die Wettbewerbssituation der Werkstätten für Behinderte und Inklusionsbetriebe zu verbessern, damit diese in ausreichendem Umfang Aufträge erhalten, um ihren gesetzlichen Auftrag zur Beschäftigung und Förderung von Menschen mit Behinderungen erfüllen zu können. Im Gesetzestext des § 224 SGB IX ist jedoch die konkrete Art und Weise der Bevorzugung von Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetrieben bei der Auftragsvergabe nicht näher geregelt.

Die Möglichkeit Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsunternehmen im Rahmen der Angebotswertung einen Bonus in Höhe von 15 % zuzusprechen habe ihren Ursprung in der immer noch geltenden „Bevorzugten-Richtlinie“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie vom 10. Mai 2001, welche auf den Vorgängerregelungen des § 224 SGB IX, den §§ 56 und 58 Schwerbehindertengesetz zurückgehen und die wegen der Übergangsregelung des § 241 Abs. 3 SGB IX weiter gilt.

Dort heißt es in § 3 Abs. 4:

„Bewerbern nach § 1 ist immer dann der Zuschlag zu erteilen, wenn ihr Angebotspreis den des wirtschaftlichsten Bieters um nicht mehr als 15 vom Hundert übersteigt.“

Bewerber nach § 1 der „Bevorzugten-Richtlinie“ sind „Werkstätten für Behinderte“ und Blindenwerkstätten.

Da die „Bevorzugten-Richtlinie“ des Bundeswirtschaftsministeriums lediglich für die Vergabe von Aufträgen des Bundes, seiner Einrichtungen und seiner Sondervermögen gilt und es sich dabei um eine verwaltungsinterne Anordnung handelt, welche die Organisation und Handeln der Bundes-verwaltung näher bestimmt, und die keine verbindliche Außenwirkung hat, könne die Antragstellerin die Regelung des § 3 Abs. 4 der „Bevorzugten-Richtlinie“ nicht als Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Berücksichtigung eines Bonus in Höhe von 15 % im Rahmen der Berechnung der Wertungssumme heranziehen, so die Vergabekammer.

Aus der Vorschrift des § 224 Abs. 2 SGB IX, wonach auch Inklusionsbetriebe bei der Auftragsvergabe durch die öffentliche Hand bevorzugt zu berücksichtigen sind, lasse sich, so die Vergabekammer Sachsen weiter, entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin nicht konkret herleiten, dass die Antragstellerin hier im Rahmen der Wertung wie eine Werkstatt für behinderte Menschen zu behandeln sei. Dieser Norm könne nicht der Inhalt entnommen werden, dass immer dann, wenn ein Auftraggeber sich in den Vergabeunterlagen für die Bevorzugung in einer Art und Weise für Werkstätten für behinderte Menschen entscheidet, dies automatisch in der Wertung auch für Inklusionsbetriebe gelten müsse. § 224 SGB IX lasse sich nichts Explizites entnehmen wie die Bevorzugung auszusehen hat und auch in welcher Form sie zu geschehen habe. Eine Gleichbehandlung ist jedenfalls dem Wortlaut der Norm nicht zu entnehmen. § 224 SGB IX verfolge das allgemeine Ziel die Wettbewerbssituation von Bevorzugten zu verbessern. Dieses Ziel ist an die öffentliche Hand gerichtet. Diese soll bei der Auftragsvergabe Bedingungen schaffen, welche eine Bevorzugung ermöglichen. Einzelheiten wie diese Möglichkeiten konkret zu nutzen sind, ergeben sich aus der Norm des § 224 SGB IX allerdings nicht. Dies ist vielmehr der nach § 224 Abs. 1 Satz 2 SGB IX zu erlassenden allgemeinen Verwaltungsvorschrift vorbehalten.

Die Vergabekammer Sachsen folgert daraus, dass § 224 Abs. 2 SGB IX Auftraggebern (nur) die „Möglichkeit“ verschafft, auch Inklusionsbetriebe bei der Vergabe zu bevorzugen, aber nicht den von der Antragstellerin geltend gemachten Anspruch auf Gleichbehandlung von Inklusionsbetrieben mit Werkstätten für Behinderung im Rahmen der Wertung der Angebote beinhaltet. Selbst wenn man dies anders sieht, würde § 224 Abs. 2 SGB IX jedenfalls nicht im Rahmen der Wertung der Angebote, sondern nur bei der vorherigen Aufstellung der Zuschlagskriterien Geltung beanspruchen können. Denn aus Transparenzgründen ist zwingend die gewählte Art der Bevorzugung in den Vergabeunterlagen zu veröffentlichen, damit sich andere Bieter darauf einstellen können oder vorab dagegen vorgehen können.

Beschluss des OLG Dresden

Das OLG Dresden bestätigt die Entscheidung der Vergabekammer. Aus dem Beschluss des OLG Dresden ist hervorzuheben, dass nach Auffassung des OLG eine Privilegierung der Werkstätten für behinderte Menschen im Verhältnis zu Inklusionsbetrieben nicht rechtswidrig ist. Das OLG Dresden argumentiert, dass die strukturellen Nachteile in Bezug auf die Bildung eines am Markt konkurrenzfähigen Preises bei Werkstätten für behinderte Menschen größer sein dürften, als bei Inklusionsbetrieben, die gemäß § 215 Abs. 3 Satz 1 SGB IX lediglich einen Beschäftigtenanteil von 30 % schwerbehinderter Menschen aufweisen müssen, also überwiegend Arbeitnehmer beschäftigen, bei denen keine schwere Behinderung vorliegt.

Rechtliche Würdigung

Zuzustimmen ist der Vergabekammer Sachsen und dem OLG Dresden zunächst hinsichtlich der Feststellung der „vergaberechtlichen Selbstverständlichkeit“, wonach wegen § 127 Abs. 5 GWB (Transparenz) der öffentliche Auftraggeber die Angebote der Bieter nur anhand der vorab in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen aufgeführten und mitgeteilten Zuschlagskriterien werten darf. Die Gewährung eines Bonus in Höhe von 15 % der Wertungssumme war in der verfahrensgegenständlichen Ausschreibung (nur) für „Werkstätten für Behinderte“ vorgesehen (siehe oben). Das stellt i.Ü. auch der Referentenentwurf der noch nicht geltenden „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur bevorzugten Berücksichtigung von anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen, anerkannten Blindenwerkstätten und Inklusionsbetrieben bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (Bevorzugten-Verwaltungsvorschrift – BevorzugtenVwV)“ klar, welche die „Bevorzugten-Richtlinie“ ablösen soll.

Dort heißt es in § 5 (Transparenz):

In der Auftragsbekanntmachung oder in den Vergabeunterlagen ist auf die Anwendung dieser Allgemeinen Verwaltungsvorschrift hinzuweisen.“

Hinsichtlich der Frage der bevorzugten Berücksichtigung von Inklusionsbetrieben handelt es nicht um eine Frage im Rahmen der Angebotswertung – doch darauf war die Rüge der Antragstellerin/Beschwerdeführerin gerichtet – sondern um eine Frage der konkreten Ausgestaltung der Zuschlagskriterien. Die Antragstellerin hatte „ihre“ fehlende bevorzugte Berücksichtigung im Rahmen der Zuschlagskriterien nicht gerügt.

Die Vergabekammer und das OLG mussten sich daher nicht mehr mit der Frage auseinandersetzen, wie „frei“ öffentliche Auftraggeber in der Ausübung ihres nach § 224 Abs. 1, Satz 1, 2. Hs., Abs. 2 SGB IX eingeräumten Ermessens sind, Inklusionsbetriebe beim Zuschlag bzw. den Zuschlagskriterien nicht (ebenfalls) bevorzugt zu berücksichtigen.

§ 224 Abs. 1, Satz 1, 2. Hs., Abs. 2 SGB IX räumt den öffentlichen Auftraggebern hierbei Ermessen ein („können“). Wie im Fall jeder Ermessensvorschrift hat der jeweilige Normadressat das Ermessen fehlerfrei auszuüben. Die Ermessensausübung im Rahmen des § 224 SGB IX wird entscheidend dadurch bestimmt, dass es in § 224 Abs. 1 Satz1, 2. Hs. SGB IX heißt, dass die Werkstätten für behinderte Menschen – wegen § 224 Abs. 2 SGB IX auch Inklusionsbetriebe – nur nach Maßgabe der allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Satz 2 beim Zuschlag und den Zuschlagskriterien bevorzugt berücksichtigt werden können. Das „Wie“ der bevorzugten Berücksichtigung ist damit allein den auf der Grundlage des § 224 Abs. 1 Satz1, 2. Hs. SGB IX erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften vorbehalten.

Bisher wurden derartige „allgemeine Verwaltungsvorschriften“ noch nicht erlassen. Nach der Übergangsregelung des § 241 Abs. 3 SGB IX gilt somit die „Bevorzugten-Richtlinie“ aus dem Jahr 2001 weiter fort. Die „Bevorzugten-Richtlinie“ richtet sich nur an die Bundesverwaltung.

Seit dem 10.6.2021 erstreckt sich die „Bevorzugten-Richtlinie“ neben den Werkstätten für behinderte Menschen und Blindenwerkstätten zusätzlich auch auf Inklusionsbetriebe. Die Übergangsvorschrift des § 241 Abs. 3 SGB IX wurde neu gefasst:

„Die nach § 56 Absatz 2 des Schwerbehindertengesetzes erlassenen allgemeinen Richtlinien sind bis zum Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriftnach § 224 weiter anzuwenden, auch auf Inklusionsbetriebe.“

In § 241 Abs. 3 SGB IX a.F. hieß es noch:

„Die nach § 56 Absatz 2 des Schwerbehindertengesetzes erlassenen allgemeinen Richtlinien sind bis zum Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriftnach § 224 weiter anzuwenden.“

Die Vergabestellen des Bundes müssen demnach unter Berücksichtigung der in § 224 SGB IX zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Intention, die strukturellen Benachteiligung von Werkstätten für behinderte Menschen und auch Inklusionsbetrieben in öffentlichen Vergabeverfahren durch bevorzugte Berücksichtigung bei der Zuschlagserteilung „auszugleichen“, Werkstätten für behinderte Menschen, wie auch Inklusionsbetriebe grundsätzlich immer bei der Zuschlagserteilung bevorzugt berücksichtigen. Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetriebe steht ein Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung hinsichtlich ihrer bevorzugten Berücksichtigung beim Zuschlag und den Zuschlagskriterien gegen die Vergabestellen des Bundes zu.[iii] Andernfalls verfehlt § 224 Abs. 1, Satz 1, 2. Hs., Abs. 2 SGB IX seinen Zweck.

§ 3 der „Bevorzugten-Richtlinie“ sieht hierfür u.a. vor, dass dann, wenn das Angebot eines bevorzugten Bieters ebenso wirtschaftlich annehmbar ist wie das eines „gewöhnlichen“ Bieters, Ersterem der Zuschlag zu erteilen ist (Nr. 3) bzw. dem bevorzugten Bieter dann den Zuschlag zu erteilen, wenn dessen Angebotspreis den Angebotspreis des wirtschaftlichsten Bieters nicht um mehr als 15 % übersteigt (Nr. 4)

Sind Werkstätten für behinderte Menschen nicht in der Lage dem öffentlichen Auftrag auszuführen, verbietet sich selbstredend eine bevorzugte Berücksichtigung (siehe entsprechende Einschränkung in § 224 Abs. 1 SGB IX); dasselbe gilt natürlich für Inklusionsbetriebe.

Unter Verweis auf den Beschluss des OLG Dresden wird sich ein öffentlicher Auftraggeber ermessensfehlerfrei für eine bevorzugte Berücksichtigung nur von Werkstätten für behinderte Menschen, und nicht auch zugleich von Inklusionsbetrieben entscheiden dürfen, wenn die strukturellen Nachteile in Bezug auf die Bildung eines am Markt konkurrenzfähigen Preises bei Werkstätten für behinderte Menschen größer ist als bei Inklusionsbetrieben. Das wird man allerdings nicht pauschal beantworten können. Dies hängt vom Einzelfall ab.

Sehen die Vergabestellen des Bundes aus unsachlichen, letztlich willkürlichen Gründen in den Zuschlagskriterien keine bevorzugte Berücksichtigung nach Maßgabe der „Bevorzugten-Richtline“ vor, können Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetriebe, sofern sie ihren Rügeobliegenheiten nach § 160 Abs. 3 Nr. 2, 3 GWB rechtzeitig nachgekommen sind, ein darauf gestütztes Vergabenachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern einleiten.[iv] [1]

Das Vorgesagte gilt nicht für die Vergabestellen der Länder bzw. der kommunalen Gebietskörperschaften. Gegen die Vergabestellen der Länder bzw. der kommunalen Gebietskörperschaften steht den Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetrieben (noch) kein Anspruch auf ermessenfehlerfrei Bevorzugung zu. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es den Vergabestellen der Länder bzw. der kommunalen Gebietskörperschaften verwehrt wäre, Werkstätten für behinderte Menschen und auch Inklusionsbetriebe im Rahmen der Angebotswertung „bevorzugt“ zu berücksichtigen.

§ 58 Abs. 2 VgV gibt im Oberschwellenvergabebereich jedem öffentlichen Auftraggeber die Möglichkeit, sog. „soziale Zuschlagskriterien“ in die Ausschreibung mitaufzunehmen, wodurch sich (indirekt) Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetriebe bevorzugt berücksichtigen lassen (siehe sogleich). Darauf haben Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetriebe allerdings keinen Anspruch.

Der Unterschied zwischen § 224 SGB IX und § 58 Abs. 2 VgV liegt darin, dass im Rahmen des § 224 SGB IX die (Ermessens-)entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, ob er Werkstätten für behinderte Menschen und/oder Inklusionsbetrieb bevorzugt berücksichtigt oder nicht, überprüfbar ist. Das ist im Rahmen der § 58 Abs. 2 VgV nicht der Fall. Bzgl. der Aufnahme auch sozialer Zuschlagskriterien ist der Auftraggeber frei, mit Ausnahme der sich aus § 58 VgV ergebenden Anforderungen.

Soziale Zuschlagskriterien: § 58 Abs. 2 VgV

Im Oberschwellenvergabebereich können öffentliche Auftraggeber gemäß § 58 Abs. 2 (Satz 2 Nr. 1) VgV „soziale Zuschlagskriterien berücksichtigen“, vorausgesetzt, dass diese Zuschlagskriterien und deren Gewichtung gemäß § 127 Abs. 5 GWB in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen aufgeführt werden (Transparenzgebot).

Als soziales Zuschlagskriterium kommt nach der Gesetzesbegründung ausdrücklich auch „die Förderung der sozialen Integration von benachteiligten Personen“ in Betracht (Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/6281, S. 112.). Unter benachteiligten Personen fallen neben Personen mit (schwerwiegenden) Behinderungen, u.a. auch Arbeitslose, Angehörigen benachteiligter Minderheiten oder auf andere Weise an den Rand der Gesellschaft gedrängten Personen (siehe Erwägungsgrund 36 der Vergaberichtlinie 2004/18/EG.).

Die sozialen, wie auch die qualitativen und umweltbezogenen Kriterien müssen sich nicht zwingend auf die materiellen Eigenschaften des Auftragsgegenstandes auswirken (BR-Drs. 87/16, S. 212 f.). Es muss sich vielmehr um Eigenschaften handeln, die die betreffende Leistung oder das betreffende Produkt charakterisieren (Beck VergabeR/Lausen, 3. Aufl. 2019, VgV, § 58, Rdnr. 58.); erforderlich ist also ein unmittelbarer Auftragszusammenhang, aber kein Bezug zu der „inneren Eigenschaft“ einer Leistung oder eines Produkts (a.a.O.). Der Auftragsbezug ist im Falle des Kriteriums „Förderung der sozialen Integration von benachteiligten Personen“ gegeben, wenn sich dieses Zuschlagskriterium auf die an der Leistung beteiligten Beschäftigten bezieht (a.a.O., Rdnr. 59.). Der Auftragsbezug fehlt, wenn das (soziale) Zuschlagskriterium lediglich mit der generellen Unternehmenspolitik (z.B. Personalpolitik) zusammenhängt, d.h. daran anknüpft.

§ 58 Abs. 2 Satz 2 VgV verbietet es, dass Angebote ausschließlich an qualitativen, umweltbezogenen oder sozialen Kriterien gemessen werden. Die genannten Zuschlagskriterien dürfen (nur) neben dem Preis oder den Kosten berücksichtigt werden. Hierauf haben öffentliche Auftraggeber zu achten.

Über das „Ob“ und „Wie“ der Ausgestaltung eines sozialen Zuschlagskriteriums entscheidet der öffentliche Auftraggeber frei. Einschränkungen können sich nur aus etwaigen Sonderregelungen ergeben:

„Die Auswahl der Kriterien, auf die der öffentliche Auftraggeber für die Erteilung des Zuschlags abzustellen beabsichtigt, bleibt ausdrücklich dessen freiem Ermessen überlassen, sofern Sonderregelungen nicht die Vorgabe bestimmter Kriterien zwingend vorschreiben“ (a.a.O.).

Die Bestimmungen der noch in Kraft befindlichen „Bevorzugten-Richtlinie“ dürften solche Sonderregelungen darstellen. Sie bestimmen damit inhaltlich die Art und Weise der Bevorzugung. Dies dürfte auch auf die Regelungen der zukünftigen „Bevorzugten-Verwaltungsvorschrift“ gemäß § 224 Abs. 1, Satz 1, 2. Hs. SGB IX zutreffen, wenn diese in Kraft sind.

Zusammenfassung

Inklusionsbetrieben steht ein Anspruch auf Gleichbehandlung mit Werkstätten für behinderte Menschen, die explizit in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen bei der Zuschlagserteilung bevorzugt berücksichtigen werden sollen, nicht zu. Ein solcher Anspruch ergibt sich schlicht nicht aus dem Gesetz. Zudem können sich Bieter nur auf solche Zuschlagskriterien berufen, die in der Auftragsbekanntmachung oder den Vergabeunterlagen aufgeführt sind.

Die Vergabestellen des Bundes haben jedoch heute schon im Regelfall Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetriebe nach Maßgabe der (immer noch) geltenden „Bevorzugten-Richtlinie“ bevorzugt beim Zuschlag und den Zuschlagskriterien zu berücksichtige; d.h. in den Zuschlagskriterien ist eine entsprechende Bevorzugung nach Maßgabe der „Bevorzugten-Richtlinie“ entweder in der Auftragsbekanntmachung oder an anderer Stelle in den Vergabeunterlagen aufzuführen. Den nach der „Bevorzugten-Richtlinie“ in Verbindung mit § 241 Abs. 3 SGB IX n.F. bevorzugten Werkstätten/Inklusionsbetrieben steht ein Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung hinsichtlich ihrer bevorzugten Berücksichtigung beim Zuschlag bzw. in den Zuschlagskriterien gegen die Vergabestellen des Bundes zu. Bevorzugte Bieter haben dringend darauf zu achten, dass wenn der öffentliche Auftraggeber in einer europaweiten Ausschreibung in den Zuschlagskriterien eine Bevorzugung nicht vorsieht und sie dagegen vorgehen wollen, ihren Rügeobliegenheiten nach § 160 Abs. 3 Nr. 2, 3 GWB fristgerecht nachzukommen. Nur so steht Ihnen der Primärrechtsschutz vor den Vergabekammern offen.

Mit dem Erlass der (zukünftigen) „Bevorzugten-Verwaltungsvorschrift“ steht den Werkstätten für behinderte Menschen und Inklusionsbetrieben auch gegen die Vergabestellen der Länder bzw. der kommunalen Gebietskörperschaften ein Anspruch auf ermessensfehlerfrei Ermessensausübung zu. Bis zu Inkrafttreten der „Bevorzugten-Verwaltungsvorschrift“ können die Vergabestellen der Länder bzw. der kommunalen Gebietskörperschaften noch „frei“ darüber entscheiden, ob und wie sie Werkstätten für behinderte Menschen, Inklusionsbetriebe oder sonstige „Sozialunternehmen“, die sich um die soziale Integration von benachteiligten Personen kümmern, im Rahmen der Zuschlagskriterien bevorzugt berücksichtigen wollen. Die Möglichkeiten hierzu räumt ihnen § 58 Abs. 2 VgV ein; § 224 SGB IX steht dem nicht entgegen.

___________________

[i] Bisher sind die Beschlüsse der Vergabekammer Sachsen und des OLG Dresden nicht veröffentlicht. Dem Verfasser wurden beide Beschlüsse auf Nachfrage übersandt und liegen ihm daher vollständig vor. Der Verfasser bemüht sich um eine Veröffentlichung bei juris.
[ii] Heute wird nicht mehr von Werkstätten für „Behinderte“, sondern von „Werkstätten für behinderte Menschen“ gesprochen (§ 219 SGB IX).
[iii] „Die Norm gibt der Werkstatt keinen Rechtsanspruch auf Erteilung von Aufträgen, sondern lediglich das Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung bei der Auftragsvergabe“, BeckOK SozR/Jabben, 60. Ed. 1.9.2020, SGB IX, § 224, Rdnr. 2. Vgl. auch NPGWJ/Pahlen, 14. Aufl. 2020, SGB IX, § 224, Rdnr. 6. Siehe zudem bereits Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. 11. 1969 – V C 93-98/67 – (Das BerGer. hat hieraus gefolgert, daß dem begünstigten Kreis der Schwerbeschädigten in Fällen dieser Art nur ein Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung zustehen könne. Dem folgt der erkennende Senat im Grunde.“).
[iv] „[Die] Bevorzugungspflicht ist […] dann verletzt […], wenn die angestellten Erwägungen als sachfremd zu bezeichnen sind und die berücksichtigten Umstände neben der Sache liegen, so daß die Entscheidung über den Zuschlag letztlich auf Willkür beruht.“ Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 26. 11. 1969 (V C 93-98/67).
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Über Ferdinand L. Normande Abbate [2]

Der Autor ist Rechtsanwalt bei KDU Krist Deller & Partner [3], einer mittelständischen Kanzlei mit Sitz in Koblenz. Er berät zu allen vergaberechtlichen Angelegenheiten. Schwerpunkte seiner vergaberechtlichen Beratung bilden die Begleitung von Zuwendungsempfängern bei Beschaffungsvorhaben und den damit zusammenhängenden förderrechtlichen Vorgaben, Inhouse-Vergaben, Open-House-Verfahren, IT-Beschaffungen, Sektorenauftragsvergaben und Postdienstleistungen.

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