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„Ist weniger mehr?“ – Auch Auftragsminderungen bemessen sich am Maßstab der Wesentlichkeit (VK Bund, Beschl. v. 06.05.2021 – VK2-33/21)

EntscheidungDie „schrecklich nette Vorschrift“ (s. Hans-Peter Müller, in: ZfBR 2019, 444) des § 132 GWB erfreut sich mittlerweile in der Praxis einer großen Beliebtheit. Erfreulich – zumindest für die Anwender – dass nun auch die vergaberechtliche Rechtsprechung zum Zuge kommt und zu mehr Klarheit und Rechtssicherheit in der Praxis beiträgt. Den folgenden Fall hatte die Vergabekammer des Bundes im Mai d.J. zu entscheiden. Wesentliche Feststellungen der Kammer werden in Nachfolgenden besprochen.

§§ 106 Abs. 1, 132 Abs. 1, 3, 142 GWB

Leitsätze

1. Die Vorschrift des § 132 GWB über Auftragsänderungen während der Vertragslaufzeit findet auch gegenüber Sektorenauftraggebern Anwendung

2. Eine 90%-ige Reduzierung einzelner Positionen eines Leistungsverzeichnisses ist nicht wesentlich, wenn die Reduktion des Angebotspreises aufgrund des verminderten Leistungsumfangs bei deutlich unter 10% liegt.

Sachverhalt

Ein Sektorenauftraggeber (Antragsgegner) führte ein europaweites offenes Verfahren über die Absicherung von Baumaßnahmen durch. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Der Zuschlag wurde auf das Angebot der Beigeladenen erteilt.

Nach Zuschlagserteilung erfuhr die Antragstellerin von Änderungen an der Auftragsdurchführung, worauf sie einen Nachprüfungsantrag bei der zuständigen Vergabekammer des Bundes stellte. Sie trug vor, dass entweder vor Zuschlagserteilung der Auftrag ohne die erforderliche Transparenz für alle Bieter wesentlich geändert und so letztlich ohne entsprechende Bekanntmachung vergeben worden sei oder der Auftrag nach Zuschlagserteilung wesentlich geändert worden sei und deshalb ein neues Vergabeverfahren erforderlich gewesen wäre.

Unwidersprochen befand die Vergabekammer im Ergebnis als entscheidungsrelevant das Vorbringen, dass aufgrund der erfolgten Änderung des Auftrags eine neue Ausschreibung erforderlich gewesen wäre. Die Vergabekammer sah es letztlich von allen Beteiligten als unstreitig gestellt an, dass die Änderungen des Leistungsumfanges erst nach Zuschlagserteilung erfolgten und bestimmte benannte Leistungspositionen betrafen.

Zu prüfen war demnach eine Auftragsänderung während der Vertragslaufzeit (s. § 132 GWB).

Daneben trug die Antragstellerin u.a. vor, die Beigeladene habe den vorgeschriebenen Mindestlohn unterschritten und somit fehlerhaft kalkuliert (Unterkostenangebot).

Die Entscheidung

1. Die Zulässigkeit des Antrags, so die Vergabekammer, erfordere ein Abstellen auf den vergebenen Auftrag, der geändert wurde. Dieser habe den maßgeblichen Schwellenwert nach § 106 Abs. 1 GWB überschritten. Es handelte sich also um einen „Schwellenwertauftrag“.

Die Frage, ob die Änderung allein und bei isolierter Betrachtung den Auftragsschwellenwert für die europaweite Vergabe übersteigt, sei erst für die materielle Frage relevant, ob eine wesentliche Änderung vorliegt. Lasse man den Änderungswert bereits bei der Zulässigkeit gelten, könnte § 132 GWB andernfalls nicht zur Anwendung kommen, wenn ein auf § 132 GWB gestützter Nachprüfungsantrag bereits an der Zulässigkeit scheiterte, falls der Wert der Änderung bei isolierter Betrachtung unter dem maßgeblichen Schwellenwert des § 106 Abs. 1 GWB liege. Ob der geschlossene Änderungsvertrag tatsächlich unwirksam sei, sei im Rahmen der Zulässigkeit zunächst zu unterstellen. Die tatsächliche Unwirksamkeit stelle eine Frage der Begründetheit dar.

Ausgangspunkt der Prüfung war also für die Vergabekammer der Vortrag des Antragstellers, der Vertrag sei entgegen § 132 GWB ohne die erforderliche Ausschreibung und damit Bekanntmachung geschlossen worden und folglich unwirksam i.S.d. § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB. Folgerichtig sah die Vergabekammer kein Hindernis darin, dass ein Nachprüfungsantrag grds. voraussetzt, dass noch kein wirksamer Zuschlag erteilt worden ist. Auch mit den weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Nachprüfungsantrags hatte die Vergabekammer kein Problem.

In Anbetracht des Sachverhaltes ging die Vergabekammer auch von der Fristgemäßheit der eingereichten Rüge gem. § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB des Antragstellers aus

2. Der Antrag sei aber unbegründet.

Vorweg stellte die Vergabekammer fest, dass § 132 GWB gemäß § 142 GWB auch auf Auftragsänderungen von nach dem Sektorenvergaberecht vergebene Aufträge anwendbar ist.

Die Vorwürfe der Unterschreitung des Mindestlohns und des damit verbundenen Unterkostenangebots prüfte die Vergabekammer nicht, da eine diesbezügliche Prüfung nach Vertragsschluss nach dem Grundsatz „pacta servanda sunt“ nicht mehr in Betracht kommt.

a) Die Vergabekammer prüfte zunächst, ob die in einer Leistungsreduzierung bestehende Auftragsänderung unter § 132 Abs. 3 GWB („de-minimis-Regel“) fällt. Ausgehend vom Angebot der Beigeladenen liege die Reduzierung deutlich unter 10% des ursprünglichen Auftragswerts und unterschreite auch den maßgeblichen Schwellenwert nach § 106 Abs. 1 GWB.

Grundsätzlich sei bei der Berechnung der 10%-Grenze vom ursprünglichen Auftragswert auszugehen. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass die prozentualen Schwellenregeln in Abs. 3 Anhaltspunkte für das Ausmaß der Auftragsänderung geben sollen. In diesem Zusammenhang könne ein mögliches
Unterkostenangebot womöglich eine Rolle spielen, als der finanzielle Wert der Auftragsänderung dadurch ggf. nicht in angemessener Proportion zur tatsächlichen Änderung steht.

An dieser Stelle hält die Vergabekammer eine vertiefte Prüfung jedoch für entbehrlich, da auch ohne Abstellen auf § 132 Abs. 3 GWB die Auftragsänderung ohne Durchführung einer neuen Ausschreibung zulässig war, da keine der Fallgruppen des § 132 Abs. 1 GWB, von denen nur die Nr. 1 und Nr. 2 in Betracht kämen, vorlägen (Anmerkung des Autors: § 132 Abs. 2 war von vorneherein nicht tatbestandsmäßig).

b) Sodann prüfte die Vergabekammer die Voraussetzung der in Betracht kommenden Regelbeispiele des Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 b, c und Nr. 2.

aa) Die Vergabekammer stellte hierzu fest, dass sich weder das einzige Zuschlagskriterium Preis noch die Bedingungen für die in Frage kommenden Unternehmen – es kommen weiterhin Unternehmen aus der gleichen fachlichen Branche für den Auftrag in Frage, da die Leistung inhaltlich identisch blieb – geändert haben. Es gab also keine Bedingungsänderungen, welche die Annahme eines anderen Angebotes ermöglicht hätten (s. lit b). Auch aufgrund der reduzierten Menge wäre nicht das Interesse weiterer Teilnehmer geweckt worden (s. lit c).

Die Fallgruppen der Nr. 1 setzen nämlich voraus, dass sich Bedingungen des Auftrags nachträglich ändern. Mit den Bedingungen sind solche gemeint, die zur Auswahl der Unternehmen und des wirtschaftlichsten Angebotes geführt haben und in der ursprünglichen Ausschreibung bekannt gemacht waren.

bb) Die Änderung des Auftrags habe auch nicht das wirtschaftliche Gleichgewicht des vergebenen Auftrags zugunsten des Auftragnehmers in einer Weise verschoben, die im ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehen war (s. Nr. 2). Ausschlaggebend hierfür war u.a., dass es sich um einen Einheitspreisvertrag und nicht um einen Pauschalvertrag handelte. Abgerechnet wurden die nachgewiesenen, tatsächlichen Mengen. Vor diesem Hintergrund bewirke die Änderung keine Verschiebung des wirtschaftlichen Gleichgewichts. Eine Mengenreduzierung habe zur Folge, dass der Einheitspreis in der jeweiligen Position mit einem geringeren Mengenvordersatz multipliziert werde. Folglich sei von einem unveränderten Gleichgewicht auszugehen.

Rechtliche Bewertung

a) Die Vergabekammer entscheidet nachvollziehbar, dass im Rahmen der Statthaftigkeit des Antrages die Frage der Unwirksamkeit gem § 135 Abs. 1 GWB keine der Zulässigkeit des Nachprüfungsantrags darstellt sondern eine der Begründetheit.

b) Ob, wovon die Vergabekammer wohl zunächst ausgeht, im Falle einer Auftragsreduzierung die „de-minimis-Regel“ angewendet werden kann, dürfte streitig sein. Auch ein mögliches – nach Zuschlagserteilung nicht mehr zu heilendes – Unterkostenkostenangebot spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

Dem Wortlaut der Regelung  – so auch die einschlägigen Richtlinienregelungen – ist zu entnehmen, dass es um die Frage geht, ob der Wert einer Auftragsänderung einen bestimmten Wert übersteigt, auf mögliche Unterkosten kommt es nicht an. Maßgeblich für die Beurteilung nach Abs. 3 ist, wie die Vergabekammer selbst feststellt, der ursprüngliche Auftrags- also der mit Zuschlagserteilung vereinbarte Vertragswert.

Für diese Auffassung sprechen die Erwägungsgründe 113 RL 2014/25/EU (Sektorenvergaberichtlinie) sowie 107 RL 2014/24/EU („klassische“ Vergaberichtlinie). Hier ist die Rede davon, dass geringfügige  Änderungen bis zu einer bestimmten „Höhe“ ohne ein neues Vergabeverfahren möglich sein sollten. Gemeint sind Überschreitungen des Wertes der Änderungen gemessen am ursprünglichen Auftragswert. Dass die Vergabekammer ihre Gedanken zu Abs. 3 leider nicht zu Ende führt, hinterlässt eine gewisse Ratlosigkeit.

c) Die vorgenommene Prüfung der in Frage kommenden Regelbeispiele des Abs. 1 S. 3 ist in sich schlüssig. Es wird deutlich, dass im Falle von ausschließlichen Mengenreduzierungen eine vergaberechtlich relevante (wesentliche) Änderung eines Auftrags kaum in Frage kommen dürfte. Vielmehr sind reine Mengenreduzierungen für sich genommen kein vergaberechtlicher Vorgang; denn dadurch wird kein Auftragnehmer besser gestellt (s. Geitel/Jansen in: RKPP, GWB Vergaberecht, § 132 Rn. 45).

Fazit

Die Entscheidung der Vergabekammer ist im Ergebnis zu begrüßen. Die Zulässigkeitsfrage des vergaberechtlichen Rechtsschutzes erfolgt über § 135 Abs. 1 GWB.

Die gewählte Reihenfolge der Kammer, zunächst Abs. 3 und danach Abs. 1 zu prüfen zeigt, dass die bereits zT in der Literatur vorgeschlagene Prüfungsreihenfolge „von hinten nach vorne“ (s. Hans-Peter Müller, a.a.O.; Greb, in: Greb/Müller, Sektorenvergaberecht, § 132 GWB, Rn 13) eine sinnvolle und ökonomische sein kann. Weniger befriedigend ist die offen gelassene Frage, ob neben Auftragserweiterungen auch Auftragsreduzierungen von der „de-minimis-Regel“ des Abs. 3 erfasst werden. Eindeutig erfasst sind diese hingegen bei den Regelbeispielen des Abs. 1 S. 3.

Alles in allem dennoch eine (fast) runde Entscheidung, die im Ergebnis aus hiesiger Sicht zu mehr Rechtssicherheit bei der praktischen Anwendung führen wird.

Anmerkung

Die Entscheidung ist in der 2. Instanz anhängig beim OLG Düsseldorf, Az. Verg 30/21.

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Über Hans-Peter Müller [1]

Der Autor Hans-Peter Müller war über 20 Jahre im für die VO PR Nr. 30/53 federführenden Bundesministerium für Wirtschaft und Energie für deren Inhalt und Anwendung zuständig. Zudem wirkte er maßgeblich im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien 2004 und 2014 in nationales Recht mit. Er ist Mitherausgeber des Standardkommentars „Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller“ zum Preisrecht und er fungierte im April 2016 als Sachverständiger des Bundes vor dem zuständigen Senat des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens zum Preisrecht bei öffentlichen Aufträgen. Mittlerweile ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Kunz Rechtsanwälte, Koblenz/Mainz.

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