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Über die Vergabeplattform versendete Informationsschreiben können die zehntägige Wartefrist gem. § 134 Abs. 2 S. 2 u. 3 GWB in Gang setzen (VK Sachsen, Beschl. v. 28.07.2021 – 1/SVK/043-20)

EntscheidungLösen Informationsschreiben, die über die Vergabeplattform versendet werden, die zehntägige Wartefrist gem. § 134 Abs. 2 S. 2 u. 3 GWB aus? Nachdem die Vergabekammer Südbayern diese Frage im Jahr 2019 in einer Entscheidung verneint hatte, bestand diesbezüglich große Verunsicherung (VK Südbayern, Beschl. v. 29.03.2019 – Z3-3-3194-1-07-03/19).

Zuletzt hatte bereits die Vergabekammer des Saarlandes klargestellt, dass das Versenden von Bieterinformationen über die Vergabeplattform – abhängig von deren konkreten Funktionalitäten – die Voraussetzungen gem. § 134 Abs. 2 S. 2 u. 3 GWB erfüllen kann (VK Saarland, Beschl. v. 22.03.2021 – 1 VK 6/20).

Nunmehr hat auch die Vergabekammer Sachsen entschieden, dass über die Vergabeplattform versendete Informationsschreiben die zehntägige Wartefrist gem. § 134 Abs. 2 S. 2 u. 3 GWB in Gang setzen, sofern bestimmte technische Voraussetzungen erfüllt sind.

§ 126b BGB; § 134 Abs. 2 GWB

Leitsatz

  1. Das Versenden des Informationsschreibens aus dem AI-Vergabemanager löst die Wartefrist des § 134 Abs. 2 Satz 3 GWB von 10 Tagen aus.
  2. Das Bieterpostfach des „AI-Bietercockpits“ und der Bieterbereich der AI-Vergabeplattform gehören zum Machtbereich des Bieters.
  3. Die durch den AI-Vergabemanager versendeten Nachrichten entsprechen dem Textformerfordernis des 134 Abs. 2 GWB i. V. m. § 126b BGB. Sie können sowohl im Bieterbereich der Vergabeplattform als auch im Bietercockpit für einen angemessenen Zeitraum unverändert wiedergegeben werden als auch aufbewahrt, ausgedruckt und gespeichert werden. Der Auftraggeber kann sie nicht nachträglich löschen, verändern oder zurückrufen.
  4. Bei elektronischer Kommunikation liegt eine Absendung dann vor, wenn ohne weiteres Zutun des öffentlichen Auftraggebers unter normalen Umständen mit der Übermittlung der Information an den Adressaten innerhalb des für das konkret verwendeten (elektronischen) Kommunikationsmittels üblichen Zeitraums zu rechnen ist. Entscheidend ist dabei, dass die Nachricht den Machtbereich des Absenders verlässt und so elektronisch in Textform „auf den Weg gebracht“ wird, dass bei regelgerechten Verlauf die Information in den Machtbereich des Empfängers gelangt, sie insbesondere nicht mehr vom Absender nachträglich einseitig verändert oder gelöscht werden kann.

Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb Montageleistungen in einem europaweiten offenen Verfahren aus.

Die spätere Antragstellerin gab fristgerecht ein Angebot ab. Der Auftraggeber schloss dieses Angebot jedoch nach der Eignungsprüfung von der Angebotswertung aus.

Dies teilte der Auftraggeber der späteren Antragstellerin mit Informationsschreiben vom 20. November 2020 mit. Mit diesem Schreiben informierte der Auftraggeber die spätere Antragstellerin zudem darüber, dass der Zuschlag am 1. Dezember 2020 auf das Angebot eines anderen Bieters erteilt werden sollte.

Das Informationsschreiben versendete der Auftraggeber aus dem Vergabemanager der verwendeten E-Vergabe-Lösung der Firma AI Administration Intelligence AG an das Bieterpostfach der späteren Antragstellerin im Bieterbereich der Vergabeplattform. Darüber hinaus ging die Nachricht auch in dem Bieterpostfach des von der späteren Antragstellerin lokal installierten Bietercockpits ein. Bei der verwendeten Vergabeplattform wird die Nachricht durch das Absenden unwiderruflich „auf den Weg“ gebracht. Der Auftraggeber kann die Nachricht nicht nachträglich ändern oder löschen.

Die über den Vergabemanager versandten Nachrichten werden im Bieterbereich auf der Vergabeplattform dargestellt und können dort von den Bietern eingesehen und heruntergeladen werden. Die Bieter haben nach einer entsprechenden Registrierung und dem Einloggen in ihren persönlichen und kennwortgeschützten Bieterbereich Zugriff auf die Nachrichten. Sind neue Nachrichten vorhanden, wird dies ähnlich wie bei anderen Benutzerkonten angezeigt. Auf den kennwortgeschützten Bieterbereich der Vergabeplattform hat der Auftraggeber keinen Zugriff.

Kurz nach Eingang der Nachricht im Bieterpostfach erhalten die Bieter zudem eine automatisch generierte E-Mail an die im Vergabeverfahren angegebene E-Mail- Adresse, wonach im Bieterpostfach bzw. auf der Vergabeplattform neu eingestellte Informationen zum Vergabeverfahren vorhanden sind.

Nach erfolgloser Rüge der späteren Antragstellerin erteilte der Auftraggeber am 1. Dezember 2020 den Zuschlag.

Die Antragstellerin stellte daraufhin am 2. Dezember 2020 einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer Sachsen. Sie begründete den Antrag unter anderem damit, dass der Auftraggeber den Zuschlag nicht bereits am 1. Dezember 2020 hätte erteilen dürfen, da die Versendung des Informationsschreibens am 20. November 2020 über die Vergabeplattform nicht die zehntägige Wartefrist gem. § 134 Abs. 2 S. 2 u. 3 GWB in Gang gesetzt habe. Die Bieterinformation hätte vielmehr direkt an den Bieter versendet werden müssen, was bei einer Versendung über die Vergabeplattform nicht der Fall sei.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag als unzulässig zurück, da der Auftraggeber den Zuschlag bereits wirksam erteilt hatte, bevor die Antragstellerin den Nachprüfungsantrag gestellt hatte. Die Versendung des Informationsschreibens über die Vergabeplattform hatte nach Ansicht der Vergabekammer die zehntägige Frist gem. § 134 Abs. 2 S. 2 u. 3 GWB ausgelöst.

1. Das Textformerfordernis ist gewahrt

Die Vergabekammer arbeitete zunächst heraus, dass das über die Vergabeplattform versendete Informationsschreiben den Anforderungen an die Textform gem. § 134 Abs. 2 GWB i.V.m. § 126b BGB genügte.

Voraussetzung hierfür ist die Abgabe einer lesbaren Erklärung, in der die Person des Erklärenden genannt ist, auf einem dauerhaften Datenträger (§ 126b BGB).

Diese Anforderungen waren aus Sicht der Vergabekammer gewahrt. Maßgeblich hierfür war unter anderem, dass bei dem in dem Vergabeverfahren verwendeten technischen System Nachrichten auf einem dauerhaften Datenträger abgegeben werden, denn die Nachricht konnte aufbewahrt, ausgedruckt und gespeichert werden. Es ist sichergestellt, dass der Auftraggeber einmal versendete Nachrichten nicht nachträglich ändern oder löschen kann.

2. Die Anforderungen an eine Absendung im Sinne des § 134 Abs. 2 S. 3 GWB sind erfüllt

Darüber hinaus lag in der Versendung des Informationsschreibens über die Vergabeplattform nach Ansicht der Vergabekammer auch eine Absendung im Sinne des § 134 Abs. 2 S. 3 GWB.

Bei der elektronischen Kommunikation ist für das Absenden maßgeblich, dass die Nachricht den Machtbereich des Absenders verlässt und so elektronisch in Textform „auf den Weg gebracht“ wird, dass bei regelgerechtem Verlauf die Information in den Machtbereich des Empfängers gelangt, sie also insbesondere nicht mehr vom Absender einseitig verändert oder gelöscht werden kann (vgl. auch VK Saarland, Beschl. v. 22.03.2021 – 1 VK 6/20).

Bei der in diesem Vergabeverfahren verwendeten Vergabeplattform war nach Ansicht der Vergabekammer bereits durch das Absenden der Nachricht aus dem Vergabemanager des Auftraggebers – konkret durch die Betätigung des „Sende-Buttons“ – damit zu rechnen, dass diese bei regelgerechtem Verlauf in den Machtbereich des Empfängers gelangt.

Der Bieterbereich der Vergabeplattform sowie das Postfach des „AI-Bietercockpits“ gehören aus Sicht der Vergabekammer zum Machtbereich des Bieters.  Sofern ein Bieter sich einen Account auf einer E-Vergabeplattform durch Registrierung anlegt, bestimmt er damit auch, dass dieses Postfach für den Empfang von Erklärungen an ihn genutzt werden kann. Das Bietercockpit gehört nach Auffassung der Vergabekammer ebenfalls zum Machtbereich des Bieters, da es aufgrund seiner technischen Ausgestaltung und Funktionsweise mit dem Versand bzw. dem Erhalt einer E-Mail verglichen werden kann.

Rechtliche Würdigung

Die Entscheidung der Vergabekammer Sachsen erhöht die Rechtssicherheit der Versendung von Informationsschreiben über die Vergabeplattform.

Die Vergabekammer Südbayern hatte im Jahr 2019 entschieden, dass die Versendung von Informationsschreiben über die Vergabeplattform nicht den Anforderungen gem. § 134 Abs. 2 S. 2 u. 3 GWB entsprach und somit nicht die zehntägige Wartefrist auslöste (VK Südbayern, Beschl. v. 29.03.2019 – Z3-3-3194-1-07-03/19). Zu beachten ist insoweit, dass in dem von der Vergabekammer Südbayern zu entscheidenden Fall eine andere Vergabeplattform genutzt wurde, die abweichende technische Funktionalitäten aufwies. Die Vergabekammer Südbayern hatte ihre Entscheidung zudem unter anderem mit einem Vergleich zur Rechtslage im Verbraucherschutzrecht begründet.

Zuletzt hatte allerdings bereits die Vergabekammer des Saarlandes entschieden, dass die Versendung der Bieterinformation über die Vergabeplattform die zehntägige Frist gem. § 134 Abs. 2 S. 2 GWB auslösen kann (VK Saarland, Beschl. v. 22.03.2021 – 1 VK 6/20). Die Entscheidung betraf die Vergabeplattform dtvp. Die maßgeblichen Funktionalitäten der Vergabeplattform waren mit den Funktionalitäten der Vergabeplattform vergleichbar, über welche die Vergabekammer Sachsen in der hier dargestellten Entscheidung zu entscheiden hatte.

Die Vergabekammer Sachsen arbeitet in der hier dargestellten Entscheidung insbesondere überzeugend heraus, dass Bieter mit der Erstellung eines Accounts auf einer Vergabeplattform einen Machtbereich eröffnen. In Bezug auf die Entscheidung der Vergabekammer Südbayern merkt die Vergabekammer Sachsen zwar an, dass es sich um eine andere technische Lösung gehandelt habe. So erhielten die Bieter bei dieser Vergabeplattform keine zeitnahe Benachrichtigung per E-Mail, dass sich eine neue Nachricht im Bieterpostfach der Vergabeplattform befindet.  Die Vergabekammer Sachsen weist jedoch ungeachtet dessen darauf hin, dass die Erwägungen der Vergabekammer Südbayern zum Verbraucherschutzrecht nicht auf das Vergaberecht übertragbar sind (so auch VK Westfalen, Beschl. v. 31.03.2021 – VK 1-9/21).

Praxistipp

Dieser Beschluss der Vergabekammer Sachsen erhöht nach der bereits wenige Monate zuvor ergangenen Entscheidung der Vergabekammer des Saarlandes weiter die Rechtssicherheit des Versendens der Informationsschreiben über die Vergabeplattform. Auftraggeber sollten sicherstellen, dass die Funktionalitäten der verwendeten Vergabeplattform mit der Funktionsweise der Plattformen vergleichbar sind, zu denen die Entscheidungen der Vergabekammer Sachsen sowie der Vergabekammer des Saarlandes ergingen. Ergeben sich insoweit Unsicherheiten, sollten Auftraggeber die Bieterinformationen sicherheitshalber nicht nur über die Vergabeplattform, sondern zusätzlich per E-Mail oder Fax versenden.

Aus Sicht der Bieter verdeutlicht die Entscheidung, dass die Kommunikation über die Vergabeplattform unbedingt ernst genommen werden muss. So hat beispielsweise auch die Vergabekammer Westfalen jüngst entschieden, dass das Einstellen einer Nachricht über die Nachforderung von Unterlagen in das Postfach eines Bieters auf einer Vergabeplattform (dort Subreport ELVIS) als Zugang gilt. Auch die Vergabekammer Westfalen ist somit der Ansicht, dass der Bieterbereich der Vergabeplattform zum Machtbereich des Bieters gehört (VK Westfalen, Beschl. v. 31.03.2021 – VK 1-9/21).

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Über Lars Lange, LL.M. (Kopenhagen) [1]

Der Autor Lars Lange ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht.

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