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Die Janusköpfigkeit von Mindestumsätzen als Eignungsnachweis – Lehnt der EuGH die deutsche Spruchpraxis ab? (EuGH, Urt. v. 07.09.2021 – C-927/19 Ecoservice)

Entscheidung-EUDas EU-Vergaberecht unterscheidet drei Eignungskriterien: (1.) die Befähigung und Erlaubnis zur Berufsausübung, (2.) die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit und (3.) die technische und berufliche Leistungsfähigkeit. Wenn von Unternehmen bestimmte Eignungsmerkmale gefordert werden sollen, dann müssen diese vom öffentlichen Auftraggeber den Eignungskriterien zwingend zugeordnet werden. Da die Eignungskriterien unterschiedliche Inhalte und verschiedene Anforderungen an ihren Nachweis festlegen, kommt der richtigen Einordnung eine hohe praktische Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang wirft die Forderung nach bestimmten Mindestumsätzen besondere Fragen auf.

§ 122 Abs. 2 GWB; §§ 45 Abs. 1, 4 und 5 VgV; Art. 58 Abs. 3, 60 Abs. 3 RL 2014/24/EU

Leitsatz

Geforderte Umsatznachweise im Tätigkeitsbereich des zu vergebenden Auftrages verfolgen – anders als Gesamtumsätze – den doppelten Zweck sowohl die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit als auch die technische und berufliche Leistungsfähigkeit festzustellen.

Sachverhalt

Ein litauischer Auftraggeber schrieb die Sammlung und den Transport von Siedlungsabfällen im offenen Verfahren aus. In der Auftragsbekanntmachung war festgelegt, dass jeder Bieter einen durchschnittlichen Jahresumsatz für Sammlung und Transport von Siedlungsabfällen im Umfang von mindestens 200.000 Euro nachweisen musste. Der nichtberücksichtigte Bieter Ecoservice monierte, dass die für den Zuschlag vorgesehene Bietergemeinschaft (BiGe) den geforderten Mindestumsatz nicht nachweisen könne. Insbesondere seien die von einem BiGe-Mitglied angegebenen Umsätze nicht zu berücksichtigen, weil sie entweder aus Verträgen stammen, bei denen die Sammlungs- und Transportleistungen von anderen Unternehmen einer früheren Arbeitsgemeinschaft (ARGE) erbracht wurden. Oder die Umsätze wurden aus solchen Verträgen erzielt, bei denen die Abfalldienstleistungen zwar von dem BiGe-Mitglied erfüllt wurden, aber nur einen sehr geringen Teil ausgemacht haben.

Die Luxemburger Richter mussten nun die Frage beantworten, ob für einen geforderten Mindestumsatz im Tätigkeitsbereich des Auftrages nur Erlöse einer früheren ARGE gezählt werden dürfen, bei denen das BiGe-Mitglied die Sammlungs- und Transportleistungen auch tatsächlich selbst erbracht hat, um die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit nachzuweisen.

Die Entscheidung

Zum Nachweis der erforderlichen wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit kann ein Mindestjahresumsatz oder ein Mindestumsatz in dem Tätigkeitsbereich des zu vergebenden Auftrages oder eine Kombination von beiden verlangt werden (Rdnr. 76). Wenn ausschließlich ein Mindestjahresumsatz gefordert wird, dann kann ein Bieter auch Umsätze einer früheren ARGE angeben, selbst wenn er damals der ARGE nur angehörte, ohne tatsächlich selbst Tätigkeiten des zu vergebenden Auftrages erbracht zu haben (Rdnr. 77).

Wird hingegen ein Mindestumsatz im Tätigkeitsbereich des zu vergebenden Auftrages gefordert, dann wird ein doppelter Zweck verfolgt. Einerseits wird damit die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit, andererseits die technische und berufliche Leistungsfähigkeit festgestellt. Dann sind beide Eignungskriterien dem Unternehmen als natürliche oder juristische Person eigen und ausschließlich (Rdnr. 78).

Im letztgenannten Fall kann sich deshalb ein Unternehmen nur dann auf Umsätze einer früheren ARGE berufen, wenn es als ARGE-Mitglied tatsächlich selbst die Tätigkeiten des zu vergebenden Auftrages erbracht hat (Rdnr. 79). Wenn sich ein Unternehmer auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit einer ARGE beruft, an der er beteiligt war, muss die ARGE im Verhältnis zu der konkreten Beteiligung dieses Unternehmens und damit seinem tatsächlichen Beitrag zur Ausführung einer von dieser ARGE im Rahmen eines öffentlichen Auftrages verlangten Tätigkeit beurteilt werden (Rdnr. 80). Der Umsatz ist folglich darauf zu beschränken, der sich auf den tatsächlichen Beitrag des Unternehmens zu einer von einer ARGE im Rahmen eines früheren öffentlichen Auftrages verlangten Tätigkeit bezieht (Rdnr. 81).

Rechtliche Würdigung

Art. 58 Abs. 3 Unterabs. 1 Satz 2 RL 2014/24/EU stellt die europarechtliche Grundlage für die Forderung eines bestimmten Mindestjahresumsatz dar. Dies schließt die Möglichkeit eines bestimmten Mindestjahresumsatzes in dem vom ausgeschriebenen Auftrag abgedeckten Bereich ein. In Deutschland sind beide Möglichkeiten hauptsächlich in § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VgV (bzw. § 6a EU Nr. 2 Buchst. c Satz 2 VOB/A) umgesetzt. Zu unterscheiden sind demnach die Forderung nach Angabe eines Mindestjahresumsatzes, der das Unternehmen insgesamt betrifft (Gesamtumsatz), und das Verlangen nach einem auftragsgegenständlichen Mindestjahresumsatz (Spartenumsatz).

Das Urteil der Luxemburger Richter ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen soll der auftragsgegenständliche Mindestumsatz auch zum Nachweis des Eignungskriteriums der technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit dienen. Dies irritiert auf den ersten Blick. Denn nach dem Normtext belegen Umsatzangaben allein die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit (z.B. Brandenburgisches OLG, Beschl. v. 09.02.2010 – Verg W 10/09; OLG Koblenz, Beschl. v. 25.09.2012 – 1 Verg 5/12; anders wohl OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.11.2001 – Verg 33/01). Allerdings zeigt die zwecks Nachweises der technischen und beruflichen Leistungsfähigkeit denkbare Forderung von Referenzen mit Wertangaben, dass sich beide Eignungskriterien überschneiden können. Das Verlangen eines auftragsgegenständlichen Mindestumsatzes ist deshalb janusköpfig. Der Luxemburger Richterspruch ist also nachvollziehbar, dass für den Spartenumsatz nur Erlöse berücksichtigt werden dürfen, die das Unternehmen auch tatsächlich selbst, etwa im Rahmen einer früheren ARGE, erbracht hat.

Zum anderen lassen die Urteilsgründe darauf schließen, dass bei der Forderung eines Gesamtumsatzes, der ausschließlich die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit nachweist, auch die Umsätze der ARGE insgesamt berücksichtigt werden dürfen, an der ein Unternehmer früher beteiligt war (vgl. Rdnr. 77). Zum Beleg seiner wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit müsste der Unternehmer gerade nicht die auftragsgegenständlichen Leistungen erbracht haben. Die Luxemburger Richter scheinen also nicht nur den selbst ausgeführten Umsatzanteil des Gesamtauftrages berücksichtigen zu wollen, sondern den von der ARGE insgesamt erzielten Umsatz. Die verhältnismäßige Berücksichtigung des Umsatzbeitrages eines Mitglieds an einer ARGE scheint der EuGH – unter Hinweis auf seine Esaprojekt-Entscheidung (Urt. v. 04.05.2017 – C-387/14) – beim Gesamtumsatz gerade nicht befürworten zu wollen. Dies würde der bislang herrschenden Rechtsmeinung zuwiderlaufen (vgl. etwa OLG München, Beschl. v. 15.03.2012 – Verg 2/12). Sie rechnet die in einer ARGE erbrachten Leistungen nur mit dem erbrachten Eigenanteil beim Umsatz an. Die Thematik der Eignungsleihe hat der EuGH insoweit leider nicht erörtert.

Praxistipp

Öffentliche Auftraggeber sollten genau ermessen, ob die Forderung eines gesamt- oder spartenbezogenen Mindestjahresumsatzes sinnvoll und verhältnismäßig sein kann. Zum einen ist die Aussagekraft von Umsätzen ohnehin recht begrenzt (OLG Koblenz, Beschl. v. 19.01.2015 – Verg 6/14). Zum anderen müssen Vergabestellen die Eignung nicht anhand eines bestimmten Mindestjahresumsatz überprüfen. Häufig wird der Nachweis eines Mindestumsatzes nicht weiter erforderlich sein. Denn der Sinn eines bestimmten Mindestumsatzes, dass ein Unternehmen in der Vergangenheit Aufträge dieses Volumens bewältigen konnte, um auf eine gewisse Erfahrung mit Aufträgen der ausgeschriebenen Größenordnung zu schließen, lässt sich regelmäßig auch mit geeigneten Referenzen erreichen.

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Über Holger Schröder [1]

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht Holger Schröder verantwortet als Partner bei Rödl & Partner [2] in Nürnberg den Bereich der vergaberechtlichen Beratung. Er betreut seit vielen Jahren zahlreiche Verfahren öffentlicher Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber zur Beschaffung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen von der Bekanntmachung bis zur Zuschlagserteilung. Er ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen und und referiert regelmäßig zu vergaberechtlichen Themen. Herr Schröder ist Lehrbeauftragter für Vergaberecht an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen und ständiges Mitglied im gemeinsamen Prüfungsausschuss "Fachanwalt für Vergaberecht" der Rechtsanwaltskammern Nürnberg und Bamberg.

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