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Gemeinsam dreisam (OLG München, Beschl. v. 09.03.2020 – Verg 27/19)

EntscheidungDas Münchener Oberlandesgericht entschied im März 2020 einen Fall aus dem Sektorenvergaberecht, bei dem sich mehrere Auftraggeber (Übertragungsnetzbetreiber) zusammengetan hatten, um „besondere netztechnische Betriebsmittel“ auszuschreiben. Besonders an diesem Fall war, dass zwei der ausschreibenden Auftraggeber dem Sektorenvergaberecht unterworfen waren, während der dritte im Bunde keinerlei vergaberechtlichen Verpflichtungen unterlag. Der Vertragsschluss sollte mit demjenigen Auftraggeber erfolgen, in dessen Übertragungsnetzbereich sich der vom Bieter laut Ausschreibung zu wählende Anschlusspunkt befand.

Sachverhalt

Stromnetzbetreiber halten „besondere netztechnische Betriebsmittel“ vor, um die Stromversorgung bei deren Ausfall im Übertragungsnetz wieder herzustellen. Mit dem Betrieb solcher Betriebsmittel sind gemäß § 11 Abs. 3 EnWG Dritte zu beauftragen. Regelmäßig handelt es sich bei diesen Betriebsmitteln um Kraftwerke, die im Falle eines Versorgungsausfalls die Versorgung übernehmen.

Die Übertragungsnetzbetreiber X, Y, und Z schrieben die Beschaffung solcher Betriebsmittel für ihre Netzbereiche aus. Während X und Z unstreitig Sektorenauftraggeber i.S.d. § 100 GWB waren, war Y kein Sektorenauftraggeber.

Die Ausschreibung

Die Ausschreibung betraf eine Gesamtleistung von 1200 MW, aufgeteilt in 4 Losgruppen (A – D) mit 12 Losen von jeweils 100 MW. Zulässigerweise fand die Ausschreibung in einem Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 SektVO statt.

Die allein streitige Losgruppe A sollte wie folgt vergeben werden:

Nach Wahl des Bieters sollte der Anschluss des Betriebsmittels an jedem einer Anzahl von Anschlusspunkten möglich sein, die über die Netzbereiche der drei Netzbetreiber verteilt sind. Während die Ausschreibungsbedingungen und die Angebotswertungen koordiniert wurden, erfolgten die Ausschreibungen separat durch die jeweiligen Übertragungsnetzbetreiber. Entsprechend war das Angebot nach Wahl des Bieters bei dem Netzbetreiber einzureichen, in dessen Netzbereich der Anschluss erfolgen sollte. Die bei den unterschiedlichen Auftraggebern eingereichten Angebote schlossen sich gegenseitig aus.

Die Antragstellerin gab ein Angebot für die gesamte Losgruppe A ab. Dabei entschied sie sich für einen Anschluss an das Netz des Y. Die weitere Bieterin der Losgruppe A entschied sich für einen Anschluss an das Netz des X und reichte ihr Angebot dementsprechend bei X ein.

Y schloss nach Prüfung das Angebot der Antragstellerin mit der Begründung aus, sie habe unzulässige Änderungen an den Vergabeunterlagen vorgenommen, wodurch das Angebot nicht mehr den Ausschreibungsbedingungen entspreche. Eine gegenüber X, Y und Z ausgesprochene Rüge wiesen alle drei Auftraggeber als unzutreffend zurück.

Die Nachprüfung

Die zuständige Vergabekammer verwarf den Nachprüfungsantrag mit der Begründung, es sei kein Vergaberechtsschutz gegeben, weil Y kein Sektorenauftraggeber i.S.d. § 100 GWB und X sowie Z nicht passivlegitimiert seien.

Die Antragstellerin erhob die sofortige Beschwerde beim OLG München. Da X beabsichtigte, dem Angebot der weiteren Bieterin den Zuschlag zu erteilen, sprach das OLG München antragsgemäß die aufschiebende Wirkung der Beschwerde aus (§ 173 Abs. 1 S. 3 GWB). Schließlich gab das OLG der Beschwerde statt und stellte fest, dass der Ausschluss des Angebots der Antragstellerin rechtswidrig war.

Die Antragsgegnerinnen X, Y, und Z wurden dazu verpflichtet, bei Fortbestehen der Beschaffungsabsicht das Vergabeverfahren in den Stand vor dem Ausschluss des Erstangebots der Antragstellerin zurückzuversetzen und bei erneuter Durchführung der Rechtsauffassung des Vergabesenats zu berücksichtigen.

Problemstellung

Der Vergabesenat hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, ob einem Bieter, der ein Angebot bei einem Auftraggeber einreicht, welcher keinen Vergaberegeln unterworfen ist, dennoch vergaberechtlicher Rechtsschutz zu gewähren und der Vergaberechtsweg gemäß § 155 GWB zu eröffnen ist. Schwerpunkt war demnach die Zulässigkeit der Nachprüfung.

Die Besonderheit des Verfahrens lag darin, dass es drei potenzielle Auftragsalternativen (Vertragsschluss nach Wahl des Bieters entweder mit X, Y oder Z) gab, die sich gegenseitig ausschlossen, gleichwohl aber die zu beschaffende Leistung einen einheitlichen Bedarf aller drei Auftraggeber zu decken hatte. Deshalb war die Ausschreibung bewusst so konzipiert, dass sie einheitliche Bedingungen für die Vergabe des Vertrages festlegte und eine einheitliche Willensbildung stattfand.

Die materielle Frage der Begründetheit betraf die Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Ausschlusses wegen unzulässiger Änderungen an den Vergabeunterlagen. Hier hatte der Vergabesenat zu klären, ob und inwieweit die Vergabeunterlagen dem vergaberechtlichen Gebot der Klarheit und Bestimmtheit entsprachen.

Inhalt der Entscheidung

a) Eröffnung des Vergaberechtsweges

Das OLG München sah den Vergaberechtsweg als eröffnet an. X, Y und Z seien alle drei als Sektorenauftraggeber zu behandeln. Dies gelte insbesondere auch für Y. Grundsätzlich unterfalle Y zwar nicht dem Sektorenvergaberecht, doch sei der vorliegende Fall von einer derartigen Besonderheit geprägt, dass eine Behandlung als Sektorenauftraggeber geboten sei.

Da sich die drei Auftragsalternativen gegenseitig ausschlössen, sei eine getrennte Beurteilung nicht möglich, zumal auch ein einheitlicher Bedarf abgedeckt werden solle. Dieses Ineinandergreifen gebiete es, sämtliche als Auftraggeber in Betracht kommende Beteiligten einheitlich als Normadressaten des Sektorenvergaberechts anzusehen. Würde nicht auch Y als Normadressat behandelt, hätte etwa ein Bieter, dessen Angebot gegenüber X (unzweifelhaft auf einen öffentlichen Auftrag gerichtet) nicht zum Zuge käme keine Möglichkeit, vergaberechtlichen Primärrechtsschutz gegen die drohende Zuschlagserteilung durch Y zu erlangen.

Dies zeige, so das OLG München, dass dann, wenn sich ein Sektorenauftraggeber entscheidet, die Möglichkeit einer dem Sektorenvergaberecht unterliegenden Bedarfsdeckung in der hier geschehenen Weise einem Dritten zu übertragen, der nicht Sektorenauftraggeber ist, dem europäischen und nationalen Vergaberecht nur wirksam Geltung verschafft werden kann, (effet utile), wenn der Dritte ebenfalls als Sektorenauftraggeber behandelt wird. In dieser besonderen Gestaltung verlagere sich die Schnittstelle zum Vergaberecht auf den Dritten (vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15. Juli 2015 – VII Verg 11/15).

b) Antragsbefugnis gem. § 160 Abs. 2 S. 1 GWB

Auch die Antragsbefugnis sah das Gericht als gegeben. Zwar ging es der Antragstellerin nicht darum, den Auftrag von X zu erlangen, sondern den von Y, gleichwohl erkannte das OLG München das „Interesse am Auftrag“ infolge der hier vorliegenden besonderen Konstellation (s.o.) an. Würde nämlich der Antragstellering das erforderliche Interesse am Auftrag abgesprochen, wäre ihr der vergaberechtliche Primärrechtsschutz vollständig verweigert. Wegen dessen spezialgesetzlichen Vorrangs könnte sie auch nicht vor den Zivilgerichten gegen die Antragsgegnerin X vorgehen. Dies würde der allgemeinen Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zuwiderlaufen. Deshalb seien die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 GWB in einer Weise auszulegen, die den betroffenen Unternehmen einen effektiven Rechtsschutz gewährleisten. Der Begriff des Interesses sei daher weit auszulegen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29. Juli 2004 – 2 BvR 2248/03).

c) Begründetheit

Der Ausschluss war auch vergaberechtswidrig. Auch wenn § 51 SektVO keine entsprechende Regelung enthält, können Angebote ausgeschlossen werden, die Änderungen an den Vergabeunterlagen enthalten (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 30. April 2014 – VII-Verg 35/13). Allerdings stellte das Gericht Unklarheiten in den Vergabeunterlagen fest. Diese stehen – so das Gericht – einem Ausschluss entgegen. Vergabeunterlagen seien klar und eindeutig zu formulieren und Widersprüche zu vermeiden (vgl. u.a. BGH, Urt: v. 18. Juni 2019 – X ZR 86/17). Mängel an den Vergabeunterlagen gehen daher zu Lasten des Auftraggebers.

Das Vergabeverfahren wurde wegen der Rechtswidrigkeit des Angebotsausschlusses der Antragstellerin in den Stand davor zurückversetzt.

Rechtliche Würdigung

Die betroffenen Auftraggeber, von denen zwei an das europäische Vergaberecht gebunden waren, hatten für die Bedarfsdeckung eine „Auftraggebergemeinschaft“ gebildet und ein gemeinsames Verfahren zur Auftragsvergabe gewählt. Koordiniert wurden vor allem die Ausschreibungsbedingungen sowie das Auswahlverfahren des wirtschaftlichsten Angebots. Keine Berücksichtigung fand in den Überlegungen der Auftraggeber die Tatsache, dass ein wesentlicher Auslegungsgrundsatz des europäischen Rechts dessen optimale Wirkungskraft (effet utile) ist und ihm deshalb eine weitreichende Geltung zukommt.

Richtigerweise hat das OLG München vorliegend die besondere Konstellation der sich gegenseitig ausschließenden Angebote im Sinne des europäischen Vergaberechts bewertet und den Nicht-Sektorenauftraggeber dennoch wie einen Sektorenauftraggeber behandelt und somit den Vergaberechtsweg eröffnet.

Konsequent bejahte das Gericht dann auch die die Antragsbefugnis begründende Voraussetzung des Interesses am Auftrag. Um ein der allgemeinen Rechtsschutzgarantie zuwiderlaufendes Ergebnis zu vermeiden stellte das Gericht darauf ab, dass die beanstandete Auftragsvergabe zwangsläufig die Aussicht der Antragstellerin vereitelt, von Y beauftragt zu werden und sah dieses als ausreichendes Interesse i.S.d. § 160 Abs. 2 GWB an.

Das OLG München hat einmal mehr klargestellt, dass am europäischen Vergaberecht nur wenige Wege vorbeiführen. Jedenfalls ein Zusammengehen lediglich zur Verfahrens- und Zuschlagskoordinierung mit einem nicht öffentlichen/Sektorenauftraggeber zur Deckung eines gemeinschaftlichen Bedarfs reicht hierzu nicht aus. Im Gegenteil. Das europäische Vergaberecht verlangt aufgrund des Grundsatzes des effet utile auch hier größtmögliche Geltung ebenso wie die allgemeine Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Damit ist der „Flucht aus dem Vergaberecht“ ein weiterer Riegel vorgeschoben.

Eine Betrachtung des Streitfalls nach den Vorschriften der §§ 110 ff. GWB kam nicht in Betracht. Diese setzen voraus, dass es sich um die Vergabe öffentlicher Aufträge handelt und es sich bei allen Auftraggebern somit tatbestandlich um Sektorenauftraggeber i.S.d. § 100 GWB hätte handeln müssen.

Gleiches gilt für die Vorschriften der gelegentlichen gemeinsamen Auftragsvergabe nach § 4 SektVO. Auch hier geht es um „öffentliche Aufträge“, zu deren Entstehen das tatbestandliche Vorhandensein eines Sektorenauftraggebers i.S.d. § 100 GWB verlangt wird.

Das Verlangen klarer, eindeutiger und Widersprüche vermeidender Vergabeunterlagen ist ständige Rechtsprechung. Ebenso, dass Mängel an den Vergabeunterlagen zu Lasten des Auftraggebers gehen. Auch wenn § 51 SektVO keine entsprechende Regelung enthält (im Gegensatz dazu: § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV), gilt dies ebenso im Sektorenvergaberecht, so richtigerweise bestätigend, das OLG München.

Praxistipps

– Die Gestaltung von Vergabeverfahren durch mehrere Auftraggeber kann sehr komplex sein – erst recht, wenn das Vergaberecht nicht für alle Auftraggeber gelichermaßen gilt – und bedarf daher sorgfältiger Ausgestaltung

– Im Zweifel greift der Grundsatz des effet utile, der regelmäßig zur Anwendbarkeit des Vergaberechts führt

– Von einer getrennten Bezuschlagung sich gegenseitig ausschließender Angebote ist abzuraten

– Vergabeunterlagen müssen den Willen des Auftraggebers zweifelsfrei erkennen lassen

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Über Hans-Peter Müller [1]

Der Autor Hans-Peter Müller war über 20 Jahre im für die VO PR Nr. 30/53 federführenden Bundesministerium für Wirtschaft und Energie für deren Inhalt und Anwendung zuständig. Zudem wirkte er maßgeblich im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien 2004 und 2014 in nationales Recht mit. Er ist Mitherausgeber des Standardkommentars „Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller“ zum Preisrecht und er fungierte im April 2016 als Sachverständiger des Bundes vor dem zuständigen Senat des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens zum Preisrecht bei öffentlichen Aufträgen. Mittlerweile ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Kunz Rechtsanwälte, Koblenz/Mainz.

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