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Vermutet, geschätzt, üblich – die neuen Preise bei öffentlichen Aufträgen

Face-Lift der Verordnung PR Nr. 30/53 über die Preise bei öffentlichen Aufträgen – Nachdem die Verordnung PR Nr. 30/53 über die Preise bei öffentlichen Aufträgen (VO PR Nr. 30/53) nahezu 70 Jahre unverändert überstand, wurde sie nun einem „Face-Lift“ unterzogen. Während der die Verordnung prägende Marktpreisbegriff zunächst an die jüngste höchstrichterliche Rechtsprechung angepasst wurde, erfuhren dessen Voraussetzungen eine Ergänzung durch eine Vermutungsregelung. Die Bestimmungen über die Preisprüfung wurden deutlich ausgeweitet. So ist eine Regelung zur Schätzung von Kosten vorgesehen. Erwähnenswert ist auch die zukünftige Möglichkeit, den üblichen Gewinnzuschlag im Rahmen öffentlicher Aufträge vorzusehen.

In Ergänzung zu den gelungenen Darstellungen auf [1](Michael Singer, „Reform“ der VO PR Nr. 30/53 verabschiedet und veröffentlicht) soll der folgende Beitrag v.a. die wesentlichen Anpassungen in den §§ 4 u. 9 sowie der Nr. 52 LSP vertieft beleuchten.

Hintergrund

„Gut Ding will Weile haben“, könnte man den Erneuerungsprozess, der zur zumindest stellenweisen Anpassung der VO PR Nr. 30/53 an die Entwicklungen im Steuer-, Bilanz- und Handelsrecht, nicht zuletzt aber im Vergaberecht und die höchstrichterliche Rechtsprechung aus dem Jahre 2016 bezeichnen.

Während die genannten Rechtsgebiete sich in den letzten Jahrzehnten teilweise sprunghaft veränderten und an neue Rahmenbedingungen angepasst wurden, fristete das Preisrecht bei öffentlichen Aufträgen sein beschauliches Dasein in einer fast unscheinbaren Nische. Zwar waren die Urheber des Regelwerkes weitsichtig genug, die Vorschriften so abstrakt zu fassen, dass nahezu alle ökonomisch und rechtlich relevanten Veränderungen der Jahrzehnte nahezu problemlos von der Verordnung absorbiert werden konnten, doch spätestens seit der Vorlage des Gutachtens über die Bedeutung der VO PR Nr. 30/53 von Prof. Dr. Dörr (Universität Osnabrück) und Prof. Dr. Hoffjan (Universität Dortmund) im März 2015 an das Bundeswirtschaftsministerium sowie der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom April 2016 (BVerwG – C 2.15, Urteil v. 13. April 2016) war die Zeit für eine Anpassung gekommen.

Der Anpassung voran gingen ein vom zuständigen Bundesministerium für Wirtschaft und Energie durchgeführter Konsultationsprozess unter den Beteiligten Anwenderkreisen (Preisbildungs- und Preisüberwachungsbehörden der Länder, Bund-Länder-Ausschuss, öffentliche Auftraggeber, Wirtschafts- und Kommunalverbände) und die Diskussion der Ergebnisse des Konsultationsprozesses in einer eigens dafür eingerichteten Arbeitsgruppe.

Am 05. November 2021 war es dann soweit. Der Bundesrat beschloss mit Drucksache 732/21 [2] (Beschluss) die Dritte Verordnung zur Änderung der Verordnung PR Nr. 30/53 über die Preise bei öffentlichen Aufträgen, die im BGBl I Nr. 80, S. 4968 vom 30. November 2021 bekanntgegeben wurde und danach zum 01.04.2022 in Kraft tritt.

Die wesentlichen Änderungen im Einzelnen

§ 4 – Preise für marktgängig Leistungen

Zunächst wird der Begriff der Marktgängigkeit der Leistung legaldefiniert. Hierzu übernimmt die Verordnung die bereits in der Literatur vertretene Unterscheidung zwischen allgemeinem und besonderem Markt (Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller, Preise und Preisprüfungen bei öffentlichen Aufträgen, § 4 Rn. 9 ff., Rn. 40).

Diese Übernahme war überfällig. Da der öffentliche Auftraggeber bei seiner Beschaffung an das Vergaberecht gebunden ist, ist er stets verpflichtet, durch die Einleitung eines Vergabeverfahrens einen „besonderen Markt“ zu schaffen, auf dem er die Leistung durch Zuschlagserteilung auf das wirtschaftlichste Angebot beschafft. Nur dann, wenn der öffentliche Auftraggeber keinen besonderen Markt schafft, findet sein Einkauf auf dem allgemeinen Markt statt. Preisrechtlich gesehen stellt also der allgemeine Markt das Gegenstück zum besonderen Markt dar. Es ist preisrechtlich übrigens irrelevant, aus welchen Gründen der öffentliche Auftraggeber keinen besonderen Markt schafft und somit seinen Einkauf auf dem allgemeinen Markt vollzieht. Das Preisrecht ist nicht Hüter des Vergaberechts!

Ein neuer Absatz 2 legt nun fest, dass eine Leistung sowohl auf dem allgemeinen als auch auf dem besonderen Markt marktgängig sein kann. Voraussetzung ist in beiden Fällen, dass der Wettbewerb funktioniert und eine wettbewerbliche Preisbildung ermöglicht ist. Hierzu wird für den besonderen Markt das Vorliegen von mindestens zwei zuschlagsfähigen Angeboten gefordert.

Ausweislich der Verordnungsbegründung (BRat Drs. 732/21 v. 22.09.2021) genügt das bloße Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage auf dem Markt (gleichzeitiges Anbieter- und Nachfragemonopol) nicht für ein Funktionieren im wettbewerblichen Sinne. Liegt nur ein Anbietermonopol vor, fragen aber gleichzeitig mehrere Nachfrager die Leistung nach, soll die wettbewerbliche Preisbildung nicht ausgeschlossen sein.

Denkbar wären Fälle, in denen der Anbieter dadurch einem Kalkulations- und somit Wettbewerbsdruck unterliegt, als im Sinne des Bedarfsmarktkonzeptes (s. Bechthold/Bosch, GWB, § 18, Rn 8) bestimmte Leistungen auf Seiten der Nachfrager austauschbar sind.

Für den besonderen Markt soll es nach der Verordnungsbegründung zur Bestimmung der Marktgängigkeit hingegen stets eines Anbieterwettbewerbs bedürfen, da den Anbietern nur der Auftraggeber als einziger Nachfrager gegenübersteht. Dies erscheint auf den ersten Blick schlüssig. Allerdings wäre es denkbar, dass die auf dem besonderen Markt angebotene Leistung bereits auf dem allgemeinen Markt marktgängig ist. Zwar hat es der Verordnungsgeber unterlassen, wie er es beim Merkmal der Verkehrsüblichkeit tat (s.u.), auch der Marktgängigkeit des allgemeinen Marktes im Falle eines Vergabeverfahrens den Vorrang einzuräumen, dass jedoch in solchen Fällen die allgemeine Marktgängigkeit nicht auch auf dem besonderen Markt gelten soll, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen.

Im Zweifel dürfte sich die Frage auch erübrigen, denn ausschlaggebend für das Vorliegen eines Marktpreises in Fällen nur eines Angebotes wird vielmehr das zweite Merkmal, nämlich die Verkehrsüblichkeit des Preises sein.

Da die Leistung auch Gegenstand des besonderen Marktes sein muss, ist die Zuschlagsfähigkeit der eingereichten Angebote zu fordern (s. Verordnungsbegründung, a.a.O.), andernfalls wären sie nicht zuzulassen und damit weder Gegenstand des Marktes noch folglich marktgängig.

Im neuen Absatz 3 wird das zweite Merkmal des Marktpreises, welches kumulativ zur Marktgängigkeit vorliegen muss, die Verkehrsüblichkeit des Preises, definiert. Hierbei greift der Verordnungsgeber auf die jüngste Rechtsprechung des BVerwG (a.a.O.) zurück und bestimmt, dass verkehrsüblich ein Preis ist, den der betreffende Anbieter für die Leistung im Wettbewerb regelmäßig durchsetzen kann.

Damit wird endgültig dem Institut des betriebssubjektiven Marktpreises zum Durchbruch verholfen und allen anderen bisher von Teilen der Rechtsprechung (v.a. OVG Lüneburg, Urteil vom 20.12.2000 – 7 L 1276/00) und als Mindermeinung in der Literatur vertretenen Auffassungen eine klare Abfuhr erteilt.

Da es keine vollkommenen Märkte gibt, kommen auch niemals objektive für alle geltende Preise zustande. Vom Verordnungsgeber nun bestimmt, sind Marktpreise diejenigen Preise des Anbieters, die dieser in Konkurrenz zu Mitbewerbern stetig und kontinuierlich sowie durch mehrfache Umsatzakte nachgewiesen, durchzusetzen vermag.

Der verkehrsübliche Preis des Unternehmens, der sich auf dem allgemeinen Markt gebildet hat, genießt weiterhin Vorrang. Das heißt, auf dem besonderen Markt, also in einem Vergabeverfahren angebotene Preise müssen sich am „allgemeinen Marktpreis“ messen lassen. Das Höchstpreisgebot der Verordnung (§ 1 Abs. 3 VO PR Nr. 30/53) verbietet es grundsätzlich, höhere Preise zu verlangen. In den Fällen, in denen der öffentliche Auftraggeber Nachfragemonopolist ist, soll das mehrfache Durchsetzen des Preises in Konkurrenz zu anderen Anbietern gegenüber dem Auftraggeber für das Merkmal der Verkehrsüblichkeit genügen.

Revolutionär mutet der neue Absatz 4 an. Soweit ein Marktpreis des Unternehmens auf dem allgemeinen Markt nämlich nicht feststellbar ist, wird für den besonderen Markt künftig vermutet, dass der Preis, wenn er sich unter den Bedingungen im Wettbewerb herausgebildet hat, verkehrsüblich ist.

Die Vermutungsregel steht unter dem Vorbehalt des Vorliegens bestimmter Voraussetzungen. Zunächst darf ein allgemeiner Marktpreis des Unternehmens für die Leistung nicht existieren. Des Weiteren wird die Herausbildung des Preises auf dem besonderen Markt im Wettbewerb gefordert.

Anknüpfungspunkt ist das konkrete Vergabeverfahren. Die Standardvergabeverfahren sind dadurch geprägt, dass sich die Preise innerhalb der Verfahren nicht dynamisch herausbilden, sondern als unveränderlich angeboten werden. Um den seitens des BVerwG (a.a.O.) geforderten tatsächlichen Wettbewerb zu gewährleisten, müssen deshalb mindestens mehrere Angebote eingereicht worden sein. Wohlwissend, dass es zwar regelmäßig keinen dynamischen Preisbildungsprozess gibt, soll dennoch, um dem Marktpreisvorrang größtmögliche Geltung zu verleihen, das Vorliegen mehrerer Angebote als Mindestanforderung des Nachweises der Verkehrsüblichkeit grundsätzlich ausreichen (Vermutung).

Die Vermutung ist widerlegbar (praesumptio iuris tantum). Scheinangebote reichen für die Annahme der Vermutung nicht aus. Dies gilt ebenso für Angebote, die unter wettbewerbswidrigen Absprachen zustande gekommen sind. Liegen die angebotenen Preise weit auseinander und nicht in einem nachvollziehbaren Preisspektrum vergleichbarer angebotener Preise, wird man ebenfalls an der Vermutung zweifeln müssen.

Widerlegt werden kann die Vermutung auch durch einen Abgleich mit vergleichbaren Ausschreibungen, an denen sich das Unternehmen beteiligt hat. Um vor allem der gewollten Preisbildungsdynamik, wie sie am allgemeinen Markt herrscht, Geltung zu verschaffen, kann hier im Zweifel das Verhalten des Unternehmens im Zusammenhang mit vergleichbaren erfolgten Ausschreibungen hinterfragt werden.

Die Vermutungsregel soll ausweislich der Verordnungsbegründung als Beweiserleichterung der Unternehmen dienen. Insoweit wäre es an der Preisprüfbehörde, die Vermutung, die nur greift, wenn deren Voraussetzungen vorliegen, zu widerlegen. Eine solche Beweislastumkehr steht allerdings im Widerspruch zu den in § 9 VO PR Nr. 30/53 geregelten ausdrücklichen Nachweispflichten des Unternehmens über das Zustandekommen des Preises.

2. § 9 Preisprüfung

Sollte ursprünglich die Anpassung des § 4 VO PR Nr. 30/53 das Kernstück der Änderungen darstellen, so entpuppt sich nach den vom Bundesrat verlangten und beschlossenen Änderungen der § 9 VO PR Nr. 30/53 nicht nur als monströses bürokratisches Schwergewicht der Novellierung, sondern lässt auch rechtliche Zweifel an den Folgen der umfangreichen Erweiterungen der Vorschrift aufkommen.

Zunächst stellt der neu eingeführte Absatz 3 deklaratorisch fest, dass die Entscheidung über die Durchführung einer Preisprüfung nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu treffen ist. Die Regelung soll klarstellen, dass die Preisbehörde unabhängig davon, ob sie eine Preisprüfung auf „eigene Initiative“ oder auf ein Prüfersuchen eines öffentlichen Auftraggebers hin, durchführt, stets Ermessen ausüben muss und Herrin des Verfahrens ist.

Die Änderungen im Absatz 4 sind den Entwicklungen u.a. in der Bürokommunikation der Zeit geschuldet. Es werden immer mehr elektronische Daten verarbeitet und gespeichert. Daher ist es sachgerecht, die Befugnisse der Preisprüfungsbehörden an die Gegebenheiten der aktuellen Technik der Bürokommunikation anzupassen.

Der mit Beschluss des Bundesrates allein auf dessen Initiative hin eingeführte neue Absatz 5 hat es in sich. Er sieht vor, dass die für die Preisbildung und Preisüberwachung zuständigen Behörden unter bestimmten Voraussetzungen (u.a. Nichtbeibringen von erforderlichen Unterlagen durch das Unternehmen) die angemessenen Kosten schätzen oder angemessene Sicherheitsabschläge ansetzen können.

Diese Möglichkeit stellt einen Dammbruch der bisherigen Rechtslage und der geübten Praxis dar. Zwar trifft die Preisprüfung regelmäßig Annahmen bzgl. der Angemessenheit der Kalkulationsansätze. Diese beruhen aber stets auf hinreichend konkreten Informationen, Kenntnissen und relevanten Unterlagen aus dem betrieblichen Rechnungswesen der zu prüfenden Unternehmen. Eine reine Schätzung war nicht möglich. Ob die Regelung auf ein fehlendes Verständnis von Sinn und Zweck des Preisrechtes bei öffentlichen Aufträgen im Allgemeinen und im Besonderen des § 9 VO PR Nr. 30/53 zurückzuführen ist, erschließt sich aus der Begründung des Bundesrates nicht.

Die Verordnung kennt zwei streng voneinander zu trennende Bereiche: Zum einen den der Preisaufsicht nach § 9 VO PR Nr. 30/53 und zum anderen den der Verfolgung und Ahndung von Verstößen gegen die Verordnung nach § 11 VO PR Nr. 30/53 (vgl. Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller, Preise und Preisprüfungen bei öffentlichen Aufträgen, § 9 Rn 1). Die Preisaufsicht führt nicht zu einer Festsetzung des Preises. Sie dient nicht fiskalischen Interessen des Staates, sondern ermittelt ausschließlich den nach der Verordnung höchstzulässigen Preis als Höchstgrenze, um im Interesse des Gemeinwohls den Preisstand zu wahren. In diesem Sinne ist die Regelung als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB ausgestaltet. Eine Preisfestsetzung würde nicht in das marktwirtschaftliche Gefüge der Verordnung passen (vgl. Michaelis/Rhösa/Pauka, § 9, S. 3, 4 m.w.N. insbes. Rspr.).

Im Rahmen dieser Ermittlung stehen der zuständigen Behörde die Mittel und Instrumentarien der Preisaufsicht und erforderlichenfalls des § 11 VO PR Nr. 30/53 (Zuwiderhandlungen) zur Verfügung, die verwaltungsrechtlich durchsetzbar sind. Die Möglichkeit nach dem Zweck einer Schätzung/Ansetzung von Sicherheitsabschlägen der angemessenen Kosten wirft daher erhebliche Fragen auf. Auch wenn die Voraussetzungen einer möglichen Schätzung oder der Ansetzung von Sicherheitsabschlägen klar umschrieben sind, steht die Möglichkeit der Schätzung auf sehr tönernen Füßen.

Zuvorderst stellt sich die Frage, welchem Zweck die Schätzung überhaupt dienen soll. Der Wortlaut lässt jedenfalls nicht erkennen, dass es um die die Feststellung des höchstzulässigen Preises geht. Die Regelung erlaubt nämlich neben einer Ansetzung mit Null die Ausschöpfung eines „Schätzungsrahmens zu Lasten“ des Unternehmens. Es wird also nicht auf die preisrechtlich zulässigen Höchstkosten, sondern im Gegenteil auf möglichst niedrige Kosten abgestellt.

Unstreitig wird eine Schätzung oder die Ansetzung von Sicherheitsabschlägen dazu führen können, dass der zulässige Höchstpreis möglicherweise nicht überschritten, sondern unterschritten wird. Darum geht es aber bei der Prüfung nicht! Die Preisprüfung hat nicht zu gewährleisten, dass der zulässige Höchstpreis nicht überschritten oder gar unterschritten wird! Sie hat als neutrale behördliche Instanz im Interesse des Gemeinwohls den zulässigen Höchstpreis zu ermitteln und dient damit der staatlichen Kontrolle (Brüning, in: MüKo, Europäisches und Deutsches Wettbewerbsrecht, Vergaberecht Bd. 1, § 9 VO PR Nr. 30/53, Rn. 1; Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller, § 9, Rn 1, 6). Insoweit widerspricht die geschaffene Möglichkeit der Intention der Preisprüfung und der Verordnung insgesamt.

Selbst wenn, entgegen dem Wortsinn der neuen Vorschrift, unterstellt wird, die Schätzung gehe nicht zu Lasten des Unternehmens, hätte eine „Schätzung des Höchstpreises“ nichts mehr mit marktwirtschaftlicher Preisbildung gemein. Eine so geartete Prüfung kommt einer Festsetzung näher denn der Kontrolle. Dies verstößt gegen die Zielsetzung der VO PR Nr. 30/53, nämlich der vorrangigen marktwirtschaftlichen Preisbildung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (s.o.).

Sollte es darum gehen, Druck auf das Unternehmen auszuüben, die für eine Preisprüfung benötigten Angaben zu machen, so bestehen Zweifel an der Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme. Liegen aus welchen Gründen auch immer, keine Unterlagen zur Prüfung und Ermittlung des höchstzulässigen Preises (mehr) vor, ist eine Schätzung oder die Vornahme von Sicherheitsabschlägen jedenfalls nicht geeignet, das legitime Ziel, nämlich die Ermittlung des preisrechtlich zulässigen Höchstpreises, zu erreichen. Auch die Erforderlichkeit darf angezweifelt werden, denn als mildere und vor allem vorrangige (!) Mittel gegenüber einer Null-Ansetzung oder einer Schätzung zu Lasten Unternehmens stehen die verwaltungsrechtlichen Mittel des § 9 VO PR Nr. 30/53 zur Verfügung. Sollte ein Verstoß gegen Preisvorschriften festgestellt werden, kann bei Zuwiderhandlungen nach § 11 VO PR Nr. 30/53 vorgegangen werden.

Im Übrigen scheint das Zusammenspiel zwischen § 9 VO PR Nr. 30/53 und § 11 VO PR Nr. 30/53 ebenfalls nicht im Blickfeld des Bundesrates gewesen zu sein. Wird nämlich im Rahmen der Preisaufsicht ein Verstoß gegen die VO PR Nr. 30/53 festgestellt, geht das Preisaufsichtsverfahren in ein Ermittlungsverfahren nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht über. Aus dem allgemeinen Grundsatz, dass niemand zur Selbstbezichtigung gezwungen werden kann, ist zu folgern, dass das Unternehmen Auskünfte verweigern darf (vgl. OVG Weimar v. 13.4.1999 – 2 ZEO 18/99; Michaelis/Rhösa/Pauka, § 9, S. 27; Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller, § 9 Rn. 88 ff.). Die Anwendung einer Schätzung/Ansetzung von Sicherheitsabschlägen schneidet diese – vorrangigen – Regelungen ab.

Da eine Schätzung oder die Ansetzung von Sicherabschlägen nicht zur tatsächlichen Feststellung des preisrechtlichen Höchstpreises führt, läuft letztendlich auch der als Verbotsgesetz ausgestaltete Höchstpreisgrundsatz des § 1 Abs. 3 VO PR Nr. 30/53 ins Leere und damit die sich daraus ggf. ergebenden zivilrechtlichen Konsequenzen u.a. des Bereicherungsrechts (§§ 812 ff. BGB).

Die Regelung ist überschießend und hat nichts mehr mit der Ermittlung der angemessenen Kosten zu tun (vgl. Singer, in: Vergabeblog vom 09.12.2021). Sie verfehlt Sinn und Zweck der VO PR Nr. 30/53. Ihre Folgen wurden nicht bedacht. Den Preisbehörden könnte damit ein Bärendienst erwiesen worden sein.

Ein Vergleich mit der Schätzungsmöglichkeit im Steuerrecht (s. Begründung des Bundesrates, a.a.O) verbietet sich. Das Preisrecht dient niemals fiskalischen Zwecken (s.o.) wie das Steuerrecht, dessen Zweck die Deckung des Finanzbedarfs ist, und deshalb immanent einem fiskalischen Zweck dient. Zudem wird im Steuerrecht durch den Steuerbescheid ein Rechtsverhältnis zwischen Steuerschuldner und Fiskus begründet, in dessen Rahmen der Rechtsweg vor den Finanzgerichten eröffnet ist, während das Ergebnis einer Preisprüfung grundsätzlich kein Rechtsverhältnis zwischen der Preisbehörde und dem Unternehmen und damit auch keine Rechtsschutzmöglichkeit des Unternehmens begründet (s. zur Rechtsnatur des Prüfberichtes Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller, § 9, Rn 114 ff.). Ein Vergleich also von Äpfeln mit Birnen!

3. Der übliche Gewinnzuschlag bei öffentlichen Aufträgen (Nr. 52 LSP)

Die Vereinbarung eines Gewinnzuschlages ist grundsätzlich Angelegenheit der Vertragspartner. Nicht selten unterlassen die Vertragspartner aus Unkenntnis eine entsprechende Vereinbarung. Die Konsequenz, dass der preisrechtlich zulässige Höchstpreis (dieser besteht aus den angemessenen Kosten + der Gewinnvereinbarung) bei fehlender Gewinnvereinbarung nicht ermittelbar ist, ist nicht hinnehmbar. Deshalb hat der Verordnungsgeber die Möglichkeit eingeräumt, den üblichen Gewinnzuschlag im Rahmen öffentlicher Aufträge vorzusehen.

Ein ursprünglicher Entwurf des BMWi sah vor, im Falle des Fehlens der Gewinnvereinbarung in Anlehnung an § 632 Abs. 2 BGB (Vergütung bei Werkverträgen) das übliche Leistungsentgelt vorzusehen. Dabei sollte auf das Entgelt abgestellt werden, welches zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses für nach Art, Güte und Umfang der Leistung nach allgemeiner Auffassung der beteiligten Kreise am Ort der Leistung gewährt zu werden pflegt.

Der endgültige und so beschlossene Vorschlag sieht vor, auf den üblichen Gewinnzuschlag im Rahmen von öffentlichen Aufträgen vorzusehen. Damit ist nicht die konkrete Leistung, sondern ein Durchschnitt der Gesamtheit der öffentlichen Aufträge der Anknüpfungspunkt. Hier haben sich in der Praxis (unabhängig von der zugrundeliegenden Leistung) regelmäßig bis zu 5% der Netto-Selbstkosten des öffentlichen Auftrags als üblich und anerkennungsfähig erwiesen.

Fazit

Die Anpassungen in der Kernvorschrift des § 4 VO PR Nr. 30/53 bilden die Realität des öffentlichen Beschaffungsvorganges besser ab, auch wenn die Vermutungsregel gewöhnungsbedürftig ist und eine Ausnahme zur grundsätzlichen Verpflichtung der Unternehmen, das Zustandekommen des Preises nachweisen zu müssen, darstellt. Eine Widerlegung der Vermutung wäre Angelegenheit der Preisprüfung.

Die Bemühungen des Verordnungsgebers, mit der Novellierung einen in einem mehrjährigen Konsultationsprozess aller Beteiligten erreichten Minimalkonsens umzusetzen, werden durch die rechtlich z.T. auf tönernen Füssen stehenden umfangreichen Erweiterungen in § 9 VO PR Nr. 30/53 allein auf Initiative des Bundesrates maximal geschmälert.

Die vom Bundesrat verlangte und beschlossene Möglichkeit der Schätzung/Ansetzung von Sicherheitsabschlägen dient nicht einer rechtssicheren Prüfung. Sie begegnet erheblichen Bedenken und ist nicht im Einklang mit dem Verordnungszweck.

Den für öffentliche Aufträge üblichen Gewinn vorsehen zu können, erleichtert der Preisprüfung die Ermittlung des preisrechtlich zulässigen Höchstpreises. Allerdings wäre auch ein auf den Wert der konkreten zu beschaffenden Leistung anstelle auf einen Durchschnitt aller öffentlichen Aufträge bezogener Ansatz denkbar gewesen.

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Über Hans-Peter Müller [3]

Der Autor Hans-Peter Müller war über 20 Jahre im für die VO PR Nr. 30/53 federführenden Bundesministerium für Wirtschaft und Energie für deren Inhalt und Anwendung zuständig. Zudem wirkte er maßgeblich im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der EU-Vergaberichtlinien 2004 und 2014 in nationales Recht mit. Er ist Mitherausgeber des Standardkommentars „Ebisch/Gottschalk/Hoffjan/Müller“ zum Preisrecht und er fungierte im April 2016 als Sachverständiger des Bundes vor dem zuständigen Senat des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen eines Verwaltungsstreitverfahrens zum Preisrecht bei öffentlichen Aufträgen. Mittlerweile ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Kunz Rechtsanwälte, Koblenz/Mainz.

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