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Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hindert im Einzelfall den zwingenden Ausschluss (BayObLG, Beschl. v. 17.06.2021 – Verg 6/21)

EntscheidungEin zwingender Ausschluss eines Bieters wegen Veränderung der Vergabeunterlagen setzt eindeutige Vergabeunterlagen voraus. Des Weiteren müssen objektiv abändernde Angebotsbestandteile festgestellt werden. Ein Ausschluss darf im Einzelfall trotz Abweichungen gleichwohl aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, falls die Änderung unwesentlich ist, die Angebotswertung unberührt bleibt und der Leistungsinhalt nicht in Frage steht.

Sachverhalt

Ein öffentlicher Auftraggeber (AG) schreibt einen Bauauftrag in einem Offenen Verfahren aus. Bieter A legt bestimmte Angaben zum Brandschutz trotz Aufklärung und Nachforderungen nicht vor und wird deshalb ausgeschlossen. Dagegen legt A einen Nachprüfungsantrag ein. Im Nachprüfungsverfahren stellt die Vergabekammer Südbayern fest, dass das Angebot des für den Zuschlag vorgesehenen Unternehmens B Änderungen an den Vergabeunterlagen enthält und deshalb zwingend vom Vergabeverfahren auszuschließen sei. Im maßgebenden Formular zur Vergütung von Wartungsleistungen ist das Wort „Obermonteur“ durchgestrichen und durch das Wort „Servicetechniker“ ersetzt worden. Ein Stundenverrechnungssatz für Monteur und Helfer ist nicht angegeben. Bei den Fahrtkosten ist ein Eurobetrag pro Stunde (statt pro Auftrag, An- und Abfahrt) angegeben, außerdem die vorgegebene Bezugsgröße „Euro/Auftrag“ durchgestrichen worden. Bei der Kilometerpauschale ist ein Eurobetrag pro Stunde (statt pro Fahrtkilometer) angegeben sowie die vorgegebene Bezugsgröße „Euro/km“ durchgestrichen worden.

Die Vergabekammer untersagt dem AG, den Zuschlag auf das Angebot von B zu erteilen. Dagegen wehrt sich der AG mit einer Beschwerde beim BayObLG und beantragt die Gestattung zur Fortsetzung des Verfahrens sowie zur Erteilung des Zuschlags auf das Angebot von B. Der Antrag wird vom Obergericht zurückgewiesen. Das Nachprüfungsverfahren soll fortgesetzt werden. Diese Zwischenentscheidung ist jedoch das letzte Wort des BayObLG, weil der Nachprüfungsantrag später zurückgenommen wird. Wie sogleich deutlich wird, enthält diese Entscheidung gleichwohl wichtige Erkenntnisse für die Rechtspraxis.

Die Entscheidung

Das Gericht widmet sich ausführlich der Frage, ob der Ausschluss des Angebots des Bieters B wirklich zwingend ist. Dabei betont es ganz zu Anfang, dass nach bisheriger strenger Linie der Nachprüfungsinstanzen ein Ausschluss angezeigt wäre. Aufgrund der Entscheidung des BGH i. S. X ZR 86/17 (Straßenbauarbeiten) aus dem Jahr 2019 sei eine solche Entscheidung allerdings nunmehr problematisch.

Ausgangspunkt bei der Frage einer Abweichung von Vergabeunterlagen sei die Auslegung der Vergabeunterlagen einerseits und des fraglichen Angebots andererseits. Weil die Vergabeunterlagen im vorliegenden Fall klar formuliert seien, käme es auf den Inhalt des Angebots an. Nach Auffassung des BayOblG musste die Vergabestelle die Angaben von B dahingehend verstehen, dass B die bei einer Störungsbeseitigung gesondert zu vergütenden Fahrtkosten pro Stunde berechnet. Wegen dieses klaren objektiven Angebotsinhalts sei eine Aufklärung nicht angezeigt gewesen. Auch ein offensichtlicher Eintragungsfehler sei ausgeschlossen. Die Eintragung widerspreche den Vergabeunterlagen.

Nach Auffassung des BayObLG betreffe dieser Widerspruch jedoch einen völlig untergeordneten Punkt. Von B sei ausschließlich die Berechnungsgrundlage für die Fahrtkosten bei einer Störungsbeseitigung, nicht aber der Inhalt der zu erbringenden Leistungen geändert worden. Die Angaben bei den Fahrtkosten für Störungsbeseitigungen würden auch nicht in die Wertung einfließen. Auf den Vergütungsanspruch würde es sich nur insofern auswirken, als die Beseitigung von Störungen außerhalb der regelmäßigen Wartungstermine in Auftrag gegeben würden.

Angesichts all dessen komme eine teleologische Reduktion der Ausschlussnorm § 16 EU Nr. 2 VOB/A i. V. m. § 13 EU Abs. 1 Nr. 5 S. 2 wegen des Prinzips der Verhältnismäßigkeit aus § 97 Abs. 1 S. 2 GWB (sowie § 123 Abs. 5 S. 2 GWB) in Betracht. Wenn ohne Veränderung im Wertungsrang ein Angebot vorläge, das vollständig dem von den Vergabeunterlagen vorgegebenen Leistungsprogramm entspräche, sei mit Blick die Grundgedanken der BGH-Entscheidung „Straßenbauarbeiten“ ein Ausschluss nicht angezeigt.

Rechtliche Würdigung

Der Beschluss des BayObLG ist geprägt von der seit der BGH-Entscheidung „Straßenbauarbeiten“ zu erkennenden Relativierung eigentlich zwingender Ausschlussgründe in der Rechtspraxis. Die Rechtsprechung geht teilweise so weit, dass feststellbare Abweichungen von den Vergabeunterlagen und falsche Angaben in einem Aufklärungsgespräch unschädlich sind, soweit im Übrigen keine Manipulation feststellbar ist und sich die Sachlage in einem Nachprüfungsverfahren bzw. in einer nachgelagerten Wiederholung der Angebotsprüfung weiter aufklären lässt (vgl. OLG Schleswig, B. v. 12.11.2020, 54 Verg 2/20).

Die dogmatische Begründung des BayObLG im konkreten Fall ist allerdings nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Herangezogen wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dessen ausdrückliche Implementierung in § 97 GWB im Rahmen der letzten großen Vergaberechtsreform 2016 sollte allerdings nicht zu einem derartigen Wandel in der Angebotsprüfung beitragen. Vielmehr ging es um die schlichte Normierung von schon bis dahin geltender Vorgaben, nämlich erforderliche, geeignete und angemessene Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Marx, in: BeckOK VergabeR, 22. Ed., Stand: 31.01.2021, GWB § 97, Rn. 57). Zwingende Ausschlussgründe sind für den öffentlichen Auftraggeber auch nicht disponibel. Die Bezugnahme des BayObLG auf § 123 Abs. 5 Satz 2 GWB ist ebenfalls fragwürdig, weil dort ein konkreter Sonderfall geregelt wird, der wiederum die Regel eines zwingenden Ausschlusses bestätigt.

Aus Sicht der Rechtsanwender wäre die Rückkehr zu einer eindeutigen Betrachtungsweise zu begrüßen. Der BGH hat dies in der Vergangenheit durchaus unterstützt. Z. B. hat er 2005 in einer ähnlichen Diskussionslage für eine klare und zwingende Betrachtung von Ausschlussregeln in der VOB/A wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes votiert (vgl. BGH, U. v. 24.05.2005, X ZR 243/02, zur Soll-Vorschrift im damaligen § 21 Nr. 1 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A). Die dort verwandte Argumentation gilt nach wie vor: Die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, bestimmte Angaben zu verlangen, entspringt seiner Bestimmungsfreiheit. Will ein interessiertes Unternehmen von den geforderten Angaben befreit werden, muss es versuchen, dies durch Fragestellungen oder Rügen zu bewirken. Wird davon abgesehen, gelten die Vorgaben des öffentlichen Auftraggebers. Dies entspricht den Kernprinzipien Gleichbehandlung, Transparenz und Wettbewerb und – nicht zuletzt – deren konkreten Ausformung von normierten Ausschlusstatbeständen.

Aktuell bleibt jedoch ausschlaggebend, dass die Relativierung von Ausschlussgründen seit der BGH-Entscheidung „Straßenbauarbeiten“ auch unter Zuhilfenahme des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Rechtspraxis voranschreitet. Vermutlich kann nur der Gesetzgeber diese Entwicklung zurückdrehen. Oder der BGH klärt bei nächster Gelegenheit die Gemengelage, die er womöglich nicht in diese Richtung auslösen wollte.

Praxistipps

Aus dem Beschluss des BayObLG lassen sich für die Praxis drei Kernaussagen entnehmen:

Die Entscheidung bestätigt erstens die Tendenz der Rechtsprechung zur vorsichtigen Betrachtung von Ausschlussgründen, insbesondere zum Vorrang der Aufklärung gegenüber dem Ausschluss. Dieser Betrachtung müssen öffentliche Auftraggeber folgen.

Zweitens besteht eine Pflicht des Auftraggebers, zunächst die Vergabeunterlagen derart klar zu formulieren, dass jedenfalls die Ausgangslage der formalen Prüfung zweifelsfrei ist. Wenn schon die eigenen Unterlagen unklar sind, steht die formale Prüfung unter einem schlechten Stern.

Falls drittens Abweichungen von den Vergabeunterlagen festgestellt werden, muss überprüft werden, ob diese Abweichungen manipulativ, wesentlich und für die Wertung relevant sind sowie den Leistungsinhalt verändern. Falls man all dies verneint, wird man angesichts der offenkundigen Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der aktuellen Rechtsprechung der Vergabesenate zu einer Wertungsfähigkeit des fraglichen Angebots gelangen.

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Über Dr. Klaus Greb [1]

Herr Dr. Klaus Greb ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Vergaberecht und Gründungspartner der Anwaltssozietät VERGABEPARTNERS [2]. Dr. Greb berät bundesweit öffentliche Auftraggeber und Unternehmen bei Ausschreibungen, in zuwendungsrechtlichen Fragestellungen und führt Nachprüfungsverfahren bzw. Gerichtsprozesse. Er ist Herausgeber eines online‐Kommentars zum Sektorenvergaberecht, Mitautor im Standardkommentar „Ziekow/Völlink“, ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift „Vergaberecht“ und häufig Vortragender bei Tagungen, u. a. der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften.

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