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Mindestanforderungen im offenen Verfahren (VK Bund, Beschl. v. 21.01.2022 – VK 2-131/21)

EntscheidungDie Festlegung von (die technische Bewertung betreffenden) Mindestanforderungen ist grundsätzlich auch im offenen Verfahren zulässig! – In Art. 29 (Verhandlungsverfahren), Art. 31 (Innovationspartnerschaft) und Art. 45 (Varianten) der Richtlinie 2014/24/EU finden sich ausdrücklich Regelungen zu Mindestanforderungen, während Art. 27 (offenes Verfahren) hierzu keine Aussagen trifft. Dies lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass die Festlegung von Mindestanforderungen im offenen Verfahren nicht zulässig wäre. Die Bestimmung eines qualitativen Mindeststandards ist Ausfluss des Rechts des Auftraggebers, die Wertungsvorgaben und damit die Wirtschaftlichkeit der Angebote auch im offenen Verfahren selbst zu definieren.

Art. 27 der Richtlinie 2014/24/EU; § 97 Abs. 1 S. 2 GWB

Leitsatz

Auch bei einem offenen Verfahren ist der öffentliche Auftraggeber berechtigt, Mindestanforderungen hinsichtlich der technischen Bewertung festzulegen (nicht amtlicher Leitsatz).

Sachverhalt

Die Antragsgegnerin schrieb die Einrichtung und den Betrieb eines Bürger-Service-Centers im offenen Verfahren aus. Das Bürger-Service-Center dient der Beantwortung von Bürgeranfragen. Erteilt werden sollte der Zuschlag auf das wirtschaftlichste Angebot unter Berücksichtigung von Preis und Leistung. Für die Leistung sollten Punkte vergeben werden. Zur Ermittlung der Leistungspunktzahl wurden von den Bietern einzureichende Konzepte bewertet. Einzureichen war je ein Konzept pro Qualitätskriterium. Eines dieser Kriterien betraf die Qualität des Konzepts Bürgeranfragen Service-Hotline. Hier waren von den Bietern Antwortschreiben auf fiktive Bürgeranfragen einzureichen, die wiederum anhand der in diesem Qualitätskriterium festgelegten Unterkriterien bewertet wurden. Betreffend sämtliche Qualitätskriterien enthielten die Vergabeunterlagen jeweils unter der Überschrift Mindestanforderung zudem den Hinweis, dass Angebote, die bei einem Konzept weniger als zwei Punkte erhalten, für den Zuschlag nicht in Betracht kommen.

Die Antragstellerin gab ein Angebot unter Beifügung der geforderten Konzepte ab. Mit Schreiben gemäß § 134 GWB teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin mit, dass das Angebot der Antragstellerin nicht berücksichtigt werden könne, da sie für das Konzept Bürgeranfragen Service-Hotline lediglich eine Gesamtbewertung von 1,73 Punkten erhalten habe und somit die Mindestpunktzahl nicht erreiche. Die Antragstellerin rügte ihren Ausschluss.

Nach Zurückweisung ihrer Rüge stellte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag bei der VK Bund, unter anderem mit der Argumentation, dass die Antragsgegnerin mit der Aufstellung der Mindestanforderung, wonach Angebote, die bei einem Konzept weniger als zwei Punkte erhielten von der Wertung auszuschließen seien, gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach § 97 Abs. 1 S. 2 GWB verstoße. Die Formulierung, dass ein solches Angebot für den Zuschlag nicht in Betracht komme, sei zudem nicht als Ausschlussgrund zu verstehen, sondern dahingehend aufzufassen, dass das entsprechende Angebot aufgrund der geringen Punktzahl keine Erfolgsaussichten habe. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Ausschlussgründe in den Bewerbungsbedingungen offenbar abschließend geregelt seien, wo jedoch nur auf §§ 123, 124 GWB sowie auf § 19 MiLoG verwiesen werde.

Die Entscheidung

Ohne Erfolg! Die VK Bund entscheidet, dass der Antrag unbegründet ist, da die Antragsgegnerin das Angebot der Antragstellerin zu Recht wegen Nichterreichen der Mindestpunktzahl nicht für den Zuschlag ausgewählt hat.

Die VK Bund führt zunächst aus, dass den Vergabeunterlagen deutlich zu entnehmen gewesen sei, dass die Antragsgegnerin eine Mindestpunktzahl von zwei Punkten in jedem Kriterium vorgegeben hat und bei Nichterreichen dieser zwei Punkte kein Zuschlag auf dieses Angebot erfolgen sollte (1.). Im Übrigen sei die Aufstellung eines solchen Kriteriums vorliegend auch zulässig gewesen (2.).

1. Aus den Vergabeunterlagen ergebe sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass die Erreichung von mindestens zwei Punkten in jedem Wertungskriterium als Mindestbedingung ausgestaltet war. Die Formulierung, nach denen Angebote, die bei einem Konzept weniger als zwei Punkte erhalten, für den Zuschlag nicht in Betracht kommen, sei nicht missverständlich. Insbesondere hätte diese qualitative Mindestanforderung in den Vergabeunterlagen nicht als Ausschlussgrund ausgewiesen werden müssen. Nach der VK Bund handelt es sich hierbei nicht um einen Ausschlussgrund, sondern um die Definition von Wirtschaftlichkeit der Angebote durch die Antragsgegnerin. Die Angaben verdeutlichten insbesondere, dass bei Nichterreichen der Mindestpunktzahl der Beschaffungszweck nach Sicht der Antragsgegnerin nicht mehr erfüllt werden könne und ein solches Angebot mangels durchgängiger Einhaltung eines definierten Mindestqualitätsniveaus nicht wirtschaftlich sei. Komme ein Angebot aber mangels durchgehender Qualität nicht für den Zuschlag in Betracht, so stelle dies keinen Ausschlussgrund dar, sondern sei das Ergebnis der Wirtschaftlichkeitsprüfung.

2. Die Aufstellung der Mindestanforderung sei auch in der Sache zulässig gewesen. In diesem Zusammenhang verweist die VK Bund zunächst auf den Erwägungsgrund 45 in der Richtlinie 2014/24/EU, wonach öffentliche Auftraggeber im Rahmen der Durchführung eines Verhandlungsverfahrens Mindestanforderungen aufstellen dürfen, die das Wesen der Beschaffung charakterisieren. Dass eine entsprechende ausdrückliche Regelung im Bereich des offenen Verfahrens nicht getroffen wurde, stehe jedoch der grundsätzlichen Zulässigkeit der Festlegung von Mindestanforderungen auch im offenen Verfahren nicht entgegen. Insoweit verweist die VK Bund auf das Urteil des EuGH vom 20. September 2018 (Rs. C-546/16). Darin habe der EuGH entschieden, dass öffentliche Auftraggeber berechtigt seien, Mindestanforderungen hinsichtlich der technischen Bewertung auch im offenen Verfahren festzulegen. Dabei nehme er ausdrücklich Erwägungsgrund 90 der Richtlinie in Bezug, nach dem es öffentlichen Auftraggebern freisteht, angemessene Qualitätsstandards in Form von technischen Spezifikationen oder von Bedingungen für die Auftragsausführung festzulegen. Des Weiteren ziehe der EuGH Erwägungsgrund 92 heran, der öffentliche Auftraggeber zur Wahl von Zuschlagskriterien ermutigt, mit denen sie qualitativ hochwertige Leistungen erhalten können, die ihren Bedürfnissen optimal entsprechen. Weiter führt die VK Bund aus, dass ein Angebot, welches die Mindestpunktzahl nicht erreicht, nach Ansicht des EuGH grundsätzlich nicht den Bedürfnissen des öffentlichen Auftraggebers entspreche und nicht bei der Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebotes berücksichtigt zu werden brauche.

Die VK Bund geht auch in dem vorliegenden Verfahren davon aus, dass kein Grund gegeben sei, wonach das Aufstellen von Mindestanforderungen per se unzulässig sein sollte. Insbesondere seien diese hier transparent und bestimmt bekannt gemacht worden. Außerdem sei die Festlegung eines qualitativen Mindeststandards Ausfluss des Rechts des Auftraggebers, die Wertungsvorgaben und damit die Wirtschaftlichkeit der Angebote selbst zu definieren.

Auch sei die grundsätzliche Forderung nach einer Mindestqualität der Leistung bzw. jedenfalls der einzureichenden Konzeptarbeiten dem Auftragsgegenstand angemessen und verhältnismäßig nach § 97 Abs. 1 S. 2 GWB. Die Antragsgegnerin habe vorliegend nachvollziehbar erklärt, dass die Leistung des zukünftigen Auftragnehmers insbesondere für die Außendarstellung der Antragsgegnerin von großer Bedeutung sei.

Rechtliche Würdigung

1. Zunächst ist richtig, dass seitens der Antragsgegnerin keine Pflicht zur Ausweisung der qualitativen Mindestanforderung als Ausschlusskriterium bestand. Der VK Bund ist darin zuzustimmen, dass es sich bei der Festlegung in den Vergabeunterlagen, dass ein Angebot, das die Mindestpunktzahl nicht erreicht, keine Berücksichtigung finden kann, nicht um ein Ausschlusskriterium handelt. Vielmehr ist darin die Festlegung einer Qualitätsniveaugrenze zu sehen, ab deren Unterschreitung im Rahmen der Angebotsprüfung feststeht, dass das jeweilige Angebot nicht als wirtschaftlich angesehen werden kann.

2. Auch ist der VK Bund darin zuzustimmen, dass die Festlegung von Mindestanforderungen auch im offenen Verfahren grundsätzlich und auch in dem hier streitgegenständlichen Verfahren im Speziellen zulässig sein dürfte. Zwar finden sich in Art. 29 (Verhandlungsverfahren), Art. 31 (Innovationspartnerschaft) und Art. 45 (Varianten) der Richtlinie 2014/24/EU ausdrücklich Regelungen zu Mindestanforderungen, während Art. 27 (offenes Verfahren) hierzu keine Aussagen trifft. Dies lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass die Festlegung von Mindestanforderungen im offenen Verfahren nicht zulässig wäre. Vielmehr ist ebenfalls zu bedenken, dass Art. 27 der Richtlinie 2014/24/EU mit Ausnahme der Vorschriften über die ab dem Tag der Absendung der Auftragsbekanntmachung laufende Mindestfrist für den Eingang der Angebote auch im Übrigen keine Vorschriften über den Ablauf des Vergabeverfahrens enthält. Insofern kann dies bereits als Argument für die Zulässigkeit der Festlegung von Mindestanforderungen auch im offenen Verfahren herangezogen werden.

Die VK Bund begründet ihre Ansicht im Wesentlichen mit den Erwägungen aus der Entscheidung des EuGH vom 20. September 2018 (Rs. C-546/16). Hiernach steht es den öffentlichen Auftraggebern vor dem Hintergrund des 90. und des 92. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2014/24/EU grundsätzlich frei, gemäß ihren Bedürfnissen insbesondere die technische Qualität zu bestimmen, die die abgegebenen Angebote je nach den Eigenschaften und dem Gegenstand des fraglichen Auftrags gewährleisten müssen, und eine Untergrenze festzulegen, die diese Angebote in technischer Hinsicht einhalten müssen. Des Weiteren geht er davon aus, dass die Richtlinie 2014/24/EU einem Vorgehen, bei dem in der Phase der Zuschlagserteilung in einem ersten Schritt Angebote ausgeschlossen werden, die bei der technischen Bewertung eine vorab festgelegte Mindestpunktzahl nicht erreichen, nicht entgegensteht.

Die Festlegung der Mindestanforderungen war in dem vorliegenden Fall zudem so wie auch von der VK Bund zu Recht angenommen vor dem Hintergrund der Begründung der Antragsgegnerin, wonach die Leistung des zukünftigen Auftragnehmers für die Außendarstellung der Antragsgegnerin von großer Bedeutung sei und mangelhafte Antworten an Bürger großen Schaden anrichten könnten, verhältnismäßig gemäß § 97 Abs. 1 S. 2 GWB.

Praxistipp

Für den öffentlichen Auftraggeber ist die Festlegung von Mindestanforderungen ein geeignetes Mittel, um seine Ansprüche an die Qualität der auszuschreibenden Leistung zu definieren und eine Grenze zu bestimmen, bei deren Unterschreitung ein Angebot nicht mehr als wirtschaftlich angesehen werden kann. Dies gilt ungeachtet der Verfahrensart und somit auch im Rahmen der Durchführung von offenen Verfahren.

Die Bestimmung eines qualitativen Mindeststandards ist zwar Ausfluss des Rechts des Auftraggebers, die Wertungsvorgaben und damit die Wirtschaftlichkeit der Angebote selbst zu definieren, er darf hierbei aber nicht den § 97 Abs. 1 S. 2 GWB aus dem Blick verlieren. Hiernach ist bei der Auftragsvergabe unter anderem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Der festgelegte Mindeststandard darf also nicht außer Verhältnis zu der zu erbringenden Leistung stehen. Der öffentliche Auftraggeber tut sich im Falle der Bestimmung von überzogenen Mindestanforderungen auch selbst keinen Gefallen, wenn die Angebotsprüfung im Anschluss ergibt, dass ein Großteil der Angebote auszuschließen ist. Damit es nicht so weit kommt, sollte der öffentliche Auftraggeber sich im Vorfeld der Ausschreibung Marktkenntnisse aneignen, um in der Folge ein Gefühl dafür zu entwickeln, was von den Bietern tatsächlich erwartet werden kann.

Im Übrigen sind die festgelegten Anforderungen stets transparent sowie bestimmt bekanntzumachen und die Konsequenzen im Falle der Nichterreichung des Mindeststandards für die Bieter eindeutig in den Vergabeunterlagen zu erläutern. Die Wertung ist wie immer zu dokumentieren.

Kontribution

Der Beitrag wurde gemeinsam mit Frau Rechtsanwältin Elina Kohl verfasst.

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Über Elina Kohl [1]

Die Autorin Elina Kohl ist Rechtsanwältin bei LLR - Legerlotz Laschet Rechtsanwälte PartG mbB [2] in Köln. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt in der Beratung und Vertretung von öffentlichen Auftraggebern und Bietern in allen Fragen des Vergaberechts.

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Über Bastian Gierling [4]

Bastian Gierling ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht bei LLR - Legerlotz Laschet Rechtsanwälte PartG mbB [2] in Köln. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen in der Beratung und Vertretung von öffentlichen Auftraggebern in allen Fragen des Vergaberechts sowie von Unternehmen und Gebietskörperschaften im Öffentlichen Bau- und Planungsrecht. Dabei erstreckt sich sein Tätigkeitsfeld auch auf die baubegleitende Rechtsberatung bei großen Bau- und Infrastrukturprojekten der öffentlichen Hand.

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